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Oktober 2000: Fabian, im Regen am Bach

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Plötzlich war es still. Das Trommeln war weg. Er hörte es sofort. Es war still. Das war nicht richtig. Das war falsch. Das stimmte nicht. Fabian war irritiert und hob den Kopf. Denn der Regen trommelte nicht mehr auf die Kapuze seiner Jacke. Obwohl es weiterhin regnete. Er sah den Regen vor sich, er sah wie die Tropfen auf den Boden schlugen, Erde aufspritzen ließen und er sah wie die Tropfen auf die Wasseroberfläche klatschten, wieder emporstiegen, um noch einmal ins Wasser zu fallen, Kreise zogen und sich schließlich mit dem Wasser vereinten. Immer wieder. Das regelmäßige Klopfen der Regentropfen auf seinen Kopf, seinen Nacken, den Rücken und die Arme hatte etwas Beruhigendes. Da war eine Erinnerung, eine unbestimmte Erinnerung, das Klopfen, das Trommeln, das nicht er selbst erzeugte, sondern das um ihn herum erzeugt wurde, barg eine Erinnerung, die nicht in seinem Kopf, sondern in seinem Körper war. Tief im Inneren gespeichert. Der Körper wusste mehr als der Verstand. Verborgen. Unberührbar, unberührt und doch greifbar nah. Der Rhythmus war regelmäßig und monoton. Gleichmäßig und deswegen beruhigend. Wie das Schlagen eines Herzens. Das Rauschen des Blutes. Das Klopfen wirkte dem Drang entgegen sich zu bewegen, hin und her zu laufen, vor und zurück zu schaukeln, mit dem Kopf zu nicken, zu hüpfen, mit den Beinen zu wippen und fortwährend zu reden. Laute von sich zu geben. Oder einfach. Mit sich selbst zu reden. Die Stimme in seinem Kopf. Niemand hörte ihn, niemand hörte ihm zu. Fabian verlor das Gefühl für die Zeit, wenn er im Regen spielte. Er verlor das Gefühl für den Ort und den Raum, in dem er sich bewegte. Es war als hüllte ihn der Regen in Watte, in eine warme Decke, unter einer warmen Glocke, in Vergessenheit. Denn er vergaß alles um sich herum. Er vergaß, wo er war, er vergaß, wer er war und was die anderen mit ihm machten. Oder von ihm dachten. Fabian wusste, dass sie über ihn redeten, auch wenn er nicht da war. Wenn er nicht da war, ging es ihm gut.

Er wurde eins mit sich, eins mit dem Regen, eins mit dem Geräusch, das der Regen auf seinem Anorak erzeugte. Das Geräusch, das sich wie das Rauschen des Blutes anhörte. Wie das Schlagen des Herzens. Im Regen war Fabian Teil des Ganzen. Ganz allein. Teil des Ganzen. Er ging auf in Allem. Wie einer der Regentropfen. Er war alles. Alles. Ganz allein. Das fühlte sich gut an. Gut. Nur im Regen fühlte er sich so gut.

Wenn er still sein musste, wurde es laut in seinem Kopf. Niemand hörte ihn reden. Es war eine Stimme in seinem Kopf. Er redete fortwährend, wenn er in der Schule still sitzen musste, er redete fortwährend, wenn er am Tisch still sitzen musste. Doch niemand hörte ihn. Sie sahen ihn nur komisch an. Er war eben komisch. Das sagten alle, das wussten alle. Er spielte nicht gern Fußball. Er rannte mit den anderen nicht gern um die Wette. Er spuckte nicht gern und er fluchte nicht. Er mochte diese Schimpfwörter nicht, deren Bedeutung er nicht verstand. Aber die Erwachsenen in der Schule regten sich darüber auf, also sagten die Kinder sie noch öfter: Fickt dich. Arschloch. Fick deine Mutter. Hurensohn. Schwule Sau. Deine Oma lutscht Schwänze. Mutterficker. Die Kinder sagten diese Wörter und die Erwachsenen regten sich auf. Das mussten sie wohl.

