Читать книгу Lenzendorfs Komfortzone - Marc Rosenberg - Страница 4
Routinen
Оглавление„ ... siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert.“
Lenzendorf hielt den Körper nach den Liegestützen kurz in der Horizontalen, dann zog er die Beine an und richtete sich langsam auf. Er spürte seine Arme, er fühlte, wie das Blut in ihnen pulsierte. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Sein Atem ging schnell, aber nicht zu schnell. Er griff wieder nach dem Seil, das über dem Stuhl hing, nahm die Enden des Seiles in die Hände und fing an zu springen. Noch einmal hundert ... er fing seine Übungen immer mit hundert eher lockeren Sprüngen zum Warmwerden an, dann Liegestütze, wieder Seilspringen.
„Eins, zwei, drei ... “, fing er wieder an zu zählen.
Das Seil surrte durch die Luft, über seinen Kopf und unter seinen Füßen. Wenn es den Boden mit einem leisen Knallen berührte, zählte er. Und sprang gleichmäßig. Er fand schnell seinen Rhythmus. Immer. Jeden Morgen. Sein Rhythmus ... jeden Tag, jede Woche ... seit nunmehr über zehn Jahren. Schaltete er irgendwann auf Autopilot.
„ ... zehn, elf, zwölf ...“, zählte er und die Zahlen kamen von allein, gerade so, als erinnerte sein Körper die Zahlen. Und die Zahlen erinnerten seinen Körper an die Bewegungen ... vielleicht erinnerten die Bewegungen den Körper auch an die Zahlen ...
Er machte immer einen Zwischensprung. Er sprang leichtfüßig, der Boden gab etwas nach und federte, aber nicht zu viel. Er war barfuss und trug nur eine kurze Turnhose. Er zählte stumm ... ohne sich auf das Zählen konzentrieren zu müssen. Die Zahlen kamen zu ihm, wie die Bewegungen ein Teil von ihm waren ...
Schweiß trat auf seine Stirn und rann langsam über sein Gesicht. Er sprang und zählte. Und er fühlte jeden der an seinen Bewegungen beteiligten Muskel ... er spürte seinen Körper und er spürte ... sich ... jeden Morgen ... seit zehn Jahren.
Er zählte langsam weiter bis hundert, gleichmäßig, ohne das Tempo zu verändern. Er sprang weder schneller noch langsamer. Immer gleichmäßig. Ein Sprung nach dem anderen. Eine Zahl nach der anderen. Sein Atem blieb ruhig. Er schaute geradeaus, aus dem Fenster, es stand offen, wie jeden Morgen, wenn er seine Übungen in einem der beiden großen Räume im ausgebauten Dachboden seines Hauses machte. Neben dem Flur gab es hier oben auch ein kleines Bad, mit Dusche und WC. Und den anderen, etwas größeren und helleren Raum mit den großen Panoramaglasscheiben: sein Arbeitszimmer.
Beim Zählen wurde sein Kopf leer, frei von unnötigen und unnützen Gedanken. Wenn er sprang, sprang er und sein Kopf sollte nicht mit Denken beschäftigt sein. Die Zahlen waren sein Mantra.
Zum Meditieren benutzte er ein anderes Mantra ... ein langgezogenes Mae beim Einatmen und ein ebenso langgezogenes Ying beim Ausatmen.
„ ... siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert.“
Er blieb stehen, atmete langsam ein und wieder aus und bewegte die Beine und schüttelte die Muskulatur und legte dann das Seil zurück über die Rückenlehne des Stuhls und machte wieder ein paar Dehnübungen. Dann nahm er die Hanteln. Jeweils fünf Kilo. Er hob die Gewichte. Vor dem Körper, neben dem Körper und über dem Kopf. Langsam und gleichmäßig hob er die Gewichte. Und zählte. Er legte sich auf die Matte auf dem Boden und hob die Gewichte über seinem Oberkörper und zählte ... nach den Hanteln noch einmal hundert Sprünge ... dann hundert Situps auf der Matte, zwischendurch hundert Sprünge mit dem Seil und dann fünfzig Klimmzüge ... und zum Abschluss noch einmal hundert Sprünge ... der Schweiß rann ihm über die Brust und den Rücken.
Und immer wieder zählte er ... bis hundert ...
Lenzendorf schwitzte und atmete jetzt schneller.
