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TEARS
GO BY KAPITEL 4

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Mit den Worten »Jetzt spielen wir einen richtig alten Song« kündigt der fünfundsechzigjährige, ein extra eng geschnittenes schwarzes T-Shirt und eine entsprechende Hose tragende Mick Jagger dem Publikum im New Yorker Beacon Theatre das nächste Stück an. »Das ist einer der ersten Songs, den wir je geschrieben haben. Wir haben ihn dann jemand anderem gegeben, weil er uns ein bisschen peinlich war.« Wenn man Mick »As Tears Go By« in Martin Scorseses Konzertfilm Shine a Light aus dem Jahr 2006 singen sieht – der Song selbst war zu diesem Zeitpunkt zweiundvierzig Jahre alt –, wird man Zeuge eines der wenigen eindringlichen und nachdenklichen Momente, die die Shows der späten Rolling Stones zu bieten haben. Das ist ohne Frage ein nostalgischer Augenblick wie man ihn auf Konzerten älterer Rockstars zwar auch nicht eben selten erlebt, doch der Song hat noch immer dieselbe Wirkung wie 1964, als Mick und Keith ihn komponierten (Mick schrieb den Großteil der Lyrics und die Gesangsstimme, Keith steuerte die wehmütige Akkordfolge bei). Die langsame Nummer zeigt uns die Rolling Stones von einer Seite, die nur selten beachtet wird: die der grüblerischen Folkies. Das ist kein Wunder, denn in den Stadionshows spielen die stimmungsvollen, ruhigen Songs kaum eine Rolle. Dennoch ist diese Seite der Musiker, die Mitte der 60er neben »Get Off of My Cloud« auch »Heart of Stone« und »Play with Fire« schrieben, nicht etwa verkümmert. Wenn sie gelegentlich in kleinen Clubs oder Theatern wie dem Beacon auftreten, kommt diese andere Seite zum Vorschein und uns wird wieder bewusst, welche emotionale Bandbreite die Musik dieser Band auszeichnet.

Viele vermuten, dass die Stones, wenn es nach Brian Jones gegangen wäre, nie etwas anderes als schnörkellosen Delta- und Chicago-Blues gespielt hätten. Das mag der Grund dafür gewesen sein, dass Andrew Oldham aus Mick und Keith das Songschreiberduo machte und nicht etwa aus Keith und Brian oder Mick und Brian. Dabei ist Brian in dem Moment, als sie anfingen, ihre eigenen Nummern zu schreiben, fraglos ihr bester Instrumentalist und Arrangeur gewesen. So verhalf er »Ruby Tuesday« mit seinem großartigen, getragenen Blockflötenspiel fast zu einer zweiten Melodiestimme, er steuerte die jazzige Marimba zu »Under My Thumb« bei, die stilvollen Zitherklänge zu »Lady Jane« und die finster brummende Sitar zu »Paint It Black«. Auch einige avantgardistisch angehauchte Standardblues- und Akustiknummern gehen auf sein Konto. »Stray Cat Blues« und »Street Fighting Man« auf Beggars Banquet waren seine letzten großen Beiträge als Zuarbeiter für Jagger /Richards.

»As Tears Go By« ist der Song, mit dem alles anfing. Ein Zufallsprodukt, das zeigte, dass die Stones nicht nur Songwriter waren, nicht nur Rebellen, sondern auch Romantiker, die man nicht einfach als Rabauken abtun konnte. Mick Jagger, der längst zum Sexidol avanciert war, wurde dank dieses Songs nun auch als Poet wahrgenommen. Das ist ein großartiges Verdienst für eine Nummer, die eigentlich nur auf Oldhams Drängen hin geschrieben wurde. Oldham, der wusste, wie viel die Beatles allein durch den Verkauf von Notenblättern und die Rechte an ihren Songs einnahmen, dachte dabei nur ans Geld – und Mick und Keith lieferten ihm ein Kunstwerk.