Er spielte sogar mit Mädchen. Fangen. Verstecken. Mit Puppen. Sie hatten ihn dabei auf dem Spielplatz erwischt und ihn ausgelacht. Das hatte er nicht verstanden. Er hatte nicht verstanden, warum sie lachten. Er hatte es einfach nicht verstanden. Mit den Mädchen konnte man gut spielen. Manchmal redeten sie viel. Ja, aber er hatte sich daran gewöhnt, nicht immer genau hinzuhören. Er hatte noch nie etwas verpasst. Er mochte den Klang ihrer Stimme, das lange Haar. Manche Mädchen rochen gut, wenn er ihnen nah genug kommen konnte, nach Seife oder etwas anderem. Jungs rochen so nicht. Mädchen rochen gut, und manchmal fassten sie ihn an. Die Mädchen, mit ihren warmen und weichen Händen. Berührten ihn, ganz leicht, sanft. Er mochte das. Er berührte sie nicht, das traute er sich nicht. Er blieb still und bewegte sich nicht und sie kamen immer näher. Er ließ sich von ihnen berühren. Das fand er schön. Er ging zu ihnen, setzte sich neben sie und wartete. Auf ihre Hände. Auf ihre Berührungen. Nie hatte er von sich aus die Hand nach ihnen ausgestreckt. Nie. Er war geduldig. Und dann wurde er ruhig und still. In seinem Kopf wurde es still, wenn er neben ihnen saß und wartete.

Doch am liebsten spielte er im Regen und baute Staudämme, unten am Bach. Allein. Er brauchte dann niemanden, mit dem er sich unterhalten musste, er brauchte niemandem, mit dem er zusammen einen Staudamm bauen konnte. Er baute gern Staudämme, am liebsten wenn es regnete. Mit Steinen, Holz und Gras. Oder was er sonst noch so fand. Er fand immer etwas. Unten in den Wiesen. Nahe am Wald. Der Bach speiste sich nicht nur aus einem durch den Wald verlaufenden Bach, sondern auch aus einigen Fischteichen, die sich im Wald befanden. Er hatte schon versucht zu angeln, war aber nicht erfolgreich gewesen. Da musste er ja still sein.

In der Schule lernte er schreiben, lesen und rechnen. Er redete nicht viel.

Er machte zwar den Mund auf, bewegte auch die Lippen, doch niemand hörte, was er sagte. Er brauchte niemanden, der ihn verstand.

„Der spinnt“, sagten sie.

„Der ist doof.“

„Das ist ein Idiot.“

„Guck dir den an.“

„Was für ein Vollidiot.“

„Das ist ein Penner.“

Er schaute sie schweigend an. Und ballte die Fäuste. Das half. Nicht immer. Manchmal landete seine Faust im Gesicht eines anderen. Er sah es nicht kommen. Er spürte es nicht kommen. Er traf das Gesicht des anderen, er traf die Nase oder die Lippen, oder ein Auge. Ohne Ankündigung. Er sah seine Faust, er sah das Gesicht und hörte das Klatschen, den Schlag oder das Knacken, wenn seine Faust oder seine Hand trafen. Er war dann mindestens ebenso geschockt wie der, der dann heulte. Oder schrie. Und blutete. Er schaute auf seine Faust und dann auf das Gesicht. Er sah das Blut. Ungläubig. Dass seine Faust dazu in der Lage war. Es war gerade so als hätte ein anderer zugeschlagen. Er sah das Blut und war entsetzt und fasziniert zugleich. Irgendwann wunderte er sich nicht mehr. Es war ja immer dasselbe, immer gleich. Sie kamen, sie ärgerten ihn, er schlug zu. Aber erst, wenn es nicht mehr ging. Er wollte das nicht. Aber manchmal übernahm die Faust die Kontrolle. Und er, Fabian, war dann der Zuschauer.

„Ich wollte das nicht“, hat er einmal gesagt. „Ich nicht.“

Aber niemand hatte es hören wollen. Da hatte schon niemand mehr zugehört.