Er starrte die Holzstange an, die er mit zwei Metallrohren am Dachbalken der Decke befestigt hatte, um Klimmzüge machen zu können. Er könnte sich noch mit den Beinen dranhängen, mit dem Kopf nach unten, um dann den Oberkörper hochzuziehen ... doch er wollte heute Abend noch laufen ... er lächelte ... für heute war es ausreichend. Nur nicht übertreiben ... er betrachtete sich im Spiegel ... und lächelte. Ihm gefiel, was er sah. Später, wenn er angezogen war, sah man es nicht und sein Gegenüber hätte wohl auch kaum vermutet, was unter der Kleidung steckte ... er lächelte.
Das sollte auch genau so sein. Er wollte kein aufgeblasener Popeye sein, der aus seiner Kleidung herausquellte. Sein Ziel und Streben waren Ausdauer und Disziplin. Disziplin und Ausdauer.
Er dehnte sich noch einmal abschließend, nahm dann die Flasche Wasser und trat zum offenen Fenster. Er trank einen halben Liter Wasser ohne Kohlensäure in kleinen Schlücken, ohne Hast, während er aus dem Fenster schaute ... die Sonne kroch hinter dem Horizont hervor und schickte das erste Licht um die Nacht zu verscheuchen und den Morgen zu begrüßen. Der Tag erwachte, Lenzendorf war bereits wach. Schon seit einer Stunde. Er sah über die Felder zum Wald. Nebel zog langsam zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal sah er Rehe oder auch schon einmal einen Fuchs, besonders Hasen gab es jede Menge. Am Abend würde er laufen, im Wald. Zehn Kilometer. Wie jeden zweiten Tag. Lenzendorf seufzte, zufrieden.
Diese Zufriedenheit hatte er sich hart erarbeitet.
Durch Disziplin. Und Willen.
Diese andere, diese gesättigte und träge Zufriedenheit ... die verabscheute er ... abgrundtief.
Er nahm den letzten Schluck Wasser. Die Flasche war leer. Er war bereit.
Er ging duschen. Und rasierte sich. Dann zog er sich an und betrat, nachdem er die Tür aufgeschlossen hatte, den anderen großen Raum: sein Arbeitszimmer.
Wenn man diesen großen, der Grundfläche nach nahezu quadratischen Raum betrat, schaute man nach draußen. Die gesamte, der Tür gegenüberliegende hohe Giebel-Wand des Raumes war mit großen Fensterscheiben verglast. Der Raum war hell. An der Wand, in der sich die Tür befand, standen Regale mit Büchern und Musik-CDs und ein großer alter Bauernschrank.
Sein Arbeitszimmer wurde dominiert von einem großen alten Schreibtisch. Dahinter stand ein Schreibtischstuhl. An der Wand hinter dem Stuhl standen Regale für die Schulsachen und ein Drucker. Ein Kopierer stand in der Schule. Aber er hasste es zu kopieren, in jeder Hinsicht.
Der Schreibtisch im Arbeitszimmer stand so, dass Lenzendorf sowohl die Tür im Blick hatte als auch die Aussicht aus den Fenstern genießen konnte, wenn er dort saß und arbeitete. Er saß mit dem Rücken zur Wand, doch er musste bei diesem Gedanken nur lächeln. Er wollte es so. Genau so! Er saß gern mit dem Rücken zur Wand. Er hatte kein Problem mit Wänden, weil die sich nicht bewegen konnten, aus einer Wand kam normalerweise niemand heraus ...
Er hasste es hingegen, Türen im Rücken zu haben ... auch wenn er wusste, dass durch die Tür seines Arbeitszimmers niemand hereinkam, wenn er an seinem Schreibtisch saß und arbeitete oder Musik hörte ... oder sich die Bilder anschaute, die sein Fernseher ausstrahlte ...
Auf der anderen Seite des Raumes, genau gegenüber des Arbeitsbereiches, standen ebenfalls Regale an der Wand, in dem sich eine Stereoanlage und ebenfalls Musik-CDs befanden. Rechts und links in den Ecken standen Boxen. Er hört beim Arbeiten Musik. Laut. Klassik oder Rock-Musik.
Lenzendorf ging zum Schrank, nahm den Schlüssel, der hinter der Zierleiste auf dem Deckel lag und öffnete den Schrank. Im Schrank befand sich ein Fernseher. Er schaltete das Gerät ein und schaltete auf den Videokanal.
Auf dem Bildschirm erschien eine Frau. Sie saß nackt auf Betonboden. Sie hatte einen Metallring um den Hals. Am Metallring hing eine Kette, die führte zur Wand. Dort war die Kette mit einem weiteren Ring festgemacht.
