Читать книгу Im Schatten der Dämmerung - Marc Lindner - Страница 3

Prolog

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Ein rauer Wind strich über die tiefen Fugen der dicken Stein­mauern und ließ in der Burg ein unstetes Pfeifen ertönen. Regen klatschte gegen die Fenster, überflutete die Scheiben und ließ die im Dunkeln liegende Welt verschwimmen. Doch das Glas war zu dieser Stunde ohnehin kaum mehr als ein dunkler Spiegel.

Ein breites Himmelbett wurde von dem flackernden warmen Licht eines mannshohen Kamins beleuchtet, und jeder noch so kleine Gegenstand warf unheimliche Schatten.

Im Bett lag ein Kind, ein Junge, und hatte sich tief unter die zahlreichen Decken verkrochen. Die Wände der Burg strahlten eine Kälte aus, die bis tief in die Knochen zog. Längst verfügte nicht jedes Zimmer über einen Kamin und so schlich ein kalter Hauch über den steinigen Boden.

Besonders an Winterabenden wie diesem war der Junge froh, wenn er sich unter seinem Schutzwall aus Decken verstecken konnte und das Knistern seines Kamins gegen das Heulen des Windes kämpfte.

Leise, aber schleifende Schritte näherten sich dem Zimmer und hallten von den kalten Steinen des Flures wider. Wenig später hob sich das eiserne Schloss der massiven Tür. Die rostigen Scharniere wehrten sich gegen die Bewegung und stöhnten unter der Last.

Der spärlich beleuchtete Flur stahl dem Zimmer seine Wärme und ein kalter Luftzug ließ das Feuer lebhafter flackern.

Herein trat ein von den Jahren krumm gewordener Mann. Sein Kopf und der Buckel seines einst kräftigen Rückens waren auf gleicher Höhe. Kleine listige Augen lugten aus dem Dunkel hervor. Ein Grinsen verunstaltete sein altes Gesicht. Hätte der Junge den Eindringling zum ersten Mal gesehen, er hätte nicht gewusst, ob er sich fürchten sollte oder ob jene Grimasse der Freundlichkeit diente. Selbst die Narrenmütze auf dem Haupt des Alten war weit entfernt von der Farbenpracht der anderer Narren. Im Allgemeinen hatte er wenig an sich, womit er mit den übrigen Burgbewohnern vergleichbar gewesen wäre. Vielleicht mochte der Junge den Mann genau deshalb.

Mit lautem Knacken fiel die Tür ins Schloss. Schwerfällige, aber gleichmäßige Schritte näherten sich dem Kamin. Er stocherte mit dem Schürhaken in der Glut, bevor er wie jeden Abend vor dem Feuer stehen blieb, sich die Hände rieb und darauf wartete, dass die Kälte des Tages aus ihm zu weichen begann.

Ohne den geringsten Ton von sich zu geben, lugte der Junge über die Decken hinweg. Er kannte das Ritual und wusste, dass der Alte als Erster sprach. Natürlich hatte seine Ungeduld ihn schon oft diese Regel vergessen lassen, aber dann ging der eigen­sinnige Narr, ohne seine Geschichten zu erzählen. Aber auf eben jene Geschichten freute sich der Junge den ganzen Tag.

Das Zimmer hellte sich auf, als der Alte sich vom Kamin entfernte. Sein ritusähnlicher Weg führte ihn zu dem Fenster, gegen das der Regen klatschte. Mit dem Finger strich er über das Glas als suchte er einen unbekannten Ort auf einer riesigen Landkarte.

Dann endlich, als er sicher war, dass nirgends draußen mehr ein fremdes Licht leuchtete, zog er seinen Körper auf einen mächtigen Sessel neben dem Bett.

Der Junge wurde unruhiger. Seine Finger spielten mit dem ausgefransten Saum der obersten Decke.

Aber noch ließ der Narr sich Zeit mit seiner allabendlichen Geschichte.

„Weißt du, mein Junge“, erlöste der Narr das Kind schließlich. „Habe ich dir schon die Geschichte erzählt ...“ Der Alte sprach gedehnt und doch klang jedes Wort auf seine Art melodisch.

„Nein“, antwortete der Knabe prompt.