Noch bevor er alle Buchstaben gelernt hatte, und die Lehrerin die Kinder bat, etwas zu schreiben, egal was, sie brauchten auch nicht darauf zu achten, ob es richtig oder falsch geschrieben ist, schrieb Fabian:

Ich spiele im regen. Der Regen ist warm. Er macht musik.

Er klopft auf meinen Kopf. Ich bin ein andrer im Regen.

Nicht Fabian. Fabian ist wek. Dann können sie ihn nicht ergern.

Die Lehrerin las, was er geschrieben hatte und schaute ihn an. Sie las es noch einmal. Sie sah, dass es seine Schrift war. Und schaute ihn noch einmal an.

„Das hast du geschrieben“, es war keine Frage. Und doch hing ein Fragezeichen in der Luft.

Er nickte.

Sie schüttelte den Kopf. Und las noch einmal. Und schaute ihn an.

Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch da wurde Fabian von Max zur Seite gestoßen.

„Der hat mich geschupst.“ Er zeigte auf Lucas, der grinsend hinter ihm stand.

„Gar nicht, ich war es nicht, der hat zuerst geschupst.“

„Hört auf“, schimpfte die Lehrerin, „hört einfach auf!“

Sie sah Fabian noch einmal an. Und gab ihm sein Heft zurück. Sie hatte keinen Haken gemacht, sie hatte nicht ihr Kürzel gemacht.

„So!“, rief sie. „Jeder geht auf seinen Platz. Jetzt wollen wir uns mal anhören, was ihr geschrieben habt.“

Fabian las seinen Text nicht vor. Die Lehrerin nahm ihn nicht dran. Er hatte sich nicht gemeldet. Sie hatte ihn aber immer wieder angeschaut. Und ernst geguckt.

Der Rhythmus des Regens auf seinem Kopf vertrieb die bösen, die lauten und die schnellen Geister. Wenn es regnete, ging es Fabian gut. Wenn es regnete, fand Fabian Ruhe, Ruhe im Chaos seines Kopfes. Ruhe im Chaos um ihn herum. Wenn es regnete wurden seine Gedanken leicht und langsam. Weich und einfach.

Die Kinder in der Klasse und in der Schule ärgerten ihn. Weil sie wussten, dass sie ihn ärgern konnten. Er ließ sich ärgern. Weil er es nicht anderes kannte. Und dann rastete er aus. Die anderen Kinder waren so laut, so unerträglich laut. Sie schrien, liefen hin und her, prügelten sich und lachten laut. Er bekam Kopfschmerzen, er hielt sich, wenn es unerträglich wurde, die Ohren zu und fing an zu schreien. Laut, schrill, hoch. Durchdringend. Ein Lehrer kam und schrie ihn an. Oder packte ihn an den Armen und zerrte ihn davon. Der Lehrer schimpfte und rief die Mutter an. Er hörte nicht, was der Lehrer schrie, er sah nur, dass er etwas schrie. Weil Fabian lauter schrie. Schrill, anhaltend und laut. Die Geräusche um ihn herum waren einfach zu viel. Zu laut. Unerträglich laut. Chaos im Kopf, Chaos um ihn herum. Und dann schlug er irgendwann zu. Auch den Lehrer.

Der war schockiert.

„Ich habs geahnt“, rief der. „Ich wusste, dass das passiert. Ich hab es gewusst.“

„Unerträglich“, hörte er jemanden sagen.

„Das war Fabian“, sagten sie und zeigten mit dem Finger auf ihn, wenn sich jemand verletzt hatte, wenn etwas kaputt gemacht worden war, wenn jemand weinte, wenn etwas fehlte. Er war es auch, wenn er gar nicht da war.

„Das war der Fabian!“, riefen sie.

„Der hat die Tür so zugeknallt.“

„Ich hab´s gesehen.“

Einmal war ein Finger zwischen Tür und Rahmen. Der Junge hatte fürchterlich geschrien. Fabian hatte schweigend sein Gesicht angeschaut. Er hörte nicht nur den Schmerz, er sah ihn auch, im Gesicht des Jungen. Er heulte und sein Gesicht war verzerrt.

Fabian schwieg, weil er wusste, dass er es nicht war. Er schwieg, weil er wusste, dass er nichts sagen brauchte. Sie glaubten ihm nicht.

