Читать книгу Im Schatten der Dämmerung - Marc Lindner - Страница 8

Die Verfolger

Оглавление

Der Boden unter ihnen wurde steiniger und die letzten großen Waldflächen lagen bereits hinter ihnen. Größere Städte suchte man hier auch vergebens und es wirkte eher wie ein vergessenes Stückchen Land. Über weite Strecken zogen sich lange Weiden, und von Zeit zu Zeit sahen sie in der Ferne eine Ansammlung von ein paar Bauernhöfe, wo einige wenige versuchten dem kargen Boden etwas abzutrotzen.

Sie konnten es nicht überall vermeiden, gesehen zu werden, denn abseits der Wege zu reiten, würde nur noch mehr Aufsehen erregen. Beängstigend viele Soldaten zeigten Präsenz, und es war nicht immer ersichtlich, in welcher Mission sie unterwegs waren. Gleich zweimal in der vergangenen Woche mussten sie Reißaus nehmen, und sie konnten ihre Verfolger nur mit Mühe abschütteln. Es war offensichtlich, dass sie nach drei Reitern Ausschau hielten, doch trennen wollten sie sich auf keinen Fall. Und so blieb ihnen nur die Flucht nach vorne. Sie verlangten sich und den Rössern alles ab, mit dem Wissen, dass noch eine lange Reise vor ihnen lag.

Nach einigen Tagen mit frühlingshaft schönes Wetter waren über Nacht erneut dunkle Wolken aufgezogen. Gegen Mittag brachen sie auf und die Luft kühlte sich rasch ab, während die fleißigen Bienen, die die ersten aufblühenden Mondviolen und Veilchen bestäubten, das Weite suchten. Sie hatten früh aufgesattelt, doch auch jetzt saßen sie nicht ab, sondern trieben ihre Pferde zur Eile an. Sie mussten den Vorsprung ausbauen. Die Reise war beschwerlich, der kalte Regen durchnässte ihre Kleider und das Wasser lief nur so an Reiter und Tier herunter. Doch zumindest würde der Regen helfen ihre Spuren zu tilgen.

Asylma und Brontes sprachen viel miteinander, während Legarus schweigend nebenher ritt. Der Schleier, der ihn seit ewigen Zeiten umgab, spann weiterhin seine sich windenden Fäden, die jene vergessenen Geheimnisse festhielten, die ihn zu einem verfolgten Jäger machten.

Brontes und Asylma tat es allerdings gut, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie belanglos reden konnten. Brontes entpuppte sich als großartiger Erzähler. Er kannte Geschichten, Legenden und Mythen und ebenso wusste er viel über Pflanzen und Tiere. Er war aber verwundert, wie viel auch Asylma bereits wusste. Doch ein Grund dafür lernte Brontes nach und nach kennen. Asylma ließ sich schnell für alles begeistern, was sie noch nicht wusste. Wann immer sich eine Gelegenheit bot, hinterfragte sie was Brontes und manchmal auch Legarus ihr erzählte. Dabei schöpfte sie aus einer schier unerschöpflichen Quelle neue Fragen, mit denen sie ihren Horizont erweitern wollte. Brontes ließ es sich nicht nehmen, den Wissensdurst mit ausschweifenden Erklärungen zu stillen. Dabei überraschte der Handwerker seine Gefährten mit einer unglaublichen Wortgewandtheit. Auch vermochte er Wahrheit und Legende so unzertrennlich mitein­ander zu verweben, dass sie nahtlos ineinander übergingen. So verging Kilometer für Kilometer, Tag für Tag, während sie allmählich in höhere Gebiete ritten und die Weiden immer mehr Felsen und trockenen Gebüschen weichen mussten. Das Wetter klarte glücklicherweise zusehends auf und es gab nur noch kurze Schauer. Die weite hellgrüne Ebene wechselte in ein spärlich bewaldetes Hochplateau, um schließlich in einer fruchtlosen steinigen Landschaft zu enden.