Der Mann lächelte gutmütig. Der Kleine hatte recht. Noch nie hatte der alte Mann eine Geschichte zweimal erzählt. Und im ganzen Reich würde man keinen finden, der diese Geschichten einem Jungen verraten würde. Eigentlich wäre es schwierig genug einen zu finden, der sie überhaupt kannte. Es waren Erinnerungen aus Büchern, die längst nicht mehr gelesen wurden.

Für sich genommen war keine davon unsagbar böse oder gar gefährlich. Nein, eigentlich war jede Erzählung, wie sie in einem Geschichtenbuch hätte stehen können – aber dem war nicht so. Zusammen ergaben sie das, womit alles anfing, oder womit alles einmal anfangen würde – die Wahrheit. Eingraviert in die ver­schlungenen Pfade all derer, die gescheitert waren. Es zeigte, wie Verrat Mitleid belohnte. Dass Schmerz der Preis der Gefühle war. Vor allem zeigte es, dass der Friede deshalb verwehrt blieb, weil keiner den Mut und das Opfer aufzubringen in der Lage war, den Weg zu Ende zu gehen, den schon so viele begonnen hatten. Ein Leben voller Qual und der Bann wäre durchbrochen. Ein Jahr­hundert voller Finsternis und die Welt wäre befreit.

Mal erzählte der Narr von dem alten König, der starb, weil er keine Angst hatte. Von dem Thronbesteiger, der sein Reich verlor, weil sein Volk den Glauben an seine Güte verloren hatte. Von Magiern, die ihrer Gier nach Macht erlagen. Von Freunden, die zu Feinden wurden, weil der eine den Weg nicht zu Ende gehen wollte.

Alles in allem, so befand das Prinzenkind, konnte er viel von dem Narren lernen. So etwa, dass Wissen und Unwissen jeweils Fluch und Segen sein konnte. Hoffnung und Wut ebenso Gift wie Heilung versprechen konnte.

Die Stimme des Alten verebbte und das Knistern des Kamins und das Prasseln des Regens erfüllte von Neuem den Raum. Der Junge lag schweigend da und stierte gegen den Baldachin seines Bettes.

„Ich habe Angst davor“, hauchte das Kind.

„Wovor?“ Die Stimme des Narren klang einfühlsam und warm.

„Davor, dass ich zu schwach sein werde.“ Er suchte nach einer Antwort in dem über ihm hängenden Stoff.

„Wenn deine Zeit gekommen ist, mein Junge?“

„Ja, wenn ich König bin.“

„Du kennst dein Schicksal. Genauso kennst du die Gefahren.“ Der alte Mann strich über die Decke des Jungen. „Das Volk braucht dich. Es wird dir vertrauen.“

„Aber, wenn ich dieses Vertrauen nicht verdiene?“ Die Sorgen des Jungen waren groß für jemanden seines Alters.

„Du weißt, was ich dir erzählt habe.“

„An allem zweifeln, aber niemals an mir!“ Der Junge betete den Satz hinunter, ohne ihn wirklich zu glauben.

Er liebte das Volk seines Vaters. Er liebte sein Volk und er wollte alles tun, damit es diesem gut erging. Alles!

„Du weißt, es kommen dunkle Zeiten.“ Das Gespräch nahm altbekannte Züge an. Der Junge würde nicht aufhören die gleichen Fragen wieder und wieder zu stellen, genauso, wie der Narr niemals müde wurde, ihm zu antworten.

„Aber mein Vater sagt doch, dass das Hirngespinste sind!“

„Dein Vater sieht es nicht, weil er es nicht sehen will! Die Zeichen der dunklen Mächte bleiben ihm verborgen, weil er in seinem tiefsten Inneren weiß, dass er ihnen nicht gewachsen sein würde. Vor langer Zeit hat er eine Entscheidung getroffen – und was immer auch geschieht, er wird nie etwas tun, was diese nichtig werden lässt.“

Wie immer an dieser Stelle, so schwieg der Junge auch diesmal.

„Und mir verbietet er dieses Wissen, da er mich schützen will.“ Der Junge klang nachdenklich.

Der Narr konnte ein leichtes Schmunzeln nicht unterdrücken. Diese Wendung war neu und es hatte ihn beinahe einen ganzen Winter gekostet, bis der Gedanke sich bei dem Jungen hatte ein­nisten können.

