Читать книгу Lieblingsorte - Marc Rosenberg - Страница 8
August 2005: Marie, auf der Bank unter dem Baum
ОглавлениеSie wunderte sich immer wieder. Bereits über die ersten Sätze auf der ersten Seite wunderte sie sich. Immer wieder und jedes Mal. Wie konnte man sich langweilen, wenn man ein Buch in den Händen hielt. Selbst ohne Bilder. Alice schien nicht lesen zu können, oder nicht lesen zu wollen. So viel war sicher.
Vermutlich ein verzogenes Gör, dachte Marie und lachte. Verzogen und faul. So wie ich?! Sie lachte laut.
Max brauchte Bilder. Marie nicht. Marie las und hatte ihre eigenen Bilder im Kopf.
Jedes Mal, wenn Marie Alice im Wunderland aufschlug, las sie zuerst die ersten Zeilen des Anfangs und wunderte sich jedes Mal wieder aufs Neue. Jedes Mal. Und immer wieder. Obwohl sie das Buch schon unzählige Mal in den Händen gehalten und gelesen hatte.
Marie kicherte. Sie lachte über Alice. Langweilig war ihr, lächerlich.
Erst das weiße Kaninchen mit den rosa Augen rüttelte sie wach.
Alice sprang auf.
Zugegeben, Marie würde vermutlich auch aufspringen und hinter dem Kaninchen her laufen, wenn es sprechen könnte. Ein sprechendes Kaninchen war ungewöhnlich, so viel stand fest. Ja.
Aber, Marie seufzte, bisher hatte sie noch nicht das Glück gehabt, einem weißen Kaninchen zu begegnen, das sprechen konnte und eine Uhr aus der Westentasche zog.
Schade, dachte sie, wirklich schade. Aber vielleicht muss ich ja nur genau hinschauen. Und warten. Irgendwann, dachte sie weiter, irgendwann kommt auch mein weißes Kaninchen. Ich muss es nur erkennen. Mein eigenes weißes Kaninchen.
Sie schaute kurz auf, schaute auf den See.
Sie hielt inne.
Hatte sie etwas gehört?
Sie lauschte.
Stille.
Und schlug das Buch ein paar Seiten weiter auf, dort, wo sie aufgehört hatte zu lesen.
„Das wird ja immer merkwürderlicher“, schrie Alice. Sie war dermaßen fassungslos ...
„Was liest du da?“
Sie hatte das Sch-Wort auf der Zunge, konnte es aber gerade noch unterdrücken. Papa und Mama mochten es nicht, wenn sie es sagte, wenn sie es laut sagte, auch wenn Papa, besonders Papa, es mehr als nur manchmal sagte.
Marie fuhr zusammen und hob den Kopf. Gleichzeitig schlug sie vor Schreck das Buch zu. Die Stimme kam von links. Ein Mann stand neben der Bank. Kein weißes Kaninchen. Ein Mann. Marie musste sich zusammenreißen. Ihr Herz klopfte. Bis zum Hals. Das war neu, das kannte sie nicht. So hatte ihr Herz noch nie geklopft. So noch nie.
Sie kannte den Mann nicht. Es war anscheinend keiner von den Gästen. Marie kannte nicht jeden der Gäste, aber die meisten schon. Diesen hatte sie noch nie gesehen, da war sie sich sicher. Er schaute interessiert auf das Buch in ihren Händen. Sie schaute sich die Gäste immer sehr genau an. Das hatten Papa und Mama gesagt.
„Merk dir die Gesichter.“
„Warum?“
„Damit du weißt, wer hierher gehört und wer nicht.“
„Sag uns, wenn du fremde Gesichter siehst.“
„Wie merke ich mir Gesichter?“, fragte sie.
Papa runzelte die Stirn.
„Indem du nach Auffälligkeiten und Merkwürdigkeiten suchst und sie dir einprägst. Jedes Gesicht hat merkwürdige Merkmale. Nase, Ohren, Zähne. Augen. Narben.“
„Gut“, sagte Marie, „das merke ich mir.“ Und sie lachte. „Große Nase. Abstehende Ohren. Schiefe Zähne, lange grässlich aussehende Narben. Ganz einfach.“
„Ganz einfach“, sagte Tom, ihr Vater. Und schaute sie merkwürdig an.
Er schaute sie oft merkwürdig an. Grinste dann aber irgendwann. Und hob den Finger drohend.
„Ich hab keine abstehenden Ohren und keine große Nase“, sagte er und versuchte ernst zu bleiben.
„Nein!“, sagte Marie, und zog dieses Nein so sehr in die Länge, dass alles gesagt war.
Der Mann hielt den Kopf schräg und schaute sie freundlich an. Er hatte einen Fotoapparat in der Hand. Er bemerkte Maries Blick.
„Ich will ein paar Bilder von hier oben machen. Wow! Das ist hier ja mal ein sensationeller Ausblick.“
Er machte ein paar Schritte nach vorn.
„Mein Gott! Und du wohnst hier?“
Marie schaute auf den Rücken des Mannes.
Woher weiß der das?, fragte sie sich, und versuchte gleichgültig zu gucken.
Das ist ein Fremder, sagte sie sich. Du sollst mit Fremden nicht reden.
Er drehte sich um und sah ihr Schweigen. Und ihren Blick. Marie wurde rot.
Er lächelte. Und kam zurück zur Bank. Langsam. Er schaute auf das Buch in ihren Händen.
„Hm?“, gab er von sich und nickte zum Buch. „Was liest du da? ... Interessant?“
Er kam noch näher.
Ihr Herz klopfte. Schnell. Laut.
Konnte er das hören?, fragte sie sich.
Sein Schatten fiel auf sie. Als er näher kam. Sie umklammerte das Buch.
Sie schaute sich um. Niemand zu sehen.
Ihr Vater war auf dem Weg, das wusste sie, aber sie konnte ihn noch nicht sehen und auch nicht hören.
Aber er kommt gleich, dachte sie, er kommt gleich, ganz bestimmt kommt er gleich. Wie das weiße Kaninchen, das kam auch ganz plötzlich, plötzlich sprang es ins Bild. Wie erwartet, vollkommen unerwartet. Und änderte alles. Alles.
Mit dem weißen Kaninchen würde sich alles ändern. Bestimmt.
Hinter ihr lag nur der Wald. Und die Stille. Sie konnte sie hören. Die Stille.
Und da, da!, dachte sie, da ist das weiße Kaninchen. Das weiße Kaninchen.