Nun waren es auch nicht mehr unzählige umhersurrende Insekten, sondern vereinzelte Adler, die den Himmel für sich beanspruchten und stolz ihre Kreise enger zogen, um dann mit tödlicher Präzision ahnungslose Mäuse zu fangen.

„Schau“, meldete sich Brontes zu Wort und zeigte auf einen dunklen Punkt unter der noch steigenden Mittagssonne. Es war ein kleiner unbedeutender Punkt am Himmel. Langsam wuchs er, während er auf sie zuflog. Er war beinahe über ihnen, bevor sie die Konturen eines mächtigen Steinadlers erkannten.

Obwohl in großer Höhe seine Umrisse neben den letzten Wolkenresten klein und unbedeutend erschienen, erkannte Asylma dennoch die Kraft, die von diesem Tier ausging. Der König der Lüfte streckte seinen braun gefiederten Kopf nach unten, zog seine Flügel fest an den Körper und schnellte wie ein Pfeil gen Erde. Sein Sturzflug war kurz, sein Erscheinen überraschend und nur ein leises ersticktes Quieken erfuhr der erstarrten Maus bevor sie, vom Adler getragen, sich zu ihrer letzten Reise gen Himmel aufmachte.

Sie ritten schweigend weiter.

„Was hältst du davon?“, wandte sich Brontes nach einer Weile an Asylma.

Asylma, die in ihren Gedanken woanders schweifte, brauchte etwas länger, bevor die Frage bei ihr ankam.

„Wovon?“

„Dass der Adler die Maus getötet hat!?“

„Er musste sie töten. Das ist die Natur! Sonst hätte er verhungern müssen.“ Sie zögerte keine Sekunde.

„Warum glaubst du, dass er Hunger hatte? Er hätte sie auch aus Spaß töten können. Nein?“

„Nein, Tiere tun das nicht!“

„Aber Menschen …?“

Es begann ihr zu dämmern, worauf er hinauswollte und suchte nach einer passenden Antwort.

„Ja, aber …“

Brontes unterbrach sie und vervollständige an ihrer statt.

„… das ist etwas anderes. War es das, was du sagen wolltest?“

Asylma fühlte sich völlig falsch verstanden und stotterte etwas Unverständliches.

Ein Kribbeln bahnte sich einen Weg durch ihren Magen. Doch Brontes' Ton klang versöhnlich, als er von Neuem ansetzte.

„Ich glaube nicht wirklich, dass das deine Gedanken waren. Aber ist es doch die Antwort, die einem jene geben die schon Boten des Todes waren.“

Asylma schwieg.

Brontes zügelte sein Pferd und Asylma tat es ihm gleich. Er hielt sie fest am Arm und blickte ihr mit der gut gemeinten Strenge eines Vaters in die Augen. Der Blick war fesselnd, ebenso seine feste Stimme, die jede Spur von dem ansonsten mitschwingenden Humor verloren hatte.

„Es werden Tage kommen, in denen du tötest, um zu leben und solche, in denen du tötest, weil du glaubst, töten zu müssen. Doch bedenke eines, du tötest nicht den Soldaten, sondern den Ehemann, den Vater!“

Asylma schwieg.

„Ich habe gesehen, dass du schnell mit dem Messer bist. Bereit zu töten. Doch das erfordert weder Mut noch Weisheit!“

Der Bann zwischen ihren Augen löste sich, als er an ihr herabblickte. Sein Gesicht zeigte wieder die gutmütigen, sanften Züge, die so unpassend zu seinem ansonsten stählernen Körper waren. Aber dennoch blieb er nicht weniger ernst.

„Ich werde dich lehren, dass dein Mitgefühl schneller ist als dein Instinkt und dein Verstand schärfer als dein Messer. Du kannst töten und dennoch verlieren, genauso aber verschonen und siegreich sein.“

Sie ritten eine Weile nebeneinander her.

„Macht ist nicht der Lohn des Tötens, sondern Leben die Gabe der Weisheit.“

Brontes sah sie mit fragenden Augen an, doch Asylma blieb weiterhin stumm.