„Er liebt dich, vergiss das nie!“ Der Alte beschwor tiefe Falten der Sorge auf seine Stirn. „Wenn es etwas gibt, das der König mehr liebt als sein Volk, dann ist das seinen Sohn.“ Eine Pause setzte ein. „Lass niemals zu, dass er sich zwischen dir und deinem Volk entscheidet.“

Stille.

„Aber die Feinde von denen du sprichst, Großvater, warum habe ich noch nie einen von denen zu Gesicht bekommen?“

„Dunkles weilt, wo es dunkel ist. Böses graust im Verborgenen. Wären sie gut, warum sollten sie sich verstecken?“

„Vielleicht sind sie schwach. Vielleicht haben sie Angst!“ Der Königssohn konnte es nicht lassen, in jedem etwas Gutes zu sehen.

„Glaubst du, Hochgeborener, dass du einem Feind der Krone gewachsen bist?“

„Nein.“

„Denkst du, Prinz, du könntest einen Verräter überwältigen, bevor er dir sein Messer in den Rücken rammt?“

„Nein.“

„Ah, siehst du!“ Der Alte setzte eine gutmütige Miene auf. „Und doch zeigst du jeden Tag dein Gesicht in der Öffentlichkeit. Du begibst dich auf die Straßen, auf denen dich Gesindel jederzeit ermorden könnte.“

Der Knabe wollte eben ansetzen, Widerspruch zu geben, doch der Alte unterbrach ihn.

„Und das alles bloß, weil dein Herz rein ist, weil du bereit bist, in jedem das Gute zu sehen.“

Der Junge schluckte. Seine Gegenwehr brach zusammen.

„Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen, Großvater. Es war ein langer Tag.“

„Sehr wohl mein Kind.“

Der Junge drehte sich um und zog die Decken eng an sich.

„Großvater?“

„Mein Kind?“ Ein Lächeln stahl sich dem Mann ins Gesicht, da er die Frage bereits ahnte.

„Warum bist du eigentlich Narr, wenn doch mein Vater König des ganzen Reiches ist?“

„Angst, mein Junge!“ Der Alte lachte verlegen, als versuchte er seine Trauer zu überspielen. „Auch ich war König einst.“ Zwischen jedem Satz fügte er eine Pause ein. „Genauso wie dein Vater jetzt, genauso wie auch mein Vater vor mir.“

Sein Atem wurde hörbar. Es schien ihm viel Anstrengung abzuverlangen, dies alles zu erzählen. „Damals als alles sich entscheiden sollte, waren von mir die Armeen aus dem ganzen Reich zusammengezogen worden. Selbst unsere Nachbarn hatten ihre Söldner unter meinen Befehl gestellt. Gemeinsam waren wir gegen die Zwerge und Zentauren in den Krieg gezogen. Es waren grausame Zeiten damals. Aber ...“ Die Erinnerung drückte schwer gegen die Brust. „Aber es musste getan werden, wenn wir Freiheit für die Menschen wollten. Frei von den dunklen Verschwörungen, frei von den Flüchen jener Wesen, die glaubten, über allen anderen zu stehen. Und wir hatten sie beinahe besiegt. Sie hatten sich zurückgezogen. Nur aus dem Hinterhalt haben sie wie Feiglinge kleinere Gruppen von uns abgeschlachtet.“

Der Junge zog verängstigt die Decke über das Gesicht, sodass nur die Augen hervorlugten.

