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Gegenwart Oktober 2010, am Morgen im Wald
ОглавлениеFür einen Moment ist es still ... trotz der vielen Menschen hier an diesem Ort, die nicht hier sein sollten, hier in diesem Wald ... die nicht hierher gehören, hier in diesen Wald ... sie stören ... an diesem Ort ..., der so still ist, wie ... wie der Tod ... sie zerstören die Ruhe des Waldes ... und die Stille des Todes ... der Tod ist still und ... friedlich, wenn er da ist ... wenn es vorbei ist ... wenn der Tod da ist, ist es still ... endlich ...
Er hört die Stille ... und bleibt stehen ... und lauscht ... weil er ihn hören will ...
Er schließt die Augen.
Als würde der Wald den Atem anhalten. Er atmet tief ein. Hält die Luft an. Und lässt sie langsam entweichen, er öffnet die Augen. Lauscht. Ein Moment der Stille. Er schließt die Augen. Und öffnet die Hände. Streckt sie nach vorn, wie Schalen geöffnet, um zu empfangen, um aufzufangen. Er spürt die Stille des Waldes. Der Wald hat seine eigenen Gesetze. Stille gehört dazu. Wie der Eingang zu einem dunklen, tiefen Schlund. Diese einzigartige Stille des Waldes, der man sich nicht entziehen kann, auch wenn man hier ist, weil der Tod auf einen wartet. Die Stille nimmt ihn auf, einfach so. Er wehrt sich nicht.
Weil der Wald anhebt, den Tod zu verschlingen.
Ja. Da. Da ist eine Erinnerung.
Unbestimmt. Unklar. Nur gefühlt. Im Gedächtnis verborgen. Eine gespeicherte Erinnerung. Ohne Worte, unausgesprochen, eine gefühlte Erinnerung. Der Körper vergisst nicht.
Nie. Nichts.
Nein, der Körper vergisst nicht, nichts ...
Doch die Erinnerung nimmt noch keine Gestalt an, bleibt unbestimmt, trüb, schemenhaft. Wie ein Schatten, der ihn umgibt und umschleicht und sich in ihm windet, aber ... verschwindet.
Nein, der Körper vergisst niemals.
Den Körper kannst du nicht verarschen.
Was für eine Stille!, denkt er dann, was für eine gottverdammte Stille.
Und dieser Geruch! Die Welt atmet ein und aus. Ein ewiger Kreislauf.
Er atmet langsam weiter, atmet tief ein und wieder aus. In diesem Wald bleibt einem nichts anderes übrig als zu atmen, sich den Gesetzen des Waldes zu unterwerfen. Atmen. Und sich einverleiben lassen. In diesen Kreislauf.
Ursprünglich, das ist das Wort, das ihm einfällt. Ursprünglich, wild und vergänglich zugleich. Wild und unbezwungen. Zerstörbar nur durch Menschenhand. Nur der Mensch hinterlässt seine Spuren. Und das hat er getan. Ein Mensch hat hier im Wald seine Spuren hinterlassen.
Leben und Vergänglichkeit, Kommen und Gehen in einer harmonischen, stillen und innigen Umarmung. Seit Hunderten, vielleicht seit Tausenden von Jahren. Ungestört. Unzerstört. Erbarmungslos, rücksichtslos. Ursprünglich. Archaisch. Und doch ist da mehr als nur das, was er sieht und riecht.
Er fühlt etwas, er fühlt es, die Erinnerung. Er erinnert sich, sein Körper erinnert sich.
Er öffnet die Augen. Atmet. Schüttelt sich. Und damit die Erinnerung fort.
Was würden diese Bäume erzählen, wenn ich ihre Sprache verstehen könnte? Was könnten sie mir erzählen, was wollten sie mir erzählen?
Was habt ihr gesehen?
Das würde es mir erleichtern, denkt er, das würde mir meine Arbeit erleichtern.
Er denkt an die Bäume des Fangorn-Waldes aus Der Herr der Ringe. Die brauchen Stunden, um sich nur Hallo zu sagen.
„Die haben Zeit“, flüstert er. „Zeit.“
Das ist das, was ich nicht habe, denkt Bernd Hebel. Zeit.
Er ist an diesem Morgen hier in diesem Wald, weil die Zeit für jemanden abgelaufen ist.
Er dreht sich langsam im Kreis und schaut sich um. Es ist noch früh am Morgen. Und doch zu spät. Nebel, Tau, Spinnennetze, Bäume. Büsche, Moos, Gras, Sträucher, Vogelgezwitscher, leises Rauschen und hier und da ein heimliches Rascheln. Sie wissen, dass er da ist. Sie sehen ihn, aber er sieht sie nicht. Das Leben findet im Verborgenen statt. Hier im Wald findet das Leben unsichtbar und im Verborgenen statt. Vieles wird erst sichtbar, wenn es dunkel wird.
Er schließt die Augen. Er riecht seine Kindheit. Holz, Rinde, Laub, Fäulnis, Feuchtigkeit und Vergänglichkeit. Und seine Jugend. Zügellosigkeit und Neugierde, Hemmungslosigkeit und wilde Rohheit. Gier und Verlangen, Lust und Erregung. Unersättlichkeit. Schweiß, Urin, nackte Haut, Hitze, Sperma, Leben und diesen einzigartigen, erregenden Geruch an den Fingern. Und sein Körper erinnert sich noch, wie sie sich anfühlte.
Ihr Name? Ihren Namen hat er vergessen. Aber dieser Geruch ist geblieben. Und dieses Gefühl an den Fingern und im Kopf. Der Körper erinnert sich, immer. An Details. Und er vergisst nicht und verzeiht nicht, nicht immer jedenfalls. Ihr Gesicht? Weg. Ihr Name? Er runzelt die Stirn. Was wohl aus ihr geworden ist? Sein Leben hat anderswo stattgefunden. Ihres auch.
Vermutlich hat er seine halbe Kindheit im Wald verbracht. Um vor der anderen Hälfte zu fliehen. Er öffnet die Augen und lächelt. Er schaut zurück. Und geht dann zu dem Grund, der ihn her geführt hat: Der Tod.
Eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche, wiederholt Bernd Hebel gebetsmühlenartig diese einfache, aber zwingende Tatsache und Wahrheit, die ein paar Meter weiter vor ihm liegt, wieder einmal. Egal wie sie aussieht, es ist nur eine Leiche. Er will sich vorbereiten auf das, was kommt.
Wahrheit ist immer konkret, denkt er, das hat Brecht schon gewusst.
Und das hier ist konkret. Noch konkreter geht’s nicht. Vollkommen konkret tot.
Eine dieser Tatsachen und Wahrheiten liegt nur wenige Meter vor ihm, in einer Senke im Waldboden. Nackt. Auf Laub gebettet. Von Erde umgeben. Auf der Seite, leichte Embryonalhaltung. Der Kopf und damit das Gesicht zum Boden verdreht. Abgelegt. Aber nicht weggeworfen, wie das auch vorkommt. Nicht verscharrt. Offensichtlich. Blass und starr, aber seltsam friedlich liegt sie da. Trotz der bereits jetzt sichtbaren Verletzungen. Daneben eine Plastiktüte. Eventuell die Kleidung. Oder was man so in Plastiktüten neben Leichen findet. Er wird es erfahren, auch wenn er es nicht wirklich wissen will. Er kennt unzählige intime Details, die Menschen nur als Leiche preisgeben. Die Menschen erst als Leiche preisgeben. Leichen sind manchmal redseliger als die Lebenden. Die versuchen zu verheimlichen und zu vertuschen, sie lügen und betrügen, biegen die Wahrheit und zerren an ihr, bis sie bricht. Das tun Leichen nicht. Das können sie gar nicht. Leichen erzählen eine Geschichte. Immer. Eine wahre Geschichte. Man muss nur zuhören und verstehen.
Und, das weiß Hebel, der erste Eindruck zählt.
Er schüttelt den Kopf.
Er schaut weiter. Beobachtet und registriert. Vieles, was er sieht, speichert er unbewusst. Aber es wird wieder auftauchen, irgendwann und ihm helfen und Hinweise geben.
Eine erwachsene Leiche. Auf den ersten und oberflächlichen Blick ist noch alles dran. Vermutlich männlich. Tatsächlich, noch schwierig zu sagen. Er ist noch nicht nah genug dran.
Was hat man dir, oh, armes Kind getan? Wer hat es dir, oh, armer Mann angetan? Das hat sich Freud wohl gefragt. Es gibt nicht immer Antworten auf diese Fragen. Manchmal will man die Antworten auf diese Fragen auch nicht kennen. Doch genau deswegen ist Bernd Hebel hier: Wegen der Antworten. Er wird sie geben müssen. Irgendwo wartet jemand, der will Antworten.
Auf die Leiche wartet ein Lebender, und der will Antworten. Meistens jedenfalls. Doch manche Leiche war bereits als Lebender einsam und allein.
Wir werden die Vermisstenanzeigen durchgehen müssen, speichert er.
Sein Blick wandert zu der Gestalt, die sich über die Leiche beugt und sich bereits mit ihr beschäftigt. Andächtig, still und konzentriert. In sich und seine Arbeit versunken. Aber, das weiß Bernd, hell wach und äußerst aufmerksam. Bernd weiß, dass er weiß, dass Bernd dort steht. Auch wenn er ihn scheinbar nicht beachtet.
Dr. Wilder weiß vermutlich schon Genaueres, denkt Bernd. Er weiß es immer schon genauer. Ein paar Blicke, und er weiß mehr über eine Leiche als über seinen Nachbarn, der bereits seit Jahren neben ihm wohnt, oder seine Kollegen, mit denen er schon jahrelang zusammen arbeitet. Eine Leiche ist für ihn wie ein Buch. Wenn man die Sprache kennt, kann man in einer Leiche wie in einem Buch lesen. Dr. Wilder ist gut, er kennt die Sprachen der Leichen. Vielleicht reden ihm lebende Menschen auch zu viel. Oder geben die falschen Antworten. Leichen reden nicht viel, aber sie sagen ihm alles. Wilder ist geduldig und er entlockt ihnen ihre Geheimnisse,
Egal, wie sie aussieht, sagt sich Bernd. Egal, wie diese Leiche aussieht. Eine Leiche ist eine Leiche ist eine Leiche. Er wiederholt sein Mantra. Und sie wird erst dann wieder zu einer Person, oder zu einem Menschen, wenn sie mir ihre Geschichte erzählt hat.
Er weiß: Jede Leiche erzählt ihre eigene Geschichte. Sie wird ihm ihre Geschichte erzählen, früher oder später. Er wird sie ihr entlocken.
Bernd Hebel hebt den Kopf und dreht sich einmal langsam im Kreis. Es ist seine Art, sich dem Tod zu nähern. Langsam, beinahe andächtig. Sie muss auf ihn wirken. Die Leiche. Und die Umgebung, in der er die Leiche findet.
