Читать книгу Das Phantom vom Pfaffenteich - Marc Kayser - Страница 9

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7 Früher Abend, gleicher Tag

Das Haus Nummer 9a in der Schweriner Hospitalstraße machte von außen einen gepflegten Eindruck. Es stammte aus der Gründerzeit, hatte einen gelblichen Anstrich, die Fenster waren mit weißgetünchten Faschen geschmückt. Ein Wasserspeier aus Zinn hoch oben am Dachfirst öffnete sein Maul zu einer mächtigen Wasserrinne, durch die man einen großkalibrigen Torpedo hätte jagen können. Nummer 9a sah also ganz und gar harmlos aus, so harmlos wie alle Häuser dieser Straße, die um die Jahrhundertwende gebaut worden waren. Es war der schöne und historische Teil Schwerins, der nicht nur Touristen anzog, sondern auch jene, die über die nötige Solvenz verfügten, sich eine dieser großbürgerlichen Wohnungen zu leisten.

Doch wie jedes Haus barg auch dieses ein Geheimnis.

Der Rollstuhlfahrer, der jetzt aus dem Hauseingang glitt, sah sich auf dem Bürgersteig vor dem Haus prüfend um. Sodann bewegte er sich eher gemächlich die Hospitalstraße in Richtung einer kleinen Anhöhe, für die er alle Armkraft benötigte, um sich und sein Gefährt in Schwung zu halten. Es dämmerte schon, doch noch waren die Straßenlaternen nicht aufgeflammt. Der Mann im Rollstuhl trug eine dunkelblaue Jacke und eine schwarze Strickmütze. Er schien etwa Mitte fünfzig zu sein, trug Bart und Brille. Über seine Hände hatte er sich Lederhandschuhe gezogen. An der Ecke zur Schelfstraße stoppte er. Er blickte hinüber zur »ecolea«-­Schule, wo noch vereinzelte Lichter in Klassenräumen brannten. Vorsichtig manövrierte er seinen Rollstuhl dicht an den Eingang des letzten Hauses der Kreuzung, drehte ihn und hatte nun die Gebäudewand im Rücken. Parkende Autos versperrten ihm zwar die Sicht auf die zwei Straßen, die auf die Kreuzung zuliefen, dafür hatte er aber die beiden Fußgängerüberwege gut im Blick. Nicht weit von ihm, gut sichtbar, lag ein gelbes Paket von der Größe einer Hutschachtel neben einem weiteren Hauseingang. Der Mann fummelte eine Zigarettenpackung aus einer der Innentaschen seiner Jacke und zündete sich eine Kippe an. Er rauchte langsam und entspannt. Über seine Hose hatte er sich eine Decke mit den Figuren der Simpsons gelegt.

So verharrte er etwa eine halbe Stunde lang. Die wenigen Passanten, die an ihm vorbeiliefen, beachteten ihn kaum oder gar nicht. Für die Insassen vorbeifahrender Autos blieb er beinahe unsichtbar, denn auch ihnen versperrten geparkte Autos die Sicht.

Es war 17.25 Uhr.

Der Mann rauchte eine weitere Zigarette und blickte dabei aufmerksam zu dem Schulgebäude hinüber. Jetzt erloschen nacheinander einige der Lichter in den Räumen. Etwa eine weitere Viertelstunde später erspähte der Rollstuhlfahrer eine schlanke, offensichtlich sehr junge weibliche Person mit langen hellen Haaren, gekleidet in eng anliegenden, schwarzen Jeans, heller Cordjacke mit Strasssteinen besetzt und auffällig buntem Rucksack auf den Schultern. Sie lief direkt auf ihn zu. In ihren Ohren steckten Kopfhörer. Sie summte leise. Als sie schon fast an ihm vorbei war, riss er beide Arme hoch und entflammte dabei ein Feuerzeug. Das Mädchen blickte überrascht zu ihm hin. Er winkte ihr zu und bedeutete ihr, näher zu kommen. Irritiert nahm sie einen ihrer Kopfhörer aus dem Ohr.

»Wie bitte?«, fragte sie etwas unwillig.

»Hey! Du! Kannst du mir nur ganz kurz helfen?«

»Ähm«, machte das Mädchen. »Eigentlich nicht, bin spät dran.«

»Nur kurz«, bettelte er, »ich kriege das Paket dahinten nicht hoch, der Postbote hat es vor die falsche Tür gelegt. Ich wohne zwei Häuser weiter. Ich brauche nur sehr kurz deine Hilfe.«

Sie überlegte einen Moment. »Na schön«, sagte sie dann, »wohin soll das Paket? Und ist es schwer?