Am Nachmittag schimpfte die Mutter. Weil der Lehrer angerufen hatte. Er rief immer an, wenn Fabian nichts hören wollte. Fabian sollte sich entschuldigen.

Und Fabian fragte sich, wofür er sich entschuldigen sollte.

Mama drohte dann: „Das werde ich Papa sagen, warte, wenn der nach Hause kommt.“

Papa drohte nicht. Wenn er nach Hause kam. Drohte Papa nicht. Er redete nicht viel. Weder mit Fabian noch mit Mutter. Er schwieg oder schrie, oder er schaute fern und schlief ein. Oder er rief nach Mutter. Irgendwann.

„Herr Schreiner hat wieder angerufen“, sagte Mutter immer nur.

Herr Schreiner war der Schulleiter.

Mehr nicht. Das reichte. Papa wusste dann Bescheid. Als hätte er es gewusst. Wieder mal. Als hätte er nur darauf gewartet.

Papa fragte gar nicht nach, worum es ging. Das war egal. Fabian war böse gewesen, Wieder mal. Warum? Das spielte keine Rolle. Vater fragte nicht. Es reichte, wenn Herr Schreiner angerufen hatte. Vater fragte nicht, warum er angerufen hatte und fragte nicht, worum es überhaupt ging und was Fabian dazu zu sagen hatte. Er war kein Mann der großen Worte oder langen Reden.

Er schlug gleich zu. Mit schnellen Schritten kam er auf Fabian zu. Fabian war erstaunt mit welcher Schnelligkeit sich sein Vater bewegen konnte, wenn er wütend war, obwohl er doch müde war. Papa war immer müde, wenn er abends nach Hause kam. Müde. Aber dennoch kam er blitzschnell auf Fabian zu. Und schlug zu. Einmal. Zweimal. Er war wütend und müde, wenn er nach Hause kam. Er war oft wütend. Und müde. Aber schnell. Um Fabian hart zu schlagen. Kurze harte Schläge. Keine weit ausholenden Gesten. Kurz, hart, präzise. Fabian sah seine Hände gar nicht kommen.

Dreimal. Stumm, ohne etwas zu sagen, ohne einen Laut von sich zu geben, schlug er zu. Mit verzerrtem Gesicht. Starrte er Fabian an. Stumm. Und schlug zu.

Weil Fabian nicht schrie. Weil er nicht weinte, weil er die Arme nicht schützend hob.

Viermal. Bis Fabian aus der Nase blutete.

„Du!!“, schrie der Vater.

Und schlug zu. Meistens reichten seine Hände, die er auch zu Fäusten ballte, wenn ihm danach war.

Ins Gesicht. Wenn Fabian einmal die Hände zum Schutz hob, riss er sie ihm herunter, um ihn richtig im Gesicht zu treffen. Präzise und hart. Kurze, nicht voraussehbare Bewegungen.

Und Fabian? Er nahm die Schläge hin. Wartete geduldig. Und? Er schaute sich das Gesicht seines Vaters an. Und schwieg. Er schrie nicht. Er schwieg und schaute sich das Gesicht seines Vaters an.

„Sieh dir das an!“, schrie der Vater, „sieh dir das nur an!“

Fabian hörte auf zu zählen.

„Was ... haben ... wir ... nur ... falsch ... ge ... macht?!“, schrie er außer Atem, „was??“

Und schlug zu. Und schlug. Bis er nicht mehr konnte.

Er keuchte. Rot im Gesicht.

Da lag Fabian schon auf dem Boden. Stumm und hielt sich die Ohren zu. Schaute aber zu seinem Vater hoch, um sein Gesicht zu sehen. Er wollte es sehen. Es war rot vor Zorn. Das schien nicht sein Vater zu sein. Manchmal, wenn er besonders wütend war, zog er sich dann auch noch den Gürtel aus der Hose. Und machte weiter. Gesicht. Arme. Beine. Oberkörper, Hintern. Rücken. Gesicht, immer wieder das Gesicht. Mit der flachen Hand, mit der Faust. Egal. Hauptsache er traf. Der Gürtel traf den Körper.