Wie kommt man hierher, um eine Leiche abzulegen?, fragt er sich. Die Bäume stehen dicht. Warum kommt man hierher, um eine Leiche abzulegen? Ausgerechnet hier?
Und steht wieder vor der Leiche. Sie bleibt, wo sie abgelegt wurde, er kann nur die Perspektive ändern. Doch das hilft manchmal schon, reicht aus. Um etwas zu sehen, zu erkennen.
Trägt man sie allein oder braucht man Hilfe? Reifenspuren? Schleifspuren? Auf dem Waldboden liegt sehr viel Todholz. Äste, Stämme, Zweige, Stümpfe. Dichtes Gestrüpp. Allein hat man hier sehr viel Mühe. Zu zweit ist es schon einfacher. Mindestens ein sehr kräftiger Mann.
Erste Tatsache: Irgendwo ist ein Mensch gestorben, ermordet worden, bestialisch zugerichtet, gefoltert worden. Letzteres in diesem Fall. Übel zugerichtet. In diesem Fall wirklich übel zugerichtet. Je näher er kommt und je länger er schaut desto mehr Details. Oder waren hier schon Tiere am Werk, um sich zu holen, was ihnen zusteht?
Aasfresser. Diese tierischen Zeitgenossen verbindet der menschliche Verstand nicht gern mit einem menschlichen Körper, mit einem toten menschlichen Körper.
Er ist sich sicher. Weil er es sieht, weil er es nicht zum ersten Mal sieht. Hier hat sich jemand Zeit gelassen. Aber nicht hier, nicht hier im Wald, hier ist die Leiche nur abgelegt worden, das sieht selbst er, sofort. Zu wenig Blut. Sehr wenig Blut. Die Leidenschaft hat woanders stattgefunden. Und hier war jemand leidenschaftlich, das sieht er. Sofort. Leidenschaft kennt viele Ausdrucksmöglichkeiten. Das hier ist eine spezielle Form der Leidenschaft.
Hier war jemand sehr intim, wenn man es so sagen kann. Opfer und Täter hatten eine persönliche Beziehung. Vermutet Bernd Hebel. Sie standen sich nahe oder sind sich nahe gekommen, sehr nahe. Für das Opfer zu nahe, grenzüberschreitend. Durchdringend. Einschneidend.
Es gibt immer einen Grund. Ein Warum; warum eine Person, ein Mensch eine Leiche wird, eine Leiche eine Leiche ist. Und er muss jetzt den Weg zurückgehen. Der Leiche ihre Geschichte entlocken, ohne sie wieder mit Leben füllen zu können.
Was hast du uns zu sagen? Wer hat dich warum so zugerichtet? Was hast du getan?
Zweite Tatsache: Auch der Mörder wird erst zur Person, wenn er seine Geschichte erzählt hat. Wenn ich seine Geschichte kenne. Wenn ich meine Arbeit gut mache, werde ich seine Geschichte erfahren.
Er macht einen weiteren Schritt Richtung Leiche. Und schaut genauer. Er würde wohl kotzen müssen, wenn ihm noch schlecht werden könnte. Und wenn er heute Morgen schon gefrühstückt hätte. Wieder einmal sieht er es. Und er sieht: Es geht immer noch ein bisschen mehr. Doch noch. Schlimmer. Widerlicher. Bestialischer, wahnsinniger.
Nur, dass es ihn nicht mehr schockiert. Nicht mehr.
Doch, fragt er sich, hat Wahn jemals einen Sinn gehabt?
Das ist wie mit der höchsten Zahl. Man kann immer noch eins dazu addieren. Denkt er. Und noch eine. Und noch einmal eine. Eine Leiche. Und das, was ein Mensch mit einem anderen Menschen macht. Machen kann. Hat hier der Wahnsinn gewütet?
Dr. Wilder dreht gerade den Kopf der Leiche, so dass er das Gesicht der Leiche ...
Zu spät, Bernd kann den Blick nicht mehr abwenden.
„Wer macht denn so was?“, fragt Bernd Hebel leise und er weiß, dass ihm niemand zuhört. Noch nicht. Obwohl so viele Leute hier sind, im Wald, und beschäftigt sind. Mit der Leiche, mit der Umgebung. Spurensicherung. Auch wenn er nicht allein ist, hier im Wald, im Angesicht des Todes. Wobei er sieht, dass es mit dem Gesicht des Todes hier nicht so einfach ist. Er hat kein Gesicht. Diesmal hat der Tod kein Angesicht. Kein Angesicht mehr. Er kann ihm nicht in die Augen schauen. Noch nicht.
Er schaut instinktiv zur Plastiktüte. Und verzieht den Mund. Er ahnt, was sich in der Tüte befindet. Keine Kleidungsstücke.
Leck mich doch am Arsch!, flucht er in sich hinein. Weil er sieht, was er sieht. Und weil er mehr sieht als offensichtlich ist.
Was für eine gottverdammte Scheiße. Er denkt noch immer. Ist noch nicht Profi genug an diesem Morgen. Er denkt noch.
Und starrt vor sich hin. Schließt die Augen. Atmet, atmet ein und wieder aus.
Und denkt.
Wie aus dem Gesicht geschnitten, hat hier eine ganz sprichwörtliche und realistische Bedeutung.
Er atmet weiter. Aus dem Gesicht geschnitten. Augen, Nase, Lippen ...
Es riecht frisch, feucht, kühl. Aber auch ein anderer Geruch liegt in der Luft. Verwesung?
Vielleicht bin ich ja noch gar nicht wach, versucht er es, und ich träume, er schüttelt jedoch den Kopf und öffnet die Augen wieder, weil er weiß, dass man sich so eine Scheiße gar nicht ausdenken und nicht träumen kann. Und blinzelt.
Bernd Hebel hat keine Alpträume.
Geschreddert, denkt Bernd Hebel. Der Typ sieht aus wie durch einen Schredder gezogen. Ohne in seine Einzelteile zerlegt worden zu sein. Oder er ist nachher wieder zusammengesetzt worden.
Eben lag ich doch noch im warmen Bett. Alleine zwar, aber es war gemütlich. Zumindest das. Und warm. Plötzlich fröstelt ihn. Er schüttelt den Kopf und mit ihm den Traum, den er nicht geträumt hat. Schade. Denkt er, wirklich schade. Kim hat im Auto wirklich neben ihm gesessen. Er hatte sie abgeholt.
Er seufzt.
Er schaut sich um. Nur allzu Bekanntes und allzu Bekannte. Kein Traum. Und leider auch kein Alptraum.
Dr. Wilder ist mit der Leiche beschäftigt. Er war mal wieder schneller. Wie immer. Der sitzt vermutlich angezogen und mit seinem Köfferchen im Sessel zuhause und wartet, dass das Telefon klingelt. Tag und Nacht.
Hat der nicht letztes Mal schon diese Hose angehabt? Den Mantel kennt er ja schon. Vermutlich hat er nur diesen einen oder diesen einen gleich mehrmals.
Er schreckt nicht einmal mehr auf, wenn endlich das Telefon klingelt.
Vielmehr sehnt er das Klingeln herbei, vielleicht lässt er es auch klingeln ... er bringt es dazu, endlich zu klingeln ...
Dann steht er auf, nimmt seinen Koffer und verlässt das Haus. Nicht eilig, aber zügig. Froh, etwas zu tun zu haben. Bernd weiß nicht einmal, ob Dr. Wilder Familie hat, eine Frau, Kinder. Großes Fragezeichen. Nur ein großes Fragezeichen. Wem erzählt er eigentlich, was er sieht, wenn er seine Leichen untersucht hat? Das muss er doch irgendjemandem erzählen, außer seinem Diktafon, natürlich. Wohin nimmt er das, was er sieht und fühlt, mit? Ins Grab? Er hat ihn noch nie ein Bier trinken sehen.
Muss ihn bei Gelegenheit mal fragen. Ja, ich frage ihn mal. Denkt Bernd Hebel.
Aber er ist zuverlässig. Er hat Bernd noch nicht beachtet, auch wenn er weiß, dass er dort steht und ihn beobachtet. Er blendet Unwichtiges aus. Bernd ist im Moment unwichtig. Er hat einfach alles ausgeblendet. Dr. Wilder wirkt fasziniert. Wie sonst auch. Wie immer, jedes Mal. Beeindruckt, aber nicht mehr schockiert über das, was er zu sehen bekommt, vertieft in das, was vor ihm liegt. Vielleicht hin und wieder enttäuscht darüber, dass es immer wieder dasselbe ist. Nichts Außergewöhnliches mehr. Abgetaucht in die Fakten: Eine Leiche. Das ist seine Arbeit: Leichen. Und was sie zu sagen haben. Selbst das fehlende Gesicht der Leiche hat ihn nicht aus seiner Ruhe schrecken können. Eine Hand liegt unter der Wange des Mannes, oder unter dem, was einmal die Wange eines Mannes war. Die andere streicht Haare aus dem Gesicht. Dr. Wilder sieht genau hin.
Diese Geste wirkt fast zärtlich.
Vorangeschrittene Verwesung? Tiere? Würmer, Ameisen, Maden?
Spricht sie gerade zu ihm?, fragt sich Bernd Hebel. Er lauscht. Ich höre nur: Ich würde gern noch leben. Ich hatte große Schmerzen zu erleiden.
Man könnte den Eindruck haben, dass er eine persönliche Beziehung zu der Leiche aufgebaut hat. Fast liebevoll ist er über den Leichnam gebeugt und schaut ihn sich an. Kurz davor, ihn zu streicheln. Ja, es hat wirklich etwas Zärtliches an sich, die Szene, die Bernd Hebel beobachtet. Herzzerreißend.
Begrüßen sie sich oder verabschieden sie sich?
Ob er eine Erektion hat?, fragt sich Bernd Hebel und wendet sich ab. Du bist so ein Vollidiot, denkt er.
Bevor es noch schlimmer wird. Schaut sich Bernd weiter um.
Blitzlichter. Absperrband. Streifenwagen. Ein Leichenwagen. Das übliche Programm.
Als würde es hier etwas abzusperren geben. Grenzen sind hier bereits überschritten worden.
Er lauscht.
Es ist noch immer eigenartig still, hier, am Morgen, im Wald. Es ist noch früh, so früh. Trotz der vielen Menschen hier. Als schlucke der Wald die Geräusche, die menschlichen Geräusche. Er verschluckt einfach die Menschen, die sich hier hinein wagen, als seien sie gar nicht da. Als wäre nur der Wald. Der Wald. Er allein. Nur der Wald. Und die Menschen gehören nicht hierher. Der Wald verschluckt die Menschen, die in ihn eindringen, die hier abgelegt werden, irgendwann sind sie weg. Spurlos. Der Boden zieht sie in sich hinein. Alles wird eins. Erde und Staub. Verwesung. Und Erneuerung. Der ewige Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt.