„Ich kannte deinen Vater!“

Nun war es Asylma deren Augen, jene Brontes suchten und einmal gefunden so fixierten, als versuchten sie ein Geheimnis zu lesen, das tief in ihnen wohnte und nie durch Worte den Weg in die Welt finden konnte.

Sie wollte reden. Sie suchte jemanden mit dem sie über ihre Eltern reden konnte. Und jetzt wo sie einen gefunden hatte, blieb sie stumm. Unfähig ihrer Freude oder Trauer Worte zu schenken, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die kleinen Perlen rollten auf ihren weichen Wangen herunter und zerrannen an ihren Lippen. Es waren nur wenige Tränen, doch diese waren voll von Gefühlen, die sich mit ihnen den Weg ins Freie suchten.

Ihr Mund öffnete sich mehrmals, während der Wind sanft durch ihr Gesicht streichelte und die nun nicht mehr fließenden Rinnsale trocknete. Die Sonne schien hell, als wollte sie Licht in die finstersten Windungen ihrer Seele bringen. Die Erde schluckte jedes Geräusch, und so herrschte absolute Stille, als würde die Natur selbst darauf warten, dass Asylma sich öffnete.

Langsam formten ihre blassen Lippen Worte. Zunächst stürzten sie brüchig hervor.

„Kanntest … du ihn … gut?“

„O ja. Wir waren zusammen aufgewachsen. Er war immer der Stürmischere von uns beiden.“

„Und warum … habe ich dich nie bei uns gesehen?“

„Du warst noch ganz klein, als ich das letzte Mal bei euch war …“

„Aber warum …“

„Warum ich nicht wiedergekommen bin? – Die Zeit. Sie ändert alles. Zu viele Dinge waren geschehen, grausame Dinge.“

Asylmas Augen drohten abermals überzulaufen und so ertranken ihre Fragen in ihrer Kehle.

„Eines musst du wissen: es zählt nicht nur, was man verloren hat, sondern auch das, was man noch hat!“

Legarus, der merkte, dass Brontes, mit seinem Versuch der Aufmunterung kläglich scheiterte, schaltete sich dazwischen: „Egal wie finster und kalt die Nächte sind, es wird immer einen Ort geben, an dem ein Licht für dich brennt, und immer wird ein warmes Herz für dich schlagen.“

Legarus ließ seine Worte verhallen, bevor er mit seiner sonnengegerbten Hand eine einzelne Perle auf ihrer Wange auffing und mit sanfter Stimme und mitfühlendem Blick weiterfuhr: „Du hast verloren, was nicht zu ersetzen ist, gesehen, was nicht zu beschreiben ist, gehört, was nicht zu ertragen ist, und dennoch lebst du. Du lebst und bist frei! Frei zu hoffen, frei zu lieben. Du musst lernen los zu lassen – loszulassen, aber nicht zu verdrängen, noch zu vergessen.“

„Für jeden kommt die Zeit, wenn man gehen muss. Doch wenn die Zeit gekommen ist, ist es dennoch immer zu früh. Nur die Liebe allein kennt keine Zeit. Sie lebt ewig, aber auch nur dort, wo sie Einlass findet.“

Brontes und Legarus verloren sich in ihren Reden. Mit jedem neuen Satz, den sie immer wieder länger als den vorigen spannen, verloren sie mehr den Hang zur Realität. Versuchten sie zunächst Asylma Mut zuzusprechen, so war es bald schon ein Wettdichten und Philosophieren.

Die Wirkung aber hätte nicht besser sein können. Asylma gewann ihr Lächeln zurück und Wärme fand den Weg in ihr Herz. Es waren nicht die Worte, die sie trösteten, nicht das Gebärden der Freunde, die ihr Kraft schenkten, sondern das Gefühl, nicht allein zu sein. Es war nicht wichtig, wie die beiden sie zu trösten versuchten, wichtig allein war, dass sie es versuchten. Denn in einer Freundschaft zählen nicht die Ergebnisse, sondern das Bemühen, nicht die Worte, sondern das Gefühl.

