Читать книгу Erlebnisschaumbad - Marc Keystone - Страница 11

Wächter

Оглавление

von Marc Keystone

Es ist eines der seltenen Bilder Krishnas. Er schaut durch die Kamera hindurch. Der Betrachter weiß nicht, ob er das Flexphone in seiner Hand oder die Fotografin oder ein anderes unsichtbares Objekt fixiert. Aber Krishna, der mit bürgerlichem Namen Christian Kirschner hieß, macht sich keine Mühe, irgendwelche Selfiekette einzuhalten. Wir, die Betrachter, sind ihm egal.

Wir sitzen in einem Hotelzimmer mit den Freunden von Krishna, die sich bereit erklärt haben, uns Antworten zu liefern, auf das, was geschehen war. Durch den Boden hören wir rhythmische Geräusche aus dem darunter liegenden Hamasutra. „Wir wollen anonym bleiben”, sagt Torsten [Name von der Red. geändert], der nach eigenen Aussagen Krishnas bester Freund war und diesen Ort für unser Interview vorschlug.

Neben ihm, etwas schüchtern, mit Spitzenhalsband und langen schwarzen Wimpern, sitzt Rochette. Krishnas letzte Freundin. Sie sagt, sie sei schwanger, hält die flache Hand auf den Bauch, der keine Wölbung zeigt. „Der Flachvogel hat es echt noch geschafft, ihr einen Braten in die Röhre zu schieben”, sagt Torsten, ohne Rochette eines Blickes zu würdigen. Die beiden sehen sich das erste Mal seit dem Tag, der vor beinahe vier Monaten als Tetrapack Massacker in aller Munde war.

Am Morgen des 17. Dezember schien die Welt noch in Ordnung, als Rochette aufwachte und ihren nackten Freund ins Bad gehen sah. Warum sie Details dieser Art zu Protokoll gibt, lässt sich aus dem psychologischen Gutachten der polizeilichen KI nicht erklären. Der Bericht liefert jedoch Hinweise, dass Rochette ihre wahren Absichten hinter Scheinhandlungen versteckt. Ein typisches Syndrom junger Menschen, die durch fake news sozialisiert wurden. Sie und Krishna waren am Abend zuvor in der Pension angekommen, die später in vielen Medien als Rosolkerbufa Hölle bezeichnet wurde. Dieses Wort bleibt eines der vielen Geheimnisse jenes Tages. Es stand in großen roten Lettern auf dem Badspiegel. Dem Bericht der Ermittler zufolge könnte es Krishna gewesen sein, dessen Fingerabdrücke auf Rochettes Lippenstift gefunden wurden.

Krishna war der Anführer einer Gruppe junger Menschen, die sich abgehängt fühlen in einer Gesellschaft, die für sie weder einen Sinn noch einen Platz bereit zu halten scheint. Noch vor zehn, fünfzehn Jahren hätten sie eine Ausbildung gemacht oder wären studieren gegangen. Heute braucht der Arbeitsmarkt keine Arbeitskräfte mehr. Arbeitsroboter erledigen inzwischen siebzig Prozent der Tätigkeiten, die zum Funktionieren des öffentlichen Lebens notwendig sind. Es ist die verlorene Generation, von der Bundespräsident Söder sprach, als er in seiner Erziehungsheim-Rede dazu aufforderte, das von ihm skizzierte Schreckensszenario zu verhindern und den Übergang in den Post-Humanismus für alle erträglich zu gestalten. Die Gesellschaft findet bis heute keine Antwort darauf.

Die Überwachungskameras der Gin Destillerie Royserman & Bauke zeigen am späten Vormittag jenes Dezembertages wie Krishna das Werksgelände betritt. Selbst seine Mutter hätte ihn beim Passieren der Eingangstür nicht erkannt. Die mit einem 3D-Drucker hergestellte Latexmaske, deren Bauplan er im Groovenet erwarb, lässt den Fünfunzwanzigjährigen aussehen wie einen Vierzigjährigen.

Das Überwachungssystem der Destillerie konnte er jedoch nicht so einfach überlisten. Es identifizierte Krishna an seinem Gang. Diese Zweitanalyse fand jedoch erst während der Ermittlungen statt. Da Krishna als Teilnehmer einer Werksführung angemeldet war, löste sein Besuch zu diesem Zeitpunkt keinen Alarm aus. So konnte er unbemerkt in die Nähe der Destillerieanlagen gelangen.

Der letzte menschliche Wächter auf dem Gelände, der normalerweise in der Nähe der Anlagen Besucher davon abhält, über die Absperrungen zu klettern, litt an diesem Tag an Wirsingkohlverzuckerung und meldete sich kurzfristig krank. So kurzfristig, dass kein Ersatz möglich war. Krishna hatte sich in der Besuchergruppe etwas zurückfallen lassen und so fiel der Werksführerin nicht auf, wie er über die Absperrung sprang. Die Bewegungssensoren lösten einen stillen Alarm aus, der jedoch folgenlos blieb, da kurz zuvor eine Festplatte ersetzt wurde, was zu einem Reboot des Sicherheitssystems führte.

So konnte Krishna ungehindert Pulver in einen der Kessel streuen. Bei der Aufarbeitung des Falls haben biochemische Algosequenzer den wesentlichen Bestandteil des Gifts durch Zufall identifiziert, als eine Maschine des Herstellers Rockbaer in der Aufwärmphase ausfiel. Das Hydrostat sonderte Spuren einer äußerst seltenen Variante von Rodentizid ab, besser bekannt als Rattengift. Wie Krishna an diesen schwer erhältlichen Stoff kam, ist ein weiteres ungeklärtes Rätsel.

Die in transparenten Tetrapacks verkauften Gin-Pops gelangten schließlich in den Handel und töteten über fünftausend meist junge Menschen, die sich zur Weihnachtszeit traditionell ins Koma soffen. Torsten sitzt auf der Pritsche über dem Hamasutra und bezeichnet die toten Altersgenossen als Kollateralschaden, während er das erste Mal zu Rochette hinüber schaut und lächelt.

Sie reibt über ihren flachen Bauch und hält plötzlich inne, als sie auf die Frage nach Krishnas Verbleib aufblickt und mit funkelnden Augen sagt: „Er wacht über uns. Ihr werdet schon sehen. Ist ja sowieso alles gelogen und wenn allen klar wird, dass keiner Verantwortung übernimmt, dann wird er kommen und uns retten.”

Reizworte: Tetrapack Massacker, Gin Destillerie, Aufwärmphase, Flachvogel, Rockbär, Hamasutra, Kollateralschaden, Wirsingkohlverzuckerung, Ro-sol-ker-bu-fa

Genre: Reportage

Erlebnisschaumbad

Подняться наверх