Er schaut wieder zu Dr. Wilder und seiner Leiche.
Wie nah kann der eigentlich einer Leiche kommen? Denkt Bernd. Keine Schamgrenzen. Die totale Intimität. Dr. Wilder schaut, sieht, riecht und hört. Und schmeckt? Und spricht leise in sein Diktafon. Damit er beide Hände frei hat, hängt es mit einer Kette um seinen Hals.
Wie krank muss man eigentlich sein, überlegt Bernd Hebel, ohne bei diesem Anblick zu kotzen? Und er sieht, wie Dr. Wilder eine Hand der Leiche anhebt und sich offenbar die Finger genauer anschaut.
Als wolle er der Leiche einen Handkuss geben!
„Scheiße!“, brummt Bernd Hebel vor sich hin. „Scheiße!“ Ohne wirklichen Adressaten.
Und das heute. Aber warum eigentlich nicht heute? Was ist heute anderes als an anderen Tagen? Nichts. Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Denn es ist nie so, wie man es sich vorgestellt hat. Es ist immer anders.
„Was für eine Scheiße!“, sagt er laut. „Was für eine widerliche, Gott verdammte Scheiße.“
Die Stille löst sich auf, das Vakuum ist zerbrochen.
Bin ich dafür heute Morgen aufgestanden?, fragt er sich. Und wiederholt: „Scheiße!“
Dr. Wilder hebt den Kopf. Grinst. Oder lächelt. Freudlos. Er weiß bereits mehr als Bernd Hebel.
„Das kannst du wohl mal laut sagen“, sagt Dr. Wilder. Und er schaut Bernd an als erwarte er, dass er jetzt endlich anfängt zu kotzen.
Dr. Wilder erhebt sich seufzend, geht ein paar Schritte und setzt sich auf einem Baumstamm. Er greift hinter sich und hat eine Thermoskanne in der Hand. Er schraubt den Deckel ab, der ein Becher ist, drückt oben auf die Kanne und schenkt sich ein und nimmt einen Schluck. Hält inne. Schließt die Augen. Und schluckt. Der heiße Dampf steigt vor seinem Gesicht in die Höhe. Er öffnet die Augen. Er starrt vor sich hin. Und schüttelt unmerklich den Kopf. Ganz langsam.
Bernd Hebel hat in seinem Leben schon eine Menge Scheiße gesehen. Doch das, was er gerade sieht, ist auch für ihn neu. Anders als alles bisher Dagewesenen. Und, das hofft er nicht zum ersten Mal, einmalig und nicht zu überbieten. Er ist seit über zehn Jahren beim LKA. Er dachte, dass er sich über nichts mehr wundern würde. Er dachte bisher, dass er sich über das, was ein Mensch einem anderen Menschen antun kann, aus welchem Grund auch immer, nicht mehr wundern würde. Er dachte bisher, dass ihn nichts mehr aus der Fassung bringen könnte. Nichts.
Bisher.
Doch es gibt sie, immer und immer wieder, weiterhin, die extremen Ausnahmesituationen, die Menschen in den Abgrund oder in den Wahnsinn treiben. Deswegen ist er hier. Wenn er gerufen wird, geht es um die extremen Auswüchse der zwischenmenschlichen Beziehungen. Und ihre Auswirkungen. Es herrscht Krieg. Immer und immer irgendwo. Zwischen den Menschen.
Aber, ja, es geht noch mehr, und merkwürdiger, denkt er und bewahrt die Fassung. Eine Million und eins. Eine Million und zwei ... und dann? Eine Million und drei.
Es wird bleiben, das Bild, das sich ihm hier bietet, wird in seinem Kopf bleiben, er sieht es, er weiß es. Er wird es sich merken, auch wenn das Bild nicht würdig ist, nicht wert ist, gemerkt, erinnert zu werden. Mit Würde hat das hier nichts zu tun. Das, was Bernd sieht, entbehrt jeder Würde.
Er blinzelt.
Vielleicht verschwindet es, denkt er. Blinzelt noch einmal. Nein. Es bleibt.
Ich bin wach. Definitiv. Mist.
„Was hast du getan?“, fragt er, „was hast du getan, dass man dir das angetan hat.“
Es gibt immer einen Grund.
„Du hast jemanden geärgert. Warst du böse? Warst am Ende du der Böse?“
Es hat bisher immer einen Grund gegeben. Immer.
„Wer macht so was nur?“, wiederholt sich Bernd.
„Besser: Wie macht man so was?“, korrigiert Kim. „Und wo?“
Er zuckt nicht einmal zusammen.
Sie steht neben ihm. Plötzlich, und ja. Endlich. Er dreht den Kopf zu ihr. Er hat nicht gehört, wie sie gekommen ist. Aufgetaucht wie aus dem Nichts, vom Himmel gefallen, hat sie sich lautlos materialisiert, wie ein wahr gewordener Traum. Neben ihm aufgeschlagen ohne Lärm zu machen.
„Hier“, sagt sie, „hat das nicht statt gefunden. Hier nicht.“
Sie schleicht sich an wie eine Katze, denkt Bernd Hebel. Sie hat etwas Katzenhaftes an sich. Leise. Geheimnisvoll. Egoistisch. Eigensinnig. Er registriert seine Reaktion auf ihre Anwesenheit: Ein Ziehen in der Lendengegend. Selbst hier. Freude. Erleichterung. Sie ist da. Er lächelt. Blöde vor sich hin. Morgens ist er besonders empfindlich und empfänglich. Er reagiert auf sie, schon seit langer Zeit. Die Umgebung ist vollkommen egal, er reagiert.
Ob sie es weiß?, fragt er sich. Ob sie es ahnt? Spürt sie es, wenn und wie ich reagiere?
Sie schaut ihn nicht an. Starrt die Leiche an. Schluckt. Nickt Dr. Wilder zu. Der hebt zum Gruß seinen Becher.
Er hat auch sie längst akzeptiert, nein, er hat sie anerkannt. Er erweist ihr auf seine Art Respekt. Doktor Wilder hat schnell gemerkt, dass und wie gut sie ist.
Kaffee, denkt Bernd Hebel. Kaffee. Zivilisation. Eroberung. Kolonisation. Kaffee. Konquistadoren ... Gemetzel, Plünderung, Christianisierung. Gold. Und endlich: Tod. Überall Tod.
„Geh schon mal vor“, hat Kim vor ein paar Minuten gesagt. Im Auto. Sie blieb sitzen.
Sie wirkte unruhig. Irgendetwas beunruhigte sie. Hier. Machte sie nervös. Im Wald. Er hat sie angeschaut, sagte aber nichts, stieg aus und ging los. Drehte sich nur kurz um. Sie starrte nach vorn. Schien ihn gar nicht mehr wahr zu nehmen. Der Wald. Kurz nachdem sie in den Wald gefahren waren, wurde sie still, schweigsamer als sonst.
Der Körper vergisst nicht. Niemals, er erinnert sich.
Sie redet ohnehin nicht viel. Sie verstehen sich auch so. Gut. Er ist auch kein Mensch der großen Worte. Sie schaut und sieht. Und deutet mit ausgestrecktem Arm oder einem Nicken. Hebt die Augenbrauen, kurz.
Und wurde unruhiger. Im Auto. Legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Atmete ruhig. Aber konzentriert. Zu konzentriert. Kein gutes Zeichen.
Wer sich auf seine Atmung konzentrieren muss, dachte Bernd im Auto, der hat ein Problem. Sie achtete auf ihre Atmung. Er war klug genug, nicht zu fragen.
Mit dem Wald?, fragt er sich jetzt. Hat sie ein Problem mit dem Wald? Und was in ihm passieren kann? Was ist ihr im Wald passiert?
Sie trägt etwas mit sich herum.
Das weiß er. Wie er auch. Sie trägt Erinnerungen mit sich herum. Ihr Körper. Erinnert sich.
Er spricht zu ihr. Der Wald, er spricht auch zu ihr. Sie fühlt es. Sie hört ihn, den Wald, sein Flüstern, seinen Atem, die Stille und die Dunkelheit. Ewige Dämmerung. Der Wald lebt und verbirgt. Im Zwielicht. Sie riecht es. Er ruft sie. Ihren Namen.
Sie musste den Weg vom Auto zum Fundort allein zurücklegen. Das musste sie. Sie hätte keine Nähe ausgehalten, geduldet. Niemals. Aber. Sie hat es geschafft. Allein. Ganz allein. Sie steht im Wald, zwischen den Bäumen und Büschen, den Waldboden unter ihren Schuhen und atmet ruhig ein und aus. Sie hat es geschafft. Sie atmet. Schließt die Augen. Kurz. Und sie riecht es. Sie riecht den Tod. Die Vergänglichkeit. Sie riecht die Angst, die Vergänglichkeit und das Leben. Im Wald geschehen schreckliche Dinge.
Sie öffnet die Augen.
Jetzt sieht sie die Leiche. Und kann sich konzentrieren.
Weil er neben ihr steht.
Jetzt steht sie neben ihm. Endlich. Ihre Arme berühren sich. Er spürt ihre Nähe. Sie ist angespannt. Er hört es und er spürt es.
Es ist der Wald, vermutet er, ja, der Wald. Der Wald verändert die Leute. Der Wald macht aus den Menschen ... andere ... Menschen. Offenbart das Andere im Menschen, das Animalische.
Bernd Hebel hebt den Kopf. Er schaut sie an. Kim Schmied, seine scharfsinnige und, ja, scharfe Kollegin, hat Recht. Wie so oft.
Es hat nicht hier statt gefunden.
Er schaut sie gern an. Er mag sie. Und mehr. Er sieht sie. Und merkt, dass er doch noch lebt.
Lange, glatte und, ja, schwarze Haare. Zu einem Zopf zusammengebunden. Asiatische Züge. Ihre Mutter. Ihre Mutter ist Thai. Heißt auch Schmied. Sieht merkwürdig aus. Wenn sie sich vorstellt. Aber es ist dann sofort alles klar. Denken sie. Die sie dann anschauen. Und meinen alles zu wissen. Kim wurde hier geboren. Perfektes Deutsch. Soviel weiß er, über ihren Vater schweigt sie sich aus. Vermutlich einer, der im Katalog bestellt hat. Vielleicht hat er sie auch persönlich abgeholt. Ihm ist das egal.
Bernd schaut sie wieder einmal zu lange an. Von der Seite. Er schaut sie oft an, zu lange. Ihr Profil. Weiche, glatte Gesichtzüge. Samtene Haut. Grübchen, Stupsnase. Selbst wenn ihr Erzeuger ein Touristen-Arschloch ist, der seinen Urlaubsfick mit nach Hause genommen hat. Oder ein Kinderficker.