„Ihre Verhexungen haben uns getötet, ohne dass wir einen von ihnen zu Gesicht bekamen.“ Der Narr lächelte dem Jungen zu und drückte sein Bedauern aus, ihm das alles erzählen zu müssen. „Du kannst dir die Grauen nicht vorstellen!“ Eine bedrückende Pause setzte ein. „Und da kam dein Vater ins Spiel. Er hat den Anblick der Leichen unseres Volkes nicht mehr ertragen. Dabei kann ich ihn nur allzu gut verstehen. Auch mich hat es geschmerzt, dies alles ertragen zu müssen, aber mir war auch bewusst, dass es keinen anderen Weg gab. Wir waren dem Sieg so nahe. Nur noch wenige Wochen oder Monate und es hätte auf ewig Frieden geherrscht. Stell dir das nur vor, aufzuwachen und zu wissen, dass jeder deines Volkes, sich frei bewegen könnte und keine Angst um sein Leben haben müsste.“ Ein Stöhnen des Schmerzes ertönte. „Aber das Böse durfte überleben. Alles, weil das Herz deines Vaters die Schreie nicht länger erdulden konnte.“ Eine längere Pause setzte ein, während der Alte schwer atmete. „Deshalb war er ins verborgene Reich gestiegen – glaub mir, allein für diesen Mut verdient er große Bewunderung – und er hat einen Pakt ausgehandelt. Ihr Reich würde nie wieder von einem Menschen betreten werden und einem jedem sollte es gar verboten sein, von ihnen zu erzählen. Sie sollten vergessen werden. Keiner durfte wissen, wer sie wirklich waren.“

„Natürlich war ich nicht damit einverstanden. Ich sah den endgültigen Frieden zum Greifen nah. Unser Volk hätte im Vergleich zu dem, was es erleiden musste, nur noch wenig Schmerz ertragen müssen. Dein Vater aber fand viele, die seiner Meinung waren, und so musste ich abdanken. Üblich wäre gewesen, dass er mich getötet hätte, doch dein Vater hat ein großes Herz. Damit mir aber niemand glauben würde, was ich zu erzählen hatte, machte er mich am Tag seiner Krönung zum Hofnarr.“

„Großvater?“

„Mein Kind?“

„Aber das ist schon lange her. Vielleicht sind sie nicht mehr böse. Vielleicht bleibt der Frieden uns erhalten.“

„Das wäre schön, mein Junge.“ Ein aufmunterndes Lächeln erfasste das Gesicht des Alten. „Nichts würde ich lieber glauben als das!“

Ein Stöhnen der Erschöpfung.

„Aber die Schmieden des Bösen rüsten von Neuem. Mit jedem Frühling werden sie mächtiger. Und es gibt einen viel mächtigeren Feind. Vergiss den nicht, auch wenn andere ihn vergessen haben.“ Er kniff die Augen zusammen und sah zur Wand. „Legenden sind nichts weiter als verblasste Erinner­ungen. Sie wirst du nicht mit Schwertern töten können.“

„Mein Vater ist stark.“ Es klang etwas trotzig, so wie der Junge es aussprach. „Wenn sie angreifen, wird er sie besiegen!“

Ein gütiges Lächeln sollte das aufbrausende Gemüt beruhigen.

„Noch sind wir alle sicher. Was den Pakt angeht, so werden sie ihn nicht brechen.“

Stille.

„Wenn der König aber stirbt und du die Krone erbst, werden sie sich nicht länger an den Pakt gebunden fühlen. Dann werden die Grauen von Neuem beginnen. Dann wird es nicht die Aufgabe deines Vaters sein und meine längst nicht mehr. Es ist dein Schicksal, der Weg, der seit deiner Geburt für dich bestimmt ist.“

„Aber mein Vater...?“ Der Junge wollte den Alten unterbrechen.

„... will nicht, dass du das weißt! Deshalb darfst du ihm dies nie erzählen. Er glaubt an den Pakt, er muss es, ansonsten würde er wahnsinnig vor Sorge, was er dir aufbürdet – und selbst darf er nichts tun, da sonst er es wäre, der den Pakt bricht. Tief in seinem Innern weiß er das. Dass er es aber weder aussprechen noch hören muss, ist die einzige Möglichkeit für dich, es ihm erträglich zu machen.“ Der Narr legte seine Hand auf die Decke des Kindes. „Junge, versprich mir eines, kein Wort zu niemandem! Es würde das Herz deines Vaters brechen.“

„Versprochen.“ Eiseskälte ergriff den Jungen.

„Nun schlaf, Triton, mein Junge.“

Der alte Mann stand auf und ließ den Jungen mit seinen verwirrten Gedanken allein.

Eine ganze Weile noch starrte der Junge in den Baldachin.

„Ich werde nicht zulassen, dass mein Volk nochmals leiden muss“, hauchte der Prinz, kurz bevor der Schlaf ihn überwältigte.

Im Schatten der Dämmerung

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