Auch wenn es eine Flucht war, so bedeutete es Asylma viel in Gesellschaft des geheimnisvollen Legarus und dem redseligen Schmied durch Feld und Flur zu reiten. Wenn der frische Frühlingswind mit ihren Haaren spielte, und die Wolken rätselhafte Figuren über die Erde huschen ließen, dann erinnerte sie sich an die zahllosen Ausflüge mit ihrem abenteuerlustigen Vater, der sie viel über die Natur lehrte. So versank sie bei jeder Spur eines bekannten Tieres, die dieses in dem teils lehmigen Boden hinterlassen hatte, in Geschichten, die sie einst gehört hatte.

Erst in der dritten Woche verringerten sie ihr Tempo und genehmigten sich und ihren Rössern öfter Verschnaufpausen. Auch wenn sie sich mehr Zeit nahmen, war es für Asylma dennoch wenig erholsam. Brontes nahm sich weiterhin ihrem Training an. Er zeigte ihr zu Beginn jeder Lehrstunde neue Stellungen, wie sie ihr Schwert halten sollte, und auf was sie beim Gegner achten musste. Wenn sie dann aber ihre beiden Holz­schläger einsetzten, wurde Asylma flau zumute, denn der von ihr liebgewonnene Schmied, zeigte dann keine Gnade mehr. Brontes war zu Beginn überrascht, wie gut sie bereits war, aber dann wurde er sich nochmals bewusst, welches Leben auf dem Land geführt wurde. Es war einfach zu gefährlich, wehrlos zu sein. Doch das machte es für Asylma nun nicht leichter. Eher das Gegenteil war der Fall. Er drosch förmlich auf sie ein, nutzte Deckungsfehler aus, um ihr einen Hieb gegen die Seite zu platzieren. Zwar bremste er den Schlag im letzten Moment ab, doch mit der Zeit gab es keine Stelle die Asylma nicht schmerzte. Aber auch sie nutze jede Gelegenheit auszuteilen. Es lenkte sie ab, da ihr keine Zeit blieb über etwas anderes nachzudenken.

Wenn sie dann erschöpft und leicht mürrisch sich auf eine Pferdedecke fallen ließ, um sich zu sammeln, war Legarus zur Stelle. Er beanspruchte nicht ihre Kräfte, ebenso wenig zog sie sich bei ihm Verletzungen zu. Doch diese Übungen waren nicht minder ermüdend. Es waren banale Geistesübungen, doch Legarus verstand sich meisterhaft in den Künsten der Ablenkung. Dagegen fand sie jedoch schnell eine Abschottung und so schaffte sie es schließlich, unempfindlich für Störungen in ihrer Umwelt zu werden. Deswegen gab Legarus es nach einer weiteren erfolg­reichen Stunde auf, ihre Konzentration auf die Probe zu stellen und fuhr damit fort ihre Sinne zu schärfen.

Hier befand Asylma sich in ihrem Element. Abends, wenn die Sonne den Horizont sanft streifte, zogen sich die beiden zurück und setzten sich auf einen höher gelegenen Felsen oder an einen scharfen Abhang. Dort weilten sie und sogen die Landschaft in sich auf. Solange bis sie mit ihr verschmolzen. Zeit spielte nicht länger eine Rolle. Zufriedenheit durchströmte Asylma, wenn sie die Natur in ihrer Einzigartigkeit betrachtete. Die Formen, die die Natur erschafft, die Farben, mit denen sie spielt, sind Balsam für verletzte Seelen, die ihren inneren Frieden verloren haben. Zeit ist vergänglich und versucht man einen Moment festzuhalten so ist er einem schon beim Gedanken daran entwichen. Doch vermag die Harmonie des Augenblicks als Erinnerung gebündelt einem Faden gleichen. Einem, so rein wie das Licht der Sonne, so frei wie der Wind und so beständig wie Fels, Teil eines Bildgewebes der Ewigkeit und Schlüssel zu der inneren Truhe der Ausge­glichen­heit.

Im Schatten der Dämmerung

Подняться наверх