Bernd sieht Kim gern an, hat sie gern an seiner Seite, nicht nur, weil sie eine hervorragende Ermittlerin ist. Seit drei Jahren steht, kniet, denkt und rennt oder hockt sie an seiner Seite. Und sieht, was er sieht und noch mehr. Ja, er muss das zugeben. Sie sieht oft mehr als er.
Der Touristen-Erzeuger hat wenigstens das richtig gemacht. Denkt Bernd. Kim ist richtig. Vielleicht hat das alles ja doch eine Bedeutung. Sich in Thailand eine Thai zu krallen. Für ihn hat es in diesem Moment eine Bedeutung. Sie steht neben ihm und er kann sie anschauen und sich an ihrem Anblick freuen. Aber nicht satt sehen. Er wird hungrig. Gierig. Ja. Was soll er machen? Er konnte sich noch nie belügen. Andere ja, aber sich selbst nicht. Er hat Hunger und ist nicht satt. Der Körper lügt nicht und lässt sich nicht verarschen.
Hebel, ermahnt er sich, halt doch einfach mal die Fresse. Halt doch einfach die Fresse. Einmal, jetzt. Versau es nicht. Dieses eine Mal!
Sie kann auch gut mit der Waffe umgehen.
Bernd schmunzelt. Es kribbelt. Nicht nur auf der Haut.
Mein Gott, Hebel. Wenigstens habe ich keinen Ständer wegen der Leiche. Ha!
Ja, denkt er, wir sind verliebt. Irgendwie. Jedenfalls. Er vermutet, dass sie auf Frauen steht. Nicht verheiratet, genauso wie er, keine Kinder, wie er. Fünf Jahre jünger. Sie verstehen sich einfach zu gut. Sie kann einfach nicht auf Männer stehen. Dafür verstehen sie sich zu gut. Frauen, die sich mit Männern verstehen, stehen nicht auf Schwänze. Frauen, die mit Männern reden, stehen nicht auf Schwänze.
Oder ist sie Vegetarierin? Die nehmen doch auch kein Fleisch in den Mund ...
Du Vollidiot.
Oder es ist ihr Vater, diese Drecksau. Wer in Thailand einkaufen geht, nimmt sich auch schon mal die eigenen Erzeugnisse. Da wird nicht groß unterschieden und lange gefackelt. Ist ja nur Ware. Fleisch. Menschliches, warmes, williges oder unwilliges Fleisch, egal. Und dazu noch unbenutzt. Eng und weich, straff und unberührt. Ach!! Eine Muschi halt, eine Fotze. Die sich manchmal auch wehrt. Am Anfang zumindest, hat auch seine Reize. Wenn sie sich wehren.
„Ja, komm, wehr dich, das macht mich an ...! Ich mag es, wenn du dich wehrst.“
Scheiße Hebel! Was ist bloß los mit dir? Halt jetzt die Fresse! Jetzt. Konzentrier dich! Selbst Schuld, hättest ja etwas frühstücken können.
Er schüttelt sich und die Bilder von sich ab.
Er hat zu viel gesehen und sich zu viel anhören müssen. Der Respekt vor seinen Mitmenschen hat gelitten. Das, was denkbar ist, hat er bereits gesehen. Wenn er das Unwahrscheinliche streicht, bleibt das Unmögliche ... und wird zum Möglichen ... Er hat es gesehen.
Sie hat Recht. Kim. Wieder einmal.
Wie macht man so was? Ist eindeutig die bessere Frage. Denkt er. Konzentriert sich. Nächster Versuch. Wie kann man so was nur machen? Wie hält man es aus, so was mit einem Menschen zu tun? Wie hält man die Schreie des Menschen aus, dem man so etwas antut? Indem man sich die Ohren zuhält? Oder? Oder will man die Schreie dann auch hören? Wenn man es tut. Während man es tut? Tut man es deswegen? Wegen der Schreie? Hat er sich an den Schmerzen geweidet, an den Schreien? Tut man es, um ihn schreien zu hören? Nicht: Schrei, wenn du kannst, sondern: Schrei, weil ich es will? Weil ich es so gern höre. Deine Schreie. Macht mich das an? Hm?
Es ist das einzige, was du noch tun kannst, also schrei!
Das macht mich wahnsinnig geil!
Schrei!
Lauter!
Schrei!
Das ist geil!
Ja! Ja! Ist das geil!
Ein Schrei für einen Ständer!!
Schrei! Und ich fick dich. Ich fick dich. Und du schreist!
Ich komme, weil du schreist!
Es wird das Letzte sein, was du in deinem verfickten und beschissenen Leben hören wirst! Deinen eigenen Schrei! Und mein Lachen! Du schreist, bettelst und winselst um dein Leben. Oder um den Tod! Das tun sie alle, am Ende schreien sie und betteln, sie würden alles tun. Alles! Nur um am Leben zu bleiben. Oder damit es endlich vorbei ist. Gelegentlich ist der Tod besser als weiter zu leben.
Und ich lache. Oder ejakuliere! Oder beides. Ohne Berührung. Einfach so. Du schreist und ich komme, ich spritze ab, dir mitten ins Gesicht. Ist das geil, Mann! Du zuckst und stirbst.
Dein Schrei. Mein Lachen und mein Saft in deinem Gesicht sind das Letzte in deinem Scheißleben, was du siehst und hörst.
Hebel schüttelt den Kopf.
Ich mach das schon viel zu lange. Ganz eindeutig. Das müssen die ersten Anzeichen dafür sein, dass es Zeit ist, auszusteigen.
Was ihn stutzig macht ist die Tatsache, dass es sich um einen Mann handelt.
Frauen tun so was nicht. Nicht, dass sie nicht abspritzen, das gibt es schon, nein, sie wollen Männer so nicht schreien hören, oder? Und dabei abgehen!
Schlächter und Psychopathen sind meistens oder immer? Männer! Monster! Vielleicht mal ein Pärchen. Oder der Nachbar von nebenan, der nette Nachbar, der immer so freundlich grüßt. Manchmal der Schwiegersohn. Und im Winter sogar den Schnee vor der Tür wegräumt. Oder die Mülltonne reinstellt.
Und im Keller haben sie dann einen Bereich, in dem sie ein Eigenleben führen. Nach ihren Regeln. Einen eigenen Hobbyraum.
„Da muss jemand ziemlich außer sich gewesen sein“, murmelt Bernd.
„Und vielleicht warum?“, ergänzt Kim.
Bernd schaut sie an.
„Warum tut er so was?“, fragt Kim.
Bernd nickt.
„Da muss jemand richtig wütend gewesen sein“, sagt Kim.
„Sehr wütend.“
„Oder“, sagt Dr. Wilder und räuspert sich, „oder hier hatte jemand richtig seinen Spaß.“
Dr. Wilder kniet wieder neben der Leiche, neben dem, was vermutlich einmal ein Mensch gewesen ist. Das, was eben vom Leben übrig bleibt. Wenn man sich nicht vorsieht. Wenn man in die falschen Hände gerät. Viel ist es nicht, was übrig bleibt, ein Haufen Knochen und Fleisch. Haut und Haare. Ein verwesender Klumpen. Keine Würde. Nichts. Vollkommene Bedeutungslosigkeit. Belanglos. Tot ist jeder Mensch nur ein Körper. Ein Klumpen Fleisch und Knochen. Eine seelenlose und geistlose Hülle. Unbedeutend. Ohne Kontext. Und wartet auf die Zersetzung, die Verwesung. Die fängt kurz nach dem Tod an. Fast sofort. Leben und Tod. Nur ein Wimpernschlag voneinander entfernt. Dann übernehmen Bakterien die Regie und Insekten, Larven und Maden. Zersetzung. Wiederverwertung.
Zack!
Leben. Tod. Verwesung. Zerfall.
Bernd denkt an die Bilder. Die Bilder, die er in einem Buch über den 2. Weltkrieg gesehen hat. Als Jugendlicher hat er sich dafür interessiert. Er weiß nicht mehr warum. Faszination. Die Frage nach dem Sinn. Pubertät. Keine Ahnung? Schaulust? Neugierde? Unverständnis? Grusel?
Die Bilder haben sich eingeprägt, eingebrannt, gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Merkwürdig, was sich das menschliche Hirn merken kann. Eben das Merkwürdige. Entstellte Leichen. Ohne Würde, ohne Persönlichkeit, anonym, in Fetzen gerissen. Platt gewalzt von Panzerketten. Ausgeweidet. Stranguliert. Vergewaltigt. Enthauptet. Entmannt. Verstümmelt, abgerissene Gliedmaßen. Dokumente der Entmenschlichung, der Grausamkeit.
Aber dafür brauchen wir keinen Krieg. Nein. Leichen zeigen uns unseren Platz und unsere Bedeutung im Universum. Wenn wir die Tür erst einmal geöffnet haben, ist es zu spät. Sie lässt sich zwar wieder schließen, aber das, was wir hinter ihr gesehen haben, begleitet uns, immer, für immer, überall hin. Und der Raum hinter der Tür wird immer größer. Die Regale voller.
Da passt viel hinein, denkt Bernd.
Nur Knochen und Fleisch. Sonst nichts. Keine Bedeutung. Keine Erinnerung. Keine Namen. Keine Gesichter. Fast schon eins mit der Umgebung, in denen die Leichen zu sehen waren. Am Ende werden wir zu dem, woraus wir gemacht sind. Erde. Gehen dorthin, woher wir gekommen sind. In die Ewigkeit. Weg. Und sind verschwunden. Vergänglich. Vergangen.
Und die Seele?, fragt er sich. Hoffentlich weit weg, damit sie sich das hier nicht angucken muss. Hier wäre es besser. Wenn die Seele blind aus dem Körper tritt und empor stieg. Ohne sich umzuschauen. Endlich frei, zu tun, was sie tun will, wozu sie bestimmt ist.
Wozu ist sie bestimmt?
Ist meine Seele dazu bestimmt, sich diese Scheiße anzuschauen? Muss ich ihr das antun? Oder will sie sich das am Ende antun?!
Wie hier. Die Verwesung ist noch nicht weit vorangeschritten, aber der Körper ist auf dem besten Weg eins mit der Natur zu werden. Asche zu Asche. Staub zu Staub. Irgendwann ist er weg. Wie wir alle. Aufgesogen. Einverleibt. Aufgelöst. Viel bleibt nicht übrig. Die Natur, die Erde holt sich zurück, was ihr gehört.
Zurück zur Natur! Denkt Bernd Hebel. Hat das Rousseau so gemeint? Wohl kaum.
Aber, und deswegen ist Bernd hier, jede Leiche erzählt eine Geschichte. Immer. Bernd ist ein guter Zuhörer, er mag Geschichten. Diese Leiche erzählt aber keine lustige Geschichte. Hier hat niemand gelacht. Soviel ist sicher. Das weiß Bernd Hebel. Die Leiche spricht zu ihm. Sie sagt ihm, dass niemand gelacht hat. Niemand.