»As Tears Go By« war ein Song für eine Frau, eine Mädchen-Nummer. Mick und Keith trauten sich erst gar nicht, ihn für eine Aufnahme mit der Band vorzuschlagen (die erste Eigenkomposition, die für wert befunden wurde, ein Stones-Titel zu werden, war das Anfang 65 geschriebene »The Last Time«). Hätten die Stones etwas für sich selbst geschrieben, wäre dabei kaum eine so empfindsame und softe Nummer herausgekommen wie »As Tears Go By«.

Nicht selten verdanken die größten Kunstwerke ihre Entstehung der ursprünglichen Absicht, eine Frau zu beeindrucken. Und die hieß in diesem Fall Marianne Faithfull, eine ehemalige Klosterschülerin mit einem hübschen Gesicht und einer guten Figur, oder wie Oldham es ausdrückte »ein Engel mit dicken Titten«. Die jungen Stones und ihr Manager waren aber nicht nur aus diesem Grund von der jungen Dame angetan. Marianne Faithfull war die Tochter von Eva von Sacher-Masoch und dem hochangesehenen Offizier und Intellektuellen Major Robert Glynn Faithfull. Ihr Großonkel war der berüchtigte Leopold von Sacher-Masoch, dessen erotische Erzählungen (die berühmteste ist wohl »Venus im Pelz«) Verhaltensweisen schilderten, für die später der Begriff »Masochismus« geprägt wurde. Faithfull war zwar durchaus gebildet, jedoch in sexueller Hinsicht ziemlich unerfahren. Die perfekte Tochter für das neue Zeitalter. Außerdem war sie – wie Mick, der sie unwiderstehlich fand, wiederholt zu hören bekam – bereits vergeben. 1965 heiratete sie den drei Jahre älteren Kunstmagnaten John Dunbar, ein Mitglied der besten Londoner Kreise.


© Dezo Hoffmann/Rex USA

Mit Partnerin und Muse Marianne Faithfull, 1968.

»John rief mich an und schwärmte, er habe diese ganz und gar außergewöhnliche Frau kennengelernt, in die er sich Hals über Kopf verliebt habe. Sie sei so wunderschön und atemberaubend, ich müsse sie unbedingt kennenlernen«, sagt Peter Asher, der mit John Dunbar befreundet war. »Also traf ich sie, und alles, was er gesagt hatte, stimmte. Ich dachte: ›Junge, Junge, John hat wirklich den Vogel abgeschossen. Sie ist absolut umwerfend, sehr intelligent – einfach in jeder Hinsicht perfekt.‹«

Asher begleitete die beiden an einem Abend im März 1964, der das Leben von Marianne Faithfull nachhaltig verändern sollte. Gemeinsam besuchten sie eine Party anlässlich einer Plattenveröffentlichung der italienischen Sängerin Adrienne Posta. Zu Gast waren dort auch Andrew Loog Oldham und die Stones. »Marianne kannte sie noch nicht persönlich. Andrew hatte sie wohl zuerst entdeckt, aber ich bin mir sicher, dass auch Mick nicht lange brauchte, um auf sie aufmerksam zu werden. Sie war einfach phänomenal. Sie konnte einen ganzen Raum erstrahlen lassen. Andrew ging zu ihr und fragte sie: ›Kannst du singen? Wir werden eine Platte mit dir aufnehmen. Du wirst ein Star.‹ Dann fragte er die Stones: ›Schreibt ihr einen Song für das Mädel?‹«

Die Stones, bei deren Auftritten sich damals bereits Hunderte weiblicher Teenager vor Aufregung und Verzückung in die Hosen machten, beeindruckten Marianne Faithfull nicht sonderlich. »Zu dieser Zeit waren die Stones kaum mehr als rüpelhafte Schuljungs«, erinnert sie sich in ihrer Autobiografie. »Sie hatten nicht den Schliff eines John Lennon oder eines Paul McCartney, und