Fabian blieb stumm.

Dann ging der Vater ins Wohnzimmer. Schlug die Tür zu. Und rief Mutter. Laut.

„Bring mir ein Bier. Aus dem Kühlschrank.“ Durch die geschlossene Tür.

Wenn sie das Wohnzimmer betrat, brüllte er: „Tür zu!“

Sie machte hinter sich die Tür zu. Sie blieb im Wohnzimmer. Kam nicht wieder heraus.

Stille.

Fabian hielt sich dann die Ohren zu, weil er es nicht hören wollte. Er wollte es einfach nicht hören, was hinter der Tür gesagt und gemacht wurde. Er wollte es einfach nicht hören. Die Geräusche. Das Wimmern, das Stöhnen. Schlug er auch sie? Er wolle es nicht hören. Was Papa sagte, was seine Mutter sagte und machte. Er schlich in sein Zimmer, schloss die Tür und setzte sich auf das Bett. Und erst dort weinte er, schluchzte er, zitterte er und bekam vor Aufregung fast keine Luft. Die Angst und die Panik schnürten ihm beinahe die Kehle zusammen. Er legte sich aufs Bett und rollte sich zusammen. Und spürte den Schmerz. Überall. Aber deswegen, nein, deswegen, wegen des Schmerzes, weinte er nicht. Er weinte, weil seiner Mutter zusah und nichts tat. Und weil sie zu ihm, seinem Vater ging, wenn der sie rief, und nicht zu ihm, Fabian, dem alles wehtat. Doch das tat noch mehr weh. Das war der größere Schmerz, wenn sie nicht zu ihm kam, seine Mutter. Dagegen konnte er sich nicht wehren. So sehr er die Arme schützend um den Kopf legte. So sehr er sich auch zusammen krümmte. Es tat weh, weil er das Gefühl hatte, dass sie eigentlich bei ihm sein müsste, jetzt.

Abends, wenn die Mutter zu Fabian ans Bett kam, sagte sie: „Siehst du, Fabian, ich hab es dir gesagt, Papa wird böse sein. Du machst Papa böse. Fabian. Du darfst ihn nicht böse machen. Nein, das darfst du nicht.“

Sie strich mit der Hand über sein Gesicht, über seine Stirn. Ihre Hände waren kalt. Sie roch nach Schweiß. Und nach etwas, das er nicht kannte. Sie küsste ihn auf die Wange. Der Geruch war noch stärker. Sauer. Eigenartig. Streng.

Sie weinte. Still.

„Ach, Fabian“, schluchzte sie, „warum machst du das nur.“

Fabian schaute sie an. Und schwieg. Weil er sie nicht verstand.

Was tat er denn? Und was tat sie denn nicht?

„Was sollen wir nur tun?“ Sagte sie.

Er wusste nicht, was er getan hatte.

Es wurde dunkel im Zimmer.

Manchmal legte sie sich neben ihn und schlief ein. Er wurde erst ruhig, wenn es ganz dunkel war, wenn es ganz dunkel war und er das Schnarchen seines Vaters hörte. Dann wurde er ruhig und schlief auch ein. Und träumte vom Regen. Und von der Tür im Boden.

Da war es still. Und er war allein. Da kam niemand hin. Niemand. Das war sein Geheimnis. Die Tür im Boden. In der Hütte im Wald.

Der Regen beruhigte ihn. Hitze machte ihn verrückt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Im Sommer war es ganz schlimm. Die Sonne mit ihrem grellen Licht war ihm zuwider und die Hitze, die sie erzeugte, machte ihn verrückt. Aber wenn es regnete, war es gut. Dann wurde er still. Die Sonne und die Hitze hatten keinen Rhythmus. Der Regen tropfte auf seinen Kopf und alles war gut. Das Trommeln beruhigte ihn. Wie eine Massage auf seinem Kopf.

Wie an jenem Tag, als der Regen plötzlich und unerwartet nicht mehr auf seinen Kopf trommelte. Obwohl es regnete. Ein Schatten fiel über ihn. Obwohl die Sonne nicht schien.