Hier ging es nicht um Spaß. Hier ging es um etwas anderes. Etwas Persönliches.
Rache?
Rache!
Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit.
Bernd schließt die Augen.
Es war etwas sehr Persönliches, denkt Bernd Hebel. Sehr persönlich.
Was hast du getan?, fragt er sie, die Leiche. Was hast du getan, dass jemand, Bernd zögert, dass sie so böse auf dich waren?
Bernd und Kim schauen Dr. Wilder an. Und wissen, dass er trotzdem Recht haben kann. Hier könnte auch wieder einmal jemand seinen Spaß gehabt haben. Eine Menge Spaß. Und er hat sich Zeit gelassen, auch mit dem Lachen. Wenn, dann hat nur einer gelacht, der Wahnsinn.
„Vollkommen irre“, sagt Bernd.
Kim nickt. Er sieht es, Bernd sieht, wie sie nickt. Und er sieht, wie ihre Mundwinkel zucken. Ihre Augenlider flattern. Sie kämpft.
Es lässt sie nicht kalt. Gott sei Dank, denkt Bernd, es lässt sie nicht kalt. Noch nicht. Es dauert noch an. Wie lange wohl?
Er will sie in den Arm nehmen. Er spürt diesen Impuls. Immer wieder. Nicht nur, um sie zu trösten, um ihr Halt zu geben.
Er hat den Punkt schon überschritten. Er sieht nur noch. Registriert, inventarisiert und legt ins Regal. In das große Regal hinter der Tür. Das große Regal der anderen Seite des Menschen. Die böse Seite. Die in jedem von uns steckt. In jedem. Die böse Seite. Auch in ihm steckt sie. Er unterhält sich mit ihr, er hat sie im Griff ... noch ...
Sie stehen im Wald. Mitten im Wald. Und sie fühlen sich auch so. Sie gehen um die grausam zugerichtete Leiche herum. Sie bewegen sich nahezu synchron, berühren sich an den Schultern.
„Hat sie so dagelegen?“, fragt Kim.
Okay, denkt Bernd, jetzt geht es los. Jetzt geht es endlich los.
„Ja, wir haben nichts verändert.“ Sagt Dr. Wilder.
Das tun sie nie. Sie warten immer. Auf ihn, der die Fragen klären muss: Wer? Warum? Wie? Und auf Kim. Dr. Wilder hatte auch den Kopf wieder so platziert, wie er ihn vorgefunden hatte.
„Irgendwelche Anzeichen, Hinweise? Sollen wir irgendetwas sehen? Wie die Leiche liegt, oder so was?“, fragt Kim. „Das sieht hier“, sie schluckt, „das sieht nach einer besonderen Arbeit aus. Sollen wir etwas sehen?“
„Auf den ersten Blick nicht“, sagt Dr. Wilder.
„Keine Rätsel?“, fragt Bernd.
„Sieht nicht so aus. Einfach nur abgelegt. So wie sie hier liegt, wurde sie einfach abgelegt. Und zwar nicht sehr originell.“ Er räuspert sich. „Keinerlei Kreativität.“
Er scheint etwas enttäuscht zu sein.
„Hier gibt’s nichts zu lesen“, seufzt er, „leider. Nur die Leiche.“
Fast klingt er enttäuscht, aber nicht, weil es nichts zu lesen gibt, sondern weil es so keine echte Herausforderung ist. Eine Leiche ist für ihn keine Herausforderung. Eine Leiche mit einer Botschaft ist schon eher nach seinem Geschmack.
Ist die Leiche die Botschaft?, fragt sich Bernd.
Bernd macht einen Schritt nach rechts, dreht den Kopf. Legt ihn zur Seite, um die Perspektive zu ändern. Nein, nichts, es fällt nichts auf. Auf den ersten Blick. Der ist wichtig. Killer sprechen durch ihre Taten, durch den Zustand der Leichen sprechen sie zu dem Ermittler. Das hier ist nicht im Affekt passiert. Kein Aussetzer. Kein spontanes Töten. Der Zustand der Leiche erzählt ihre Geschichte. Oder seine, die des Täters. Oder der Täter.
Leck mich, denkt Bernd, leckt mich doch einfach am Arsch. Wer war hier das größere Schwein? Die Leiche oder der Täter? Da war jemand wütend. Was hast du getan? Dass jemand so sauer auf dich war? Sags mir! Komm sprich zu mir. Was hast du nur getan?
Liegt einfach nur da. Denkt Bernd weiter. Abgelegt. Entsorgt. Unpersönlich. Aber irgendwie friedlich.
Sollte entdeckt werden. Denkt er.
Er schaut zu Kim. Sie zuckt mit den Schultern. Sieht auch nichts. Aber nicht, weil sie nichts sieht, sondern weil ihr nichts entgeht.
Bernd hebt den Kopf. Schaut nach oben.
„Es ist so ... still ... hier.“ Er dreht sich im Kreis. „So still.“ Er schließt die Augen. Riecht den Wald. Frisch und vermodert zugleich.
Leben und Tod, denkt er, nebeneinander, ineinander verwoben. Aufeinander angewiesen. Tod und Leben. Anfang und Ende. Geben und Nehmen. Ewiger Kreislauf.
Dein Grab ist der Wald, denkt Bernd. Der Wald ist ein Grab.
Kim folgt seinem Blick und seiner Geste. Und lauscht.
„Diese Stille“, sagt sie, „diese Stille kann einem Angst machen ... so was gibt es in Berlin doch gar nicht mehr.“ Sie denkt nicht nur an Berlin. Kann es nicht verhindern ...
... es knackst. Sie zuckt zusammen. Einer der Beamten, die das Gelände absuchen ist auf einen Ast getreten. Er zerbricht.
Sie kann es nicht verhindern ...
... es kommt. Schneller und wuchtiger als sie gedacht hätte.
Still! Denkt sie. Sei still. Sag nichts. Sag bloß nichts. Sonst bist du tot. Keine Bewegung. Keinen Laut.
Dr. Wilder schaut auf und schüttelt den Kopf. Er kennt das ja schon. Was für Vögel, denkt er.
„Nein“, sagt Bernd. Nicht einmal in den Träumen, denkt er. Nicht einmal in den Träumen ist es so still.
„Nur das Rauschen der Blätter.“ Sagt sie und schließt die Augen. „Der Wind. Der Atem der Bäume.“
... es ist da. Packt sie. Nimmt sie mit. Sie wehrt sich nicht. Weil sie sich sonst verraten würde. Sie will nicht gefragt werden.
Sie folgt den Bildern, der Erinnerung, allein im Wald zu sein.
Allein und sicher.
... sie rennt durch den Wald. Lacht. Springt über einen Baumstamm. Stolpert. Fängt sich. Läuft weiter. Sie ist wieder ein Kind. Ein kleines Mädchen. Vielleicht zehn Jahre alt. Sie lief gern durch den Wald. Allein. Es gab eine Zeit als Kind, da lief sie gern durch den Wald. Sie und der Wald. Der Wald und sie. Sie freute sich, genoss den weichen Waldboden, die Geräusche und das Licht. Den Geruch und die Schatten. Den Duft. Breitete die Arme aus, lauschte ihren Schritten auf dem weichen Waldboden. Lauschte den Zweigen, dem Wind, den Vögeln und dem Boden. Und ihrem Atem. Bemühte sich lautlos zu sein. Legte sich auf den Boden, das Gesicht ins weiche Moos gepresst, bis sie kaum noch Luft bekam. Roch den Wald. Sie roch das Leben, das werdende Leben im Wald, damals roch sie noch das Leben in ihm. Drehte sich um, auf den Rücken und schaute durch die Äste, Zweige und Blätter hindurch in den blauen Himmel. Bis sich der Atem wieder beruhigte. Licht und Schatten. Schatten und Licht, wenn die Sonne mit den Blättern spielte. Hindurch drang, zu ihr hinunter auf den Waldboden. Ihre Nase kitzelte. Sie streichelte. Warm und zärtlich ihre Haut berührte, ohne sie anzufassen. Die Sonne. Sie berührte sie, tat ihr aber nicht weh. Nein, nicht die Sonne tat ihr weh. Die Sonne erreichte sie ohne sie zu berühren. Und wärmte oder kitzelte sie, angenehm auf der Haut. Die Sonnenstrahlen streichelten sie.
Dann hörte sie das Knacken. Schritte. Zweige knackten. Dumpfe Schritte. Ihr Körper spannte sich an. Instinktiv. Sie hob den Kopf, drehte ihn etwas und sah die Bewegung. Den Schatten. Sie erkannte ihn. Sofort. Und sie spannte sich an ...
Nur nicht auffallen, dachte sie, nicht bewegen. Nicht auffallen, er darf dich nicht sehen.
Wie konnte er mich nur finden? Ich war doch still, ich habe mich doch nicht bewegt. Und doch ...
Werde zum Wald, dachte sie, sei der Waldboden. Das Laub, ein Ast. Der Wind oder das Rauschen des Windes in den Blättern. Sonst kommt er und berührt dich. Und du berührst ihn. Auch wenn du es nicht willst. Er will es. Er will, dass du ihn berührst. Und er will dich berühren. Lieb sein. Er will immer lieb sein, so sagt er. Lieb. Und dann soll sie lieb sein. Lieb sein zu ihm.
„Ich bin doch auch lieb zu dir“, flüsterte er, „lieb“ und röchelte atemlos. Stöhnte widerlich und seufzte, Speichel tropfte von seinen Lippen.
Die Schritte kamen näher. Sie hörte seinen Atem. Dumpfe Schritte auf dem Waldboden, der nicht alles verschluckte. Sie hatte gelernt zu hören. Und zu ahnen. Stimmungen zu spüren. Erregung und Gier zu wittern.
Er hatte sie gefunden.
Sie hasste den Wald.
„Kim“, rief er flüsternd. „Kim, komm! Komm her zu mir.“
Sie hasst den Wald. Noch immer. Und immer wieder.
„Sei still“, flüsterte er, „sei still“, und legte seine Hand auf ihren Mund.
Sie zappelte, bekam keine Luft. Panik. Angst, bekam immer weniger Luft. Zappelte mehr. Strampelt mit den Beinen. Doch das Gewicht seines Körpers war zu groß. Einem Riesen gleich. Es war ein Riese. Ein riesiger Dämon. Er war ein Riese. Kein Dämon in ihr, sondern ein Dämon auf ihr ... und dann doch, ja, in ihr ... und diese Schmerzen ...
„Schsch, sei still, sei brav, sei ein liebes ... Mädchen ...“, flüsterte er, und stöhnte schon, wie immer, bemüht sanft und zärtlich zu sprechen, doch sie hörte den Dämon in seiner Stimme. Und er zerrte an ihren Sachen. Zerrte an ihr. Ungeduldig. Gierig. Der Dämon war gierig.