„Guten Morgen“, sagte Lenzendorf.
Er hob die Hand und strich vorsichtig über den Bildschirm.
Die Frau hob den Kopf.
Als würde sie auf seine Berührung reagieren. Als hätte sie seine Worte gehört.
Er lächelte und ein Schauer lief seinen Rücken herunter ... er spürte das plötzlich aufkommende Zittern und Pulsieren ...
„Ah“, sagte Lenzendorf, „du bist schon wach.“
Er zog seine Hand zurück. Seine Fingerspitzen kribbelten.
Als hätte tatsächlich eine Berührung stattgefunden ... Natürlich berührte sie ihn, ja, auch wenn sie nicht wirklich hier war, in diesem Raum, auch wenn er sie nicht anfassen konnte, berührte sie ihn ... sehr intensiv ... sie berührte ihn tiefer als irgendein Mensch einen anderen berühren kann ...
„Hast du gut geschlafen?“
Er spürte die Erregung und schüttelte sich, als ein weiterer warm prickelnder Schauer durch seinen Körper fuhr ...
Sie regte sich.
Er lächelte.
Er beobachtete die langsamen Bewegungen der Frau. Ein Finger, die Hand, einen Fuß, das Bein. Immer nur kurz. Sie machte nicht den Versuch, aufzustehen. Sie wusste, dass sie nicht aufstehen konnte. Nicht nur, weil sie an der Wand festgemacht war ... daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt ... am Anfang war das immer anders, es veränderte sich, früher oder später ... das war sehr unterschiedlich. Manche brauchten länger, um sich daran zu gewöhnen, sich nur sehr eingeschränkt bewegen zu können.
Er wusste noch immer nicht, was er mehr mochte: Wenn sie sich schnell daran gewöhnten oder wenn sie mehr Widerstand leisteten und sich scheinbar gar nicht gewöhnten und sich gelegentlich sogar noch wehrten ... Aber immer gab es irgendwann einen Punkt, da brach der Wille, da brach der Widerstand. Das war immer ein besonderer Moment. Wenn der Verstand siegte, wenn der Verstand dem Körper sagte: Lass es!
Auch wenn der Verstand dann meist schon aufgehört hatte ... zu funktionieren ... Lenzendorf lächelte milde. Das war der besondre Moment, wenn sie den Verstand verloren ... es war kein schleichender Prozess, manchmal, ja, aber es gab diesen Moment ... als würde ein Schalter umgelegt ... er hatte es gesehen ...
Es gab viele andere ... besondere Momente ... in Lenzendorfs Leben ... er hatte es sich so eingerichtet, dass es Momente des Glücks und der Zufriedenheit gab.
Er beobachtete gespannt das Bild.
Sie saß apathisch gegen die Wand gelehnt. Sie schwieg. Er meinte zu sehen, wie sie den Kopf vor und zurück bewegte, nur ein wenig, aber immer wieder, vor und zurück, als würde sie schaukeln ...
War das Hospitalismus?, fragte er sich.
Lenzendorf sah an ihrem Körper hinunter.
Sie saß in einer Pfütze.
„Oh“, sagte er tadelnd. „Du hast es nicht mehr ausgehalten. „Hm! Das ist nicht schön. Nein“, er schüttelte leicht den Kopf und schaute verdrossen, „das ist nicht schön.“
Er hob tadelnd den Finger.
Er schaute noch einen Moment auf den Bildschirm, es tat sich nicht mehr viel, er nickte, schaltete das Gerät aus und schloss die beiden großen Flügeltüren des Schrankes, schloss ab und legte den Schlüssel zurück hinter die Zierleiste auf den Schrank. Er drehte sich um und schaute aus den Fenstern nach draußen. Er blickte über Wiesen und Felder zum Wald. Auch auf dieser Seite des Hauses hatte man den Eindruck, als würde weit und breit keine Menschenseele wohnen, keine Häuser, keine Straßen, keine Wege. Nur Natur, nur Ruhe.
Er sah, wie ein verspätetes Reh im Wald verschwand.
Er ging zum Schreibtisch, nahm seine Tasche, die er gestern Abend bereits gepackt hatte und die neben dem Schreibtisch stand, verließ den Raum, schloss die Tür und ging nach unten. Viel zu packen hatte er nicht. Das, was wichtig für den Unterricht war, befand sich in seinem Kopf.