Er hob den Kopf. Und sah die Silhouette eines Mannes.

Der Mann, der einen Schirm über ihn hielt, lächelte Fabian an. Fabian lächelte zurück. Er kannte ihn nicht, aber er schien freundlich zu sein. Er lächelte. Sein Vater lächelte nicht. Selten. Eigentlich nie. Er sah ihn immer nur, wenn er müde und wenn er wütend war. Er sah immer nur sein zur Fratze verzerrtes Gesicht. Manchmal ganz nah.

„Ein Staudamm“, sagte der Mann interessiert. „Hab ich früher auch gebaut, als Kind.“

Fabian schaute den Mann an. Er konnte seine Augen nicht sehen. Der Mann trug eine Brille. Eine Sonnenbrille. Obwohl es regnete. Das fand Fabian komisch. Und eine Kapuze.

„Was ist mit deinen Augen?“, fragte Fabian.

Papas Augen sah er immer. Er sah, dass er müde war und er sah, dass er wütend war. Es nutzte nichts. Fabian wollte nicht, dass Papa müde und wütend war, aber er wusste einfach nicht, was er dagegen tun konnte. Deswegen tat er nichts und schwieg. Er wusste nicht, dass er nichts dagegen tun konnte.

Der Mann neigte den Kopf zur Seite und schwieg. Er lächelte, das konnte Fabian sehen.

„Du hast eine Sonnenbrille auf“, sagte Fabian, „aber es regnet doch. Die Sonne scheint nicht.“

Der Mann schwieg.

„Magst du die Sonne auch nicht?“, fragte Fabian. „Ich mag die Sonne auch nicht. Die Sonne tut mir weh. In meinem Kopf. In meinem Kopf tut mir die Sonne weh. Und das Licht. Es brennt in meinen Augen, in meinem Kopf.“

„Du bist oft hier“, sagte der Mann, „ich sehe dich hier oft, wenn es regnet.“

„Ja“, sagte Fabian, „ich mag den Regen.“

Er konnte sich nicht daran erinnern, den Mann jemals im Dorf gesehen zu haben. Oder hier am Bach. Hierher kamen nicht einmal die anderen Kinder, um ihn zu ärgern. Schon gar nicht, wenn es regnete.

„Ich auch“, sagte der Mann, „der Regen macht alles sauber. Nachher ist alles klar und rein.“ Er sprach langsam. „Kein Dreck, kein Schmutz. Der Regen verwischt alles. Alle Spuren. Er verwischt alle Spuren. Nichts mehr zu erkennen. Alles ist so schön sauber. Der Regen spült alles fort, nimmt es mit sich. Unauffindbar. Bleibt es verschwunden.“

Er schaute sich um. Rechts und links.

„Ich spiele gern mit Matsch“, sagte Fabian.

„Ja?“

„Ja, er ist so schön weich, fühlt sich gut an, in der Hand.“

„So schön weich“, wiederholte der Mann und machte einen Schritt zur Seite.

Der Regen tropfte Fabian unvorbereitet in die Augen. Er kniff die Augen zusammen und hob abwehrend die Hand vor das Gesicht. Zu spät. Er rieb sich das Wasser aus den Augen. In diesem Augenblick konnte er nichts sehen. Er sah nicht, was als nächstes geschah.

„So weich und zart“, seufzte der Mann. „So weich.“

Seine Stimme war plötzlich ganz dicht an Fabians Ohr. Der warme Atem drang ihm ins Ohr und streifte seine Wange. Er roch nicht gut. Es war unangenehm. Er roch sauer. Oder wie alter Käse. Trotzdem kitzelte es am Hals. Der Atem des Mannes oder seine Haare.

Er blinzelte und sah, dass der Mann von ihm in die Hocke gegangen war. Er sah aber nur einen verschwommenen Schatten, der Regen hatte seinen Blick verschleiert. Das Gesicht des Mannes war verschwunden, er konnte es nicht mehr erkennen. Und er sah nicht, was er in der Hand hielt. Die Hand kam näher. Wurde größer. Er spürte die Wärme der Hand.