Dass es wehtat. Bis es wehtat. Er zerrte an ihr.
Sie musste würgen, bekam kaum Luft. Zitterte.
„Nein, du brauchst keine Angst zu haben, schsch, ich bin ganz lieb. Hab ... keine ... Angst ... ich tu dir nicht weh ...“ Stöhnte er.
Sein Atem roch.
Seit dem ist sie auf der Suche. Deswegen ist sie Polizistin. Weil sie auf der Suche ist, weil sie es verstehen will. Wenn es denn etwas zu verstehen gibt.
„Kein Wort“, sagte er und atmete schwer und schaute sich um, „kein Wort, zu niemandem.“ Seine Augen zuckten nervös hin und her, danach. Er schaute sie nicht an. „Zu niemandem, sonst kommen sie dich holen. Und sie, sie wird weinen. Weil du so böse warst.“ Er schluckte, zog die Hose hoch, nestelte an seinem Reißverschluss, hektisch. „Du bist Schuld“, zischte er, „du bist schuld, weil du böse bist ... du bist schuld, wenn sie weint. Du Miststück, du kleine Hexe.“
Er lachte.
Sie spürt nicht einmal die Anwesenheit der beiden Männer, die in ihrer unmittelbaren Nähe stehen. Es fühlt sich an als hätte sie Watte in den Ohren oder einen Kopfhörer auf, der die Geräusche schluckt. Allein, und, sicher? Schritte, sie hört Schritte hinter sich, die näher kommen. Schnell. Schneller. Näher. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken. Dreht sich um. Und schaut in sein Gesicht.
Sie reißt die Augen auf. Hebt den Arm. Bereit.
„Nein!“, schreit sie.
„Was?“
Sie kennt das Gesicht. Sie kennt die Stimme.
Bernd. Ihr Kollege. Bernd.
Es ist nur Bernd. Denkt sie schnell. Erkennt ihn. Nur Bernd?
„Alles klar?“, fragt er. Und will bereits den Arm nach ihr ausstrecken, sie berühren.
„Ja.“
Sie weicht zurück. Instinktiv.
Und er sieht es in ihren Augen. Und lässt den Arm sinken. Er kommt nicht an sie heran. Noch immer nicht.
„Sicher?“
„Ich mag den Wald nicht“, flüstert sie und hasst sich dafür, es gesagt zu haben. Sie will das nicht sagen. Das geht niemanden etwas an. Niemanden. Sie will es nicht sagen.
Still!, denkt sie, sei still. Sei bloß still, sonst kommt der Schatten. Er holt sich, was böse war. Er holt dich, weil du böse warst. Und schmutzig. Der Dämon kommt und holt dich, er schneidet dich von oben bis unten auf und mästet sich an dir ... weil du böse warst. Er lebt, weil du böse warst.
Es ist nicht mir passiert. Sie war eine andere. Sagt sie sich und lächelt, versucht zu lächeln. Und schaut Bernd an.
Sie schaut sich um.
Bernd berührt sie nun doch an der Schulter. Und schweigt. Er will den Bann brechen, die Mauer zerstören. Sie lässt es zu. Er holt sie zurück.
Nur eine Geste, denkt sie, er meint es nur gut, es ist nur eine Geste. Freundschaftlich. Er ist ein Guter. Kein Schatten. Er ist kein Dämon. Der Dämon ist in mir. Ich ... bin ... der ... Dämon ...
„Scheiße!“, sagt sie.
Bernd nickt nur.
Und sie ist dankbar dafür, dass er nichts sagt.
Sie gehen zurück. Kim schaut sich um. Etwa fünfzig Meter entfernt von ihnen führt ein Forstweg entlang noch weiter in den Wald hinein. Der Weg hat sie hierher geführt. Er wird sie auch wieder fort bringen. Sie sieht den Wagen, mit dem sie gekommen sind. Er wird sie auch wieder fort bringen von hier, aus dem Wald hinaus.
Kim hält sich daran fest. Die Einsatzwagen der Spurensicherung und der Polizei sind stumme Zeugen der Zivilisation. Sie geben ihr Halt. Trügerische Sicherheit. Der Wald schluckt jedes Geräusch. Er hält vieles verborgen. Für sich.
Kim atmet tief durch. Ihr Herzschlag beruhigt sich. Der Wald schluckt das Geräusch. Und die Leiche vor ihnen. Übel zugerichtet.
Wir müssen uns beeilen. Noch kann sie zu uns sprechen.
„Sieh dir das doch mal an“, sagt Bernd und geht in die Hocke.
Weiter, denkt sie. Er hat Recht. Danke. Lass uns weiter machen.
Er braucht das eigentlich nicht zu sagen. Kim schaut. Sie sieht, was er sieht und sie riecht, was er riecht. Sie unterdrückt den Würgereiz. Schluckt. Und schmeckt Gallenflüssigkeit. Sie weiß, dass dieser Tag kommen würde. Eines Tages würde sie die Entscheidung, Polizistin zu werden, bereuen. Heute scheint dieser Tag zu sein.
Sie traut sich kaum zu atmen. Öffnet den Mund. Atmet flach. Es wird nicht besser. Sie kramt in den Taschen nach Kaugummi. Wird leider nicht fündig. Schluckt wieder.
Scheiße, denkt sie, gottverdammte Scheiße.
Es ist nicht die Leiche, sie weiß, dass es nicht die Leiche ist.
Sie beobachten sie.
Sie sieht sich selbst dort liegen, im Wald, auf dem Boden, hilflos, stumm. Und es tut weh, er tut ihr wieder weh. Es brennt so sehr, doch sie darf nicht schreien.
„Kein Laut!“, sagt er und sie ...
... schweigt und weint. Reist die Augen auf und schreit lautlos.
Wimmert nur und stöhnt ...
Ob das Eichhörnchen über ihr auf dem Ast sieht, was geschieht als es kurz inne hält, zu ihr hinunter schaut und dann blitzschnell forthuscht? Angewidert?
„Wie krank muss man sein, um so was zu machen und das auszuhalten? Der muss doch fürchterlich geschrien haben“, fragt Bernd.
„Nicht krank“, sagt Dr. Wilder. „Da wusste jemand genau, was er tat.“
„Folter?“, fragt Kim. Es geht.
„Mit großer Wahrscheinlichkeit.“ Dr. Wilder nickt. „Ja.“
„Fachmännisch?“, fragt Bernd. „Also jemand, der sich auskennt? Meine ich?“
„Kann ich nicht genau sagen. Zumindest hatte hier jemand Fantasie. Wenn ich das so sagen kann. Es wurde vermutlich improvisiert. Keine systematische Folter. Und“, er räuspert sich, „vermutlich mehrere Täter.“
„Warum?“, fragt Kim.
„Es gibt kein Muster. Keine Chronologie. Dem Toten sollten keine Geheimnisse entlockt werden. Er sollte gequält werden und dabei möglichst lange am Leben bleiben.“
Bernd nickt. Und schüttelt dann den Kopf.
„Männlich oder weiblich?“, fragt Kim. Sie muss sich sehr zusammen reißen.
Die Leiche liegt auf der Seite, die Beine angewinkelt. Das Gesicht ist so nicht genau zu erkennen. Halblange Haare. Nackt. Daneben eine Plastiktüte. Keine Kleidungsstücke. Zumindest nicht am Körper. Knochig.
„Männlich.“
„Sicher?“, fragt Kim.
„Ja“, sagt Dr. Wilder. „Auch wenn das eine oder andere, was da sein müsste, nicht dort ist, wo es sein müsste.“
„Im Klartext?“, fragt Bernd. Der sofort eine Ahnung hat. Er kennt Dr. Wilder schon ein paar Jahre. Ein guter Mann, ein einsamer, aber genauer Beobachter.
„Zum Beispiel: Sein bestes Stück haben wir in seinem Mund gefunden.“
„Autsch“, stöhnt Bernd.
„Komplett?“, fragt Kim.
„Sieht so aus. Es scheint noch alles da zu sein. Nur nicht da ...“
„Ist schon klar ... wo es sein müsste“, unterbricht Bernd.
„Hat er da noch gelebt?“, fragt Kim.
„Hoffentlich nicht“, sagt Dr. Wilder, „aber nein, vermutlich nicht.“
Bernd zuckt leicht zusammen.
„Das hier ist nicht der Tatort“, sagt Kim. Sie denkt und redet gegen die Übelkeit an.
„Nein“, sagt Dr. Wilder. „Zu wenig Blut. Eigentlich“, er räuspert sich, „eigentlich gar keins.“
„Das heißt, der Tatort müsste ziemlich übel aussehen.“ Bemerkt Kim.
„Ja. Der Gute hat ziemlich viel Blut verloren. Noch zu Lebzeiten. Eigentlich so gut wie jeden Tropfen. Aber nicht hier. Hier ist es rund um die Leiche sauber. Blut ist nicht mehr viel in ihm. Scheint aber lange durchgehalten zu haben. Er war mit Sicherheit Sportler. Kein Bodybuilder, aber durchtrainiert. Ich vermute Ausdauersport. Laufen, Schwimmen. Fahrrad. Bergsteigen. Oder so was. Sehr drahtig. Muskulös.“
„Scheiße!“, stößt Kim hervor, dreht sich zur Seite, macht einen Schritt und kotzt auf den Waldboden.
Bernd schaut ihr kurz beim Kotzen zu, betrachtet ihren Rücken, der ruckartig vibriert, wendet sich dann aber wieder der Leiche und Dr. Wilder zu. Er will ihr nicht zu lange auf den Hintern schauen. Ihren süßen, kleinen knackigen Thai-Hintern. Vermutlich hat sie es ohnehin schon bemerkt, dass er etwas für sie übrig hat.
Auch wenn dir im Moment anderes durch den Kopf geht. Denkt Bernd. Und schüttelt den Kopf. Oh, Mann! Du bist so blöd. Hebel, was bist du für ein blödes Arschloch.
„Und dass das hier nicht doch von einem wilden Tier“, versucht es Bernd und erhebt sich, „also zum Beispiel von einem wild gewordenen Keiler gemacht worden ist ...?“
„Ist auszuschließen“, ergänzt Dr. Wilder.
„Sicher?“, fragt Bernd.
„Ganz sicher. Der Keiler wird ihm ja wohl kaum die Kleidung ausgezogen haben.“
„Vielleicht ist er nackt in den Wald gekommen. Einer der freien Körperkultur, ein Freigeist. So einer halt.“
Dr. Wilder schaut ihn an.
„So ein Spinner, was?“, meint Dr. Wilder.
Bernd zuckt mit den Schultern.