»Nein«, sagte der Mann, »da sind nur neue Handgriffe für meinen Rolli drin. Und eine neue Sitzauflage. Ich habe sie schon sehr durchgesessen. Nicht dramatisch vom Gewicht.«

Das Mädchen lächelte jetzt sogar etwas. »Okay, aber anbauen tun Sie das allein?«

»Jaja, keine Sorge«, sagte der Mann freundlich. »Es ist sehr nett von dir, mir zu helfen. Kommst du gerade aus der Schule? Schätze ich richtig, neunte oder zehnte Klasse?« Seine Brillengläser glitzerten.

Das Mädchen ging darauf nicht ein. Es sagte: »Mein Opa sitzt auch im Rollstuhl, er hat es nicht leicht, und er tut mir auch irgendwie leid. Er ist erst achtundsechzig und trotzdem nicht mehr so gut drauf.«

»Gut, dass dein Papa noch fit ist«, sagte er, und es klang nach einer aufrichtigen Feststellung.

»Ich habe keinen Papa«, erwiderte das Mädchen.

»Hättest du gern einen gehabt?«

»Klar, wär sicher cool gewesen.«

»Es ist ein hartes Schicksal, nicht mehr so laufen zu können wie beispielsweise du«, wechselte der Rollstuhlfahrer das Thema. »Deshalb bin ich dir auch so dankbar. Gleich morgen oder nachher kannst du deinen Freunden von deiner guten Tat berichten …«

»Schon gut«, unterbrach ihn das Mädchen. »Wo soll das Paket denn hin? Wo wohnen Sie?«

Der Mann zeigte mit einer Hand die Straße hinunter. »Dort, Nummer 9a, nur hundert Meter. Nimm das Paket, und ich rolle schon mal los?«

»Geht klar«, sagte das Mädchen und folgte ihm, bis der Mann stoppte, auf eine Türklinke einer breiten Hauseinfahrt wies und meinte: »Sie ist schwer, und wenn du schon mal hier bist, dann öffne sie bitte, meine Wohnung ist gleich im Erdgeschoss.«

»Sie wohnen in meiner Nachbarschaft«, sagte das Mädchen im Hausflur. »Aber ich habe Sie noch nie gesehen.« Die schwere Hauseingangstür war jetzt hinter ihnen mit einigem Getöse zugeklappt. Ein breiter Durchgang wie einst für Pferdekutschen hatte sich vor dem Mädchen aufgetan. An den nicht mehr ganz frisch wirkenden Wänden links und rechts prangten Graffitos eines eher mäßig begabten Sprayers. Auf beiden Seiten des breiten, zugigen Flurs führten Türen zu Wohnungen. Sie waren blau gestrichen worden. An der linken Tür fehlte das Namensschild. Dorthin wies der Mann.

»Ich habe die Wohnung auch erst kürzlich bezogen«, sagte er, reichte ihr den Wohnungsschlüssel und bat sie, aufzuschließen.

»Soll ich Ihnen helfen, in die Wohnung zu kommen?«, fragte das Mädchen arglos.

»Das wäre natürlich total nett …«, murmelte der Mann, stemmte sich aus seinem Rollstuhl und wirkte – gegenüber der zierlichen Statur des Mädchens – wie ein Riese. Sie zuckte etwas zurück, als er seinen Arm um ihre Hüfte legte und darum bat, dass sie ihn die beiden Stufen zur Wohnung nach oben drücken solle. Sie tat, was er sagte, er entriegelte die Tür, sie standen im Flur. Die Einzimmerwohnung bot mit ihren weißgetünchten Wänden trotz ihrer tiefen Lage und der dreistöckigen Häuser auf der Straßenseite gegenüber eine warme Helle. Der Flur wirkte freundlich, den Boden zierte ein auffällig leuchtend-bunter Teppich.

»Soll ich den Rolli …?«, wollte das Mädchen wissen, beendete aber die Frage nicht.

»Gern«, sagte er.

Sie wandte sich von ihm ab, griff nach dem Rollstuhl vor der Tür in der Einfahrt und zerrte ihn die beiden Stufen hoch. Kaum in der Wohnung und noch die Hände am Rollstuhl, packten sie von hinten ein Arm am Bauch und eine Hand am Gesicht. Sie besaß nicht die geringste Chance, sich gegen die Kraft des Mannes zu wehren, dessen Hände und Arme so hart wie Eisen an ihr zogen und ihr den Atem nahmen. Das Mädchen bäumte sch auf, versuchte, zu schreien, doch die riesige Hand des Mannes presste ihm die Nase und den Mund zusammen, es bekam keine Luft …

Die Schülerin strampelte wild mit den Beinen, versuchte, sich gegen die Wand im Wohnungsflur zu stemmen – vergeblich. Der Mann zog sie, wie eine Riesenspinne ihre Beute, Stück für Stück tiefer in die Wohnung hinein. Er ließ erst ein wenig von der Jugendlichen ab, als er seine Küche erreicht hatte. Doch ihre Atemnot hatte sie geschwächt. Mit einem kräftigen Ruck riss er den weißen Nylonvorhang von seinem Küchenfenster aus der Schiene. Er schleuderte die Wehrlose herum. Sie krachte mit dem Gesicht gegen die Fensterscheibe. Blitzschnell umwickelte er ihren Hals und zog dann fest zu. Betäubt vom Schmerz und wegen des Luftverlustes rutschte sie kraftlos zu Boden. Der Mann ließ erst von ihr ab, als sie sich nicht mehr rührte. Er zog das leblose Mädchen zurück in seinen Flur. Dort legte er es ab und öffnete eine als mannshoher Spiegel getarnte Tür, hinter der eine Treppe in die Tiefe führte. Vorsichtig zog er den Leichnam mit sich und schritt, sichtlich angestrengt, Stufe für Stufe die Treppe hinab.

Mit aller Kraft hievte er sein noch körperwarmes Opfer auf ein großes Bett. Er entkleidete die Leiche bis auf ihren Slip, durchsuchte ihre Taschen, fand ihren Ausweis und beugte sich dann unter das Matratzengestell. Er zog einen quadratischen Karton hervor, öffnete ihn, warf den Ausweis hinein und entnahm ihm vier schwarze Lederfesseln und eine Kapuze von der Form der Kopfbedeckung eines Ku-Klux-Klan-Anhängers. Er band dem leblosen Mädchen beide Arme über dem Kopf zusammen und fesselte die Leiche an das Kopfende des Bettgitters. Er spreizte ihre Beine weit auseinander und fixierte sie mit den beiden anderen Lederfesseln links und rechts an die seitlich verlaufenden Gitterstäbe.

Der Mann war so konzentriert bei der Sache, dass er sich unglaublich erschrak und zusammenzuckte, als es an der Wohnungstür klingelte.

»Verdammt«, fluchte er. Besuch bekam er hier nicht. Bis auf seine Mutter und die Vermieterin, die zwei Stockwerke über ihm wohnte, wusste niemand, dass er sich hier einquartiert hatte. So war er sicher, ungestört agieren zu können. Nervös geworden, eilte er aus dem Souterrain nach oben in seine Wohnung, klappte leise den Spiegel in seine Halterung und blickte durch den Türspion. Er sah eine Frau mit hellen Haaren, gut frisiert, junge Ausstrahlung. Sie trug eine schwarze Tasche. Sie stand unterhalb der beiden Stufen und blätterte, so schien es ihm, in einem Magazin. Zögerlich öffnete er die Wohnungstür.

»Sie müssen verzeihen«, sagte er zu der Frau, »aber ich hatte etwas gelegen. Nachtschicht, Sie wissen schon. Was kann ich denn Gutes für Sie tun?«

»Schon Erwachet! gelesen?«, fragte die junge Frau forsch. »Es erleuchtet Sie.«

»Zeugen Jehovas?«, fragte er.

»Jehovas Zeugen«, korrigierte ihn die Dame. »Sie wissen Bescheid.« Sie lächelte ihn an und drückte ihm eine Zeitschrift in die Hand. »Ich kann Ihnen auch zwei oder drei Exemplare dalassen. Können Sie gern weitergeben.«

»Nein, nein, lassen Sie mal«, wehrte er ab. »Mich kann derzeit nur ausreichend Schlaf erleuchten.«

Er trat schnell in seine Wohnung zurück, hob die Hand, in der er die Zeitschrift hielt, zum Abschied und verschloss dann fest die Tür. Er blickte durch den Türspion. Die Frau war verschwunden.

Im Bad erleichterte er seine Blase, öffnete dann seinen Spiegelschrank und entnahm ihm ein unauffälliges leeres Kulturtäschchen. Er riss sich mit einem kurzen Ruck den Oberlippenbart ab, streifte die Perücke herunter, klappte die Brille zusammen und zog sich zwei der Silikonplättchen vom Gesicht, die seine Unterlider wulstig und alt gemacht hatten. Er verstaute die Utensilien. Der Mann, der eben noch wie Mitte fünfzig gewirkt hatte, trocknete sein Originalhaar mit einem Handtuch halbwegs trocken, legte Haupt- und Deckhaar wieder in Form, wusch sich sein Gesicht und begutachtete das Ergebnis. Sein Spiegelschrank zeigte ihm das Gesicht eines attraktiven Endzwanzigers vom Typ südländischer Verführer.

Das Phantom vom Pfaffenteich

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