Und sah nur noch die Hand. Auf seinem Gesicht. Warm und feucht. Und zittrig. Die Hand zitterte.

Fabian spielte gern im Regen. Er wusste, wo sich das Wasser sammelte und wo es floss, wo es plätscherte und wo es sprudelte. Er hatte sogar schon einmal versucht die Quelle zu finden. Das hatte er in der Schule gelernt, ein Bach, jeder Fluss, war er irgendwann auch noch so groß, hatte immer irgendwo eine Quelle. Irgendwo ging es los. Schmal, klein, plätschernd. Kam das Wasser aus dem Boden. Und meistens dauerte es lange bis es ein Strom war, um irgendwann ins Meer zu fließen. Da der Bach, in dem er so gern spielte noch recht klein war, dachte er, dass sich die Quelle nicht weit weg befinden konnte. Er wollte wissen, woher das viele Wasser kam, das ununterbrochen floss. Tag und Nacht. Wie ein Wunder, wie ein aufgedrehter Wasserhahn, aus dem unerschöpflich Wasser hervor sprudelte. Ja, jeden Tag und, so vermutete er, jede Nacht, auch wenn er nicht da war, auch wenn er im Bett lag, floss das Wasser. Auch wenn er es nicht sah. Das Wasser war da. Das Wasser floss, auch wenn Fabian es nicht sah. Es floss auch ohne ihn. Er wusste zwar, dass ein Teil des Wassers aus den Teichen kam, aber da war noch dieser andere Zulauf, der ihn tiefer in den Wald führte. Er war ihm gefolgt. Tief in den Wald hinein. Er hatte alles Mögliche gefunden, nur nicht die Stelle, an der das Wasser seinen Ursprung nahm.

Aber so hatte er schließlich die Hütte entdeckt. Die Hütte im Wald. Auch wenn er wusste, dass es verboten war; auch wenn er wusste, dass sein Vater wütend sein würde, wenn er es herausfinden würde. Er ging immer wieder dort hin. Selbst im Winter. Im Schnee fand er dann Spuren. Von Tieren. Er entdeckte eine Futterraufe. Er hatte lange gewartet und dann hatte es sie gesehen. Rehe. Zwei. Vier. Bis zu sechs große Tiere, die Heu fraßen. Er hatte sich in der Hütte versteckt. Und gewartet. Es hatte sich gelohnt. Er war ganz still gewesen. Im Wald, am Bach, im Schnee und im Regen, wenn er allein war, konnte er still sein. Beim ersten Mal war er ganz aufgeregt gewesen. Trotzdem war er ruhig geblieben. Und hatte den Tieren beim Fressen zugesehen. Er hatte beobachtet, wie sie immer wieder den Kopf hoben und sich umschauten. Die Ohren spitzten. Abwechselnd. Sich gegenseitig beschützend und aufeinander Acht gebend. Ein Tier schaute für die anderen. Ein Tier beobachtete aufmerksam die Umgebung, während die anderen fraßen. Ein Tier hielt die Augen und Ohren offen, während die anderen fraßen. Sie waren sehr aufmerksam. Wechselten sich ab. Aber ihn bemerkten sie nicht. Er blieb unbeweglich, unsichtbar und still.

Die Hütte war nicht verschlossen. Durch drei kleine Fenster fiel etwas Licht. Überall Spinnweben. Es schien lange niemand in der Hütte gewesen zu sein. Ein Tisch, eine an der Wand befestigte Bank, ein paar Stühle, ein altes Sofa. Ein Schrank. Und ein kleiner Ofen. Kalt. Lange erloschen. Aufgeschichtetes Holz. Alles in einem Raum. An einer Wand in der Ecke fand er sie. In der Hütte gab es eine Tür. Eine Tür im Boden. Kleiner als eine normale Tür. Er setzte sich auf einen Stuhl und schaute auf die Tür und fragte sich, was wohl darunter sein könnte. Er schaffte es, sie hoch zu heben. Eine kurze Treppe führte hinab. Es war dunkel. Dort unten. Er suchte eine Taschenlampe. Fand nichts. Aber die Neugierde war zu groß. Er wollte nicht warten. Er klemmte einen dicken Stock zwischen Tür und Boden und kroch hinunter. Nur wenig Licht fiel hinunter. Er tastete sich weiter nach unten. Nur ein paar Schritte, dann berührte er den Boden. Kalt und feucht. Er tastete sich an den Wänden entlang. Er konnte nur kriechen. Er bewegte sich langsam, lauschte. Hielt inne und lauschte wieder. Er hörte nichts. Weil es nichts zu hören gab. Es war vollkommen still um ihn herum. Und dunkel. So still und so dunkel. Fast ganz dunkel. Doch Fabian wurde immer ruhiger. In diesem kleinen Raum unter der Erde gab es nichts, was ihn aufregte. Er kroch zurück zur Tür und zog den Stock weg. Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür auf den Boden. Er kniff die Augen zusammen. Und rutschte hinunter auf den Boden. Er öffnete die Augen wieder.

Vollkommene Dunkelheit umgab ihn. Sein Herz schlug schneller. Es schlug ihm bis zum Hals. Er bewegte sich nicht. Er lehnte sich gegen die Treppe. Und beruhigte sich. Es war still. So still. Und stockdunkel. Sein Herz klopfte. Aber es war keine Angst, die es zum Klopfen brachte. Nein, er hatte keine Angst.

Er starrte in die Dunkelheit, hörte und fühlte sein Herz wieder langsam und gleichmäßig schlagen und wurde immer ruhiger. Er berührte mit den Händen den Boden und tastete um seinen Körper herum alles ab. Er schloss wieder die Augen und lauschte. Nichts. Es war nichts zu hören. Nicht einmal ein Rauschen in seinen Ohren.

Fabian liebte das Geräusch, das der Regen machte, wenn er auf die Kapuze seines Anoraks trommelte. Er liebte das Geräusch, wenn das Wasser sprudelte und plätscherte. Dieses Geräusch. Aber er liebte noch mehr dieses Geräusch in dieser Höhle unter der Erde. Das Geräusch der absoluten Stille. Sie war fast greifbar. Die Stille. Die Dunkelheit. Sie umhüllt ihn wie eine zweite Haut. Die Stille nahm in auf, legte sich um seinen Körper und wiegte ihn. Und so wurde es auch in ihm still. Keine Stimme seinem Kopf. Wenn er dort in der Dunkelheit saß, konnte er die Stille hören. Und er war ruhig.

Die Stimme des Mannes dicht an seinem Ohr war das letzte, was er hörte.

„Komm“, flüsterte er, „ich will dir etwas zeigen, Fabian. Etwas Schönes. Komm.“

Fabian fragte nicht nach, woher er seinen Namen kannte.

Er folgte ihm. Legte seine Hand in die des Mannes. Sie war groß und warm. Sie war groß und der Griff fest und sie ließ kein Zurückziehen zu.

Er würde weder diese Stille noch das Trommeln des Regens jemals wieder hören. Er spürte noch die Hand auf seinem Mund, roch etwas und versank in Dunkelheit. Er wurde ruhig.

Zurück blieben seine rote Schippe und ein grüner Plastikeimer, mit dem er Steine geholt hatte, um den Staudamm zu befestigen. Mit Holz, Steinen und Gras. Bis ein kleiner See entstand. Jeder seiner Staudämme hatte immer einen Ablauf. Nicht sein letzter. Sein letzter Staudamm wurde nicht fertig. Er wurde vom Wasser fortgespült.

Fabian galt ein Jahr lang als vermisst. Eine großangelegte Suchaktion der Polizei führte zu nichts. Die stark verweste Leiche wurde von einem jungen Pärchen, die einen stillen Ort suchten, in einer alten, seit Jahren nicht mehr benutzten Jagdhütte, in einem Loch im Boden gefunden. Die Leiche war nackt. Die Kleidung wurde nie gefunden.

Vermutlich hatte sich der Unbekannte an dem Jungen vergangen. Vermutlich vor dessen Tod und nach dessen Tod.

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