„Und dann kommt ein Keiler und nimmt ihn auf die Hörner?“
„Hörner?“, fragt Bernd. „Wusste gar nicht, dass Keiler Hörner haben.“
„Die meisten Verletzungen wurden mit einem scharfen Gegenstand zugefügt.“ Dr. Wilder ignoriert ihn. „Und vermutlich mit einer Zange. Dann Prellungen, Brüche. Es gibt auch Verbrennungen. Richtige Verbrennungen. Keine Zigaretten. Eher eine offene Flamme. Und mit Verlaub, das tun keine Tiere. So was machen nur Menschen.“
„Wurde sonst noch was - abgeschnitten?“, fragt Bernd.
„Also ich will es einmal so ausdrücken. Es fehlt nichts. Aber trotzdem, ja, übel zugerichtet.“
„Was soll das heißen?“, fragt Bernd.
„Sehen Sie die Plastiktüte?“
Bernd nickt.
„Da drin befindet sich das, was abgetrennt und herausgenommen wurde.“
„Bitte?“
„Fingernägel, Fußnägel, Fingerkuppen, Hautfetzen, Zehen, ein Auge, Zähne. Zunge. Haare. Und eine noch undefinierte breiige Masse. Blut. Auf den ersten Blick. Da scheint jemand – trotzdem - sehr ordentlich gewesen zu sein. Auf den ersten Blick fehlt nichts. Aber genaueres in ein paar Tagen. Wer weiß, was sich noch alles im Körper finden. Äh, was nicht reingehört.“
„Rache?“, fragt Kim. Sie ist wieder da.
Jetzt bloß nicht schlapp machen, denkt sie. Und schluckt. Versucht so zu tun als sei nichts geschehen, als hätte sie gerade eben erst nicht gekotzt.
Sie schauen sie an. Sie sieht nicht sehr gut aus. Überhaupt nicht gut. Bernd weiß aber, dass er ihr das nicht sagen darf. Er darf sie nicht zum Wagen zurück schicken.
„Schuldigung.“ Sie sucht in ihren Taschen.
Bernd reicht ihr ein Taschentuch.
„Rache. Leidenschaft. Wut. Spaß. Krank. Was weiß ich“, seufzt Dr. Wilder. „Die Welt ist voller Irrer. Ihr müsst sie finden, nicht ich. Ich sag euch nur, was mit der Leiche passiert ist, bevor sie zur Leiche wurde, ihr müsst herausfinden, wer das gemacht hat, ihr, nicht ich. Ich lese nur Leichen.“
Er hört sich tatsächlich erleichtert an. Irgendwie jedenfalls.
„Ist er bestraft worden? Mafia? Hinrichtung?“, fragt Bernd.
„Strafe ist durchaus möglich, aber Hinrichtung eher unwahrscheinlich. Dafür hat es wohl zu lange gedauert.“
„Ein Exempel?“, fragt Kim.
„Hier draußen im Wald?, fragt Dr. Wilder. „Eher nicht. Kein Publikum. Keine Öffentlichkeit. Hier“, sagt er mit einer ausladenden Geste, „hier ist er kein abschreckendes Beispiel.“
„Todesursache?“, fragt Bernd.
„Kann ich bei der Fülle von Verletzungen noch nicht sagen. Vermutlich alles zusammen. Die einzelnen Wunden und Verletzungen waren für sich genommen nicht tödlich. Sollte vermutlich auch nicht tödlich sein. Keine Schussverletzungen, keine tiefen Stiche, zumindest keine tödlichen ... Todesursache? Herzstillstand, Kreislaufzusammenbruch, Schock, Blutverlust, vermute ich, so was in der Art.“ Er stockt. „Und“, er überlegt. „Vielleicht noch zu früh, aber mit seiner Haut ist etwas.“
„Ja?!“
„Gut, eine Leiche ist immer blass. Aber diese hier wurde bereits vor dem Tod Licht entzogen.“
„Was?“
„Ich vermute, er befand sich über einen längeren Zeitraum im Dunkeln. In einem Keller oder einer ... ist weiß nicht ...Kiste?“
„Mhm.“
„Er sollte leiden.“
Kim dreht sich zu Bernd um. In seiner Stimme hört sie einen merkwürdigen Unterton.
„Ja. Mit Sicherheit ... Der ... “, Dr. Wilder nickt in Richtung Leiche, „der sollte leiden. Ja. Der sollte richtig leiden. Und er hat gelitten.“ Die letzten Worte sagt er mehr zu sich selbst. Als fühlt er den Schmerz. „Der ist bestraft worden.“
„Das heißt, der Täter oder die Täter ...“, sagt Bernd und wird von Kim unterbrochen.
„ ... oder Täterin.“
Bernd starrt sie an.
„Ja, klar, kann sein“, sagt Dr. Wilder. „Kastration. Männerhass. Warum nicht?“ Er kann nicht mehr ernst bleiben und grinst. „Auch Frauen können auf diesem Spielfeld sehr erfindungsreich sein und Fantasie zeigen. Und ausdauernder, geduldiger.“
Kim starrt ihn an.
„Was?“, fragt Dr. Wilder und räuspert sich.
„Also“, versucht es Bernd noch einmal. „hier hat sich jemand richtig Zeit gelassen?“
„Ja.“
„Über einen längeren Zeitraum?“
„Vermutlich. Es gibt mehr oder weniger frische Verletzungen und ältere, fast schon geheilte Verletzungen.“
„Ungefähr?“, fragt Bernd.
„Auf den ersten und oberflächlichen Blick: drei, vielleicht vier Wochen. Oder länger.“
„Ach, du Scheiße“, stößt Kim hervor. Sie würgt wieder. Schluckt.
„Wurde er zwischendurch, äh, ernährt?“, fragt Bernd.
„Kann ich noch nicht sagen. Die Leiche ist aber sehr dünn, fast schon abgemagert. Wenn überhaupt, wurde er am Leben gehalten. Zuwenig zum Leben, zuviel zum Sterben.“
„Und wie lange ist er schon tot?“, fragt Kim.
„Das wären nur Vermutungen.“
„Vermuten Sie“, fordert Bernd, der Dr. Wilder wegen seiner Zuverlässigkeit schätzt.
„Wie gesagt“, er räuspert sich, „er ist nicht hier getötet worden. Aber ich würde sagen er ist bereits seit achtundvierzig Stunden tot. So lange liegt er hier jedoch noch nicht. Vielleicht vierundzwanzig Stunden, vielleicht weniger, in keinem Fall mehr.“
„Das heißt“, sagt Bernd, „es müsste irgendwo einen Ort geben, der noch ziemlich übel aussieht, mit viel Blut und so?“
„Vermutlich. Oder jemand hat schnell sauber gemacht und aufgeräumt.“
„Hm“, brummt Kim. „War die Leiche verdeckt, also versteckt, meine ich?“
„Nein.“
„Sie lag hier offen rum?“, fragt Bernd.
„Ja.“
„Sie sollte gefunden werden?“, fragt Kim.
„Alles spricht dafür. Zumindest hat der Täter sich darum nicht gesorgt. Er hat sich nicht die Mühe gemacht, sie zu verstecken. Es war ihm egal.“ Dr. Wilder räuspert sich. Und niest. „Es war ihm egal.“ Er niest noch einmal. Und räuspert sich wieder.
„Erkältet?“, fragt Bernd.
„Nein. Allergie.“
Sie schauen ihn fragend an.
„Moos, Gräser, die ganze Scheiße hier ist nichts für mich. Ich bin eindeutig ein Stadtmensch. Ich brauche die Errungenschaften der Zivilisation, nicht diese Scheiße hier. Natur gucke ich mir im Fernsehen an. Da kann sie einen auch nicht beißen.“
„Wer braucht das hier schon?“, fragt Kim, mehr sich selbst als Dr. Wilder oder Bernd.
„Vielleicht wollte Sie ja jemand ärgern“, lacht Bernd.
„Dann hat er es geschafft.“ Dr. Wilder lacht mürrisch.
„Ist hier vielleicht jemand unterbrochen worden?“, fragt Bernd. „Beim Entsorgen der Leiche, meine ich.“
Dr. Wilder zuckt mit den Schultern.
„Unwahrscheinlich, dass jemand zurückkommt und weiter machen will, wenn Sie darauf spekulieren.“
Bernd lacht nicht.
„Nein“, fährt Dr. Wilder fort. „Die Leiche sollte so liegen. Sieht fertig aus.“
„Gibt es irgendetwas an oder bei der Leiche, das nicht zu ihr gehört?“, fragt Kim.
Dr. Wilder schaut sie an.
„Nein, keine Kleidung, kein Ausweis, nichts. Wir wissen nicht, wer er ist, oder besser war. Auch keine Souvenirs. In der Art wie sie Künstler hinterlassen.“
„Aber ein Kunstwerk ist das doch nicht gerade“, meint Kim trocken.
„Nein“, sagt Dr. Wilder, „hier war kein Künstler am Werk, er wollte uns nichts mitteilen. Dieser Mann ist einfach nur langsam und grausam so lange gequält worden bis er tot war. Und dann hierher gebracht worden. Warum hier? Keine Ahnung.“
„Er war bereits tot als er hierher gebracht wurde“, sagt Kim.
„Ja.“
„Irgendetwas in der näheren Umgebung?“, fragt Bernd.
„Nein, nichts. Nur er und der Wald. Kein Suchspiel, keine Schnitzeljagd. Wir haben bereits alles abgesucht.“
„Und die Tüte.“ Ergänzt Kim.
Bernd starrt sie kurz an.
Das Leben passt gelegentlich in eine Plastiktüte. Oder auch der Tod.
„Und irgendetwas Ungewöhnliches, abgesehen davon, in welchem Zustand sich die Leiche befindet?“
„Nichts Sichtbares, nichts Äußerliches, aber ich habe noch nicht innen nachgeschaut, das geht hier nicht. Vielleicht finden wir in seinem Körper, im Magen oder der Lunge etwas Interessantes. Vielleicht die Telefonnummer und die Adresse des Mörders.“
„Das wäre dann das erste Mal“, sagt Kim.
„Ja?“, fragt Dr. Wilder.
„Danke, fürs erste“, sagt Bernd und nickt Kim zu.
„Sie melden sich“, fügt Kim hinzu.
„Wie immer.“
„Der Bericht ...“, sagt Bernd.
„ ... liegt auf ihrem Schreibtisch.“
„Danke“, sagen Bernd und Kim gleichzeitig.
Sie machen sich auf den Weg.
Sie hören ihn noch einmal niesen. Und fluchen.
Sie lachen leise. Und wissen doch beide, dass nichts, was hinter ihnen liegt, lustig ist. Vermutlich auch nicht das, was jetzt vor ihnen liegt.
Die Befragung des Försters, der die Leiche gefunden hat, ergibt nichts Wesentliches mehr. Nur, dass sich in diese Gegend eigentlich niemand verirrt, der hier nicht sein will. Naturschutzgebiet. Ein paar Wanderer. Biologen. Keine Reifenspuren in der unmittelbaren Umgebung des Fundortes. Keine eindeutigen, definitiven Fußspuren.
„Der war ganz schön neben sich, der Förster, meine ich“, sagt Kim.
„Das kann man wohl sagen. Scheint seine erste Leiche gewesen zu sein, seine erste menschliche Leiche.“
„Wir hätten ihn nach den Wildschweinen fragen sollen“, sagt Kim.
Bernd lacht.
Er atmet tief durch.
„Folter. Mitten in Deutschland“, sagt Bernd.
Kim und Bernd sitzen im Auto.
„Warum nicht.“
Kim starrt aus dem Fenster des Wagens. Irgendwohin, jenseits des Waldes.
„Das war keine Folter“, sagt sie. „Nicht im klassischen Sinne.“
„Was?“
Sie schaut weiter aus dem Fenster.
„Hier hat sich jemand gerächt. Aber wofür?“
Dann schweigt sie wieder.
„Wie meinst du das?“, fragt er, obwohl er mehr als ahnt, wie sie es meint. Er hat den Ton in ihrer Stimme registriert, das ist mehr als nur reiner Ermittlerinstinkt. Sie hat etwas gesehen, was nur sie sehen kann. Und es ist mehr als nur Intuition. Sie hat mehr gesehen als er sehen kann.
„Er sollte bezahlen.“ Sagt sie. Unbestimmt, aber eindeutig.
„Wofür?“
Sie dreht sich zu ihm. Und schaut ihn an.
„Er sollte spüren, dass er etwas getan hat, das er besser nicht getan hätte.“
Er nickt.
Und fragt dann doch: „Du hast so was schon mal gesehen?“
Sie schließt die Augen, dreht den Kopf und schaut wieder aus dem Fenster.
„Kim?!“
Er sieht wie sie den Kopf schüttelt.
„Nein, gesehen habe ich es noch nicht, aber ...“ sie schluckt. „Ich habe es mir vorgestellt. Tausend Mal ... Dieser Mann war böse.“
„Kim ...“, will er ansetzen, doch sie hebt eine Hand.
Und er weiß, dass es keinen Sinn macht jetzt noch weiter zu fragen.
Er schweigt und startet den Motor.
„Ich brauche dringend einen Kaffee“, sagt Kim in das nachfolgende Schweigen hinein. „Und eine Kleinigkeit zu essen. Hab nicht gefrühstückt. War auf der Herfahrt da nicht irgendwo ein Hinweisschild zu einer Pension oder einem Restaurant, am See oder so?“
„Ich glaub schon, ja.“
Er schaut sie von der Seite an. Er ist sich sicher.
Ja, ich bin verliebt, denkt er und lächelt. Sie weiß es, lässt sich aber nichts anmerken. Sehr anständig von ihr. Will mir keine Hoffnungen machen, sie will keine falschen Erwartungen wecken. Gut so. Damit kann ich umgehen. Ja.
„Alles klar mit dir?“, fragt er statt eines offenen Bekenntnisses.
„Ja, geht schon wieder“, sagt sie. Und schaut aus dem Fenster. „Merkst du eigentlich noch etwas?“, fragt sie nach einer Pause.
Er lacht kurz auf. Er weiß, was sie meint.
„Genug, um das Ganze zu hassen. Darauf hat einen keiner vorbereitet.“
„Darauf kann man nicht vorbereitet werden.“
„Nein“, sagt Bernd, „nicht wirklich. Man gewöhnt sich dran. - Oder eben nicht.“
Er seufzt.
„Aber vielleicht sind wir ja die Perversen, die sich das angucken und nach Details suchen, nach Spuren.“
„Also mich macht das nicht an“, sagt Kim.
„Nein?!“, lacht Bernd.
„Nein“, lacht Kim zurück, „bestimmt nicht.“
Und bevor er fragen kann, was sie denn so anmacht, hat sie das Schild gesehen.
Sie hebt die Hand.
„Da.“
„Ja, ich sehe es.“
Die Gelegenheit ist vorüber.
Nächstes Mal, denkt Bernd, nächstes Mal. Es gibt immer ein nächstes Mal. Bestimmt. Beim nächsten Mal.
Er nimmt den Fuß vom Gas.
Fünf Minuten später nehmen sie die Zufahrtstraße zum „Haus am See“. Fünfzehn Minuten später sitzen sie auf einer großen Terrasse mit Blick auf den See. Kim hat sich auf der Toilette frisch gemacht. Der Kaffee wartet bereits. Er duftet durchdringend gut. Bernd sitzt stumm und sichtlich angetan da und schaut auf den See. Der See liegt still vor ihm, die Sonne glitzert auf der Wasseroberfläche. Kleine Wellen. Das Panorama ist berauschend. Atemberaubend. Die ungewöhnlich warme Herbstsonne hat den Nebel und ja, auch die Kälte vertrieben.
Ein magischer Ort, denkt Bernd Hebel. Muss ein alter Gutshof gewesen sein.
Das Wasser schlägt sanft gegen die Holzpfeiler, auf denen die Terrasse liegt. Obwohl Kinder zu sehen sind, ist es still. Der See scheint alle zu beruhigen. Es herrscht eine merkwürdige Atmosphäre. Ein Biotop. Als hält jemand seine Hand darüber. Oder, wie unter einer Glocke.
Wie in Kings Arena, denkt er. Nur ohne Mord und Totschlag. Ohne Wahnsinn. Merkwürdig. Merkwürdig. Wieder ein Bild.
Als halten sie den Atem an. Und lauschen. Oder warten. Aber worauf? Sie sehen so zufrieden aus. Denkt Bernd. So eins mit sich und zufrieden. Vielleicht ist was im Wasser. Er lacht.
Kim kommt zurück. Sie sieht wieder etwas besser aus. Sie schaut ihn an.
„Was ist?“, fragt sie. „Warum lachst du?“
„Was für ein Fleckchen Erde. Dieser Ausblick.“
„Kein Ort zum Sterben“, sagt Kim als sie sich setzt.
„Nein.“ Antwortet Bernd. „Hier stirbt man nicht. Hier lebt man einfach. Die haben hier Häuser und Apartments und Zimmer. Ich sollte hier mal Urlaub machen.“
Mit dir, denkt er.
„Und das Ganze keine zwei Stunden entfernt von Berlin.“
„Wozu Mallorca oder die Malediven. Deutschland ist schön. Guck dich um.“
„Ja, aber wenn man zu genau schaut, findet man Leichen.“
Bernd bemerkt, dass Kim sich schon umschaut. Es sind nur wenige Gäste auf der Terrasse. Unten am See sind mehr Leute. Ein paar Familien mit ihren Kindern. Boote auf dem See. Einige Häuser kann man erkennen. Überall um den See herum sind Häuser oder besser Hütten und Stege, auf denen Leute sitzen. Der warme Tag und der Ausblick verleiten zum Verweilen, der Blick ruht, die Augen haben Pause. Ferien für immer.
Hier scheint die Zeit still zu stehen. Die Welt holt Atem. Und seufzt. Vor Zufriedenheit.
Der Kaffee ist gut. Er ist sogar sehr gut.
Eine Jugendliche, vielleicht fünfzehn oder sechzehn kommt langsam vom See her einen Holzsteg entlang zur Terrasse. Kurzes Haar. Sie kommt näher. Geht langsam. Bedächtig. Jeden Schritt etwas zögerlich machend. Als betrete sie neues Terrain. Mit jedem Schritt. Sie schaut vor sich auf den Boden oder betrachtet ihre Füße. Als wollte sie sehen wo sie hintritt. Als wollte sie sehen und sicher sein, dass ihre Füße auch wirklich den Boden unter ihren Füßen berühren. Ihren Schritt nicht nur zu fühlen, sondern auch zu sehen. Als betrete sie dünnes Eis, das jederzeit brechen könnte. Als wäre das Gehen etwas Fantastisches, Einmaliges, Wunderbares. Und zugleich etwas Gefährliches und Bedrohliches, weil jeder Schritt der letzte Schritt sein könnte. Sie bleibt stehen, hebt den Kopf, schaut sich um, ängstlich, unsicher, suchend. Als wüsste sie nicht genau, wo sie gerade ist. Geht weiter und kommt näher.
Das Mädchen betritt die Terrasse. Langsam. Bleibt stehen, dreht sich um und schaut zurück auf den See. Verharrt einen Moment. Atmet tief durch und dreht sich wieder zu ihnen. Kommt in ihre Richtung.
Bernd fallen ihre Augen auf. Kim sieht es auch. Sie scheint sie und die anderen nicht wahrzunehmen.
Sie schauen sich an. Runzeln die Stirn.
Was sieht sie?
Sie kommt näher. Ihre Augen bewegen sich unruhig. Sie sieht gehetzt aus.
Verängstigt?
„Marie“, hören sie eine weibliche Stimme. „Marie.“ Sagt die Stimme freundlich, fast vorsichtig.
So weckt man ein kleines, schlafendes Kind, denkt Kim.
Sie drehen sich um. Die ältere Frau, die vor ein paar Augenblicken den Kaffee gebracht hat, geht zu ihr, berührt das Mädchen am Arm.
Sie hebt den Kopf. Schaut als wäre sie gerade erwacht. Blass. Dünn. Verwirrt.
Sie schweigt.
Sie hat einen Rucksack auf dem Rücken. Einen kleinen Eisbären. Eindeutig zu klein. Für eine Jugendliche. Und ein Buch in der Hand.
Das passt nicht, denkt Bernd. Der Rucksack passt überhaupt nicht.
Und das Buch?, fragt er sich.
„Alice im Wunderland“, flüstert Kim.
Bernd schaut sie an.
Traumatisiert, vermutet Kim, oder zurück geblieben.
Kim weißt, dass sie das Mädchen anstarrt, auch wenn sie es nicht will.
Ein Mädchen, denkt Kim, das ist es, ein Mädchen im Körper einer Jugendlichen. Ihre Augen, was haben ihre Augen gesehen?, fragt sie sich weiter.
Die Frau sieht ihre Blicke, legt einen Arm um das Mädchen und führt sie von der Terrasse ins Haus.
„Papa kommt gleich. Papa kommt zu dir.“ Sagt die Frau. „Du musst nicht mehr warten.“
Das Mädchen schaut die Frau an und schweigt.
„Er ist gleich wieder da. Bestimmt. Du misst nicht mehr warten.“
So viel Sanftheit in der Stimme, denkt Kim. Und schluckt. So viel Ruhe. So viel Mitgefühl.
„Was war das?“, fragt Kim.
Bernd zuckt mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht.“
„Hast du ihre Augen gesehen?“
„Ja.“
Ihre Augen, denkt Bernd. Nicht nur ein Bild, sondern eine Geschichte. Ihre Augen erzählen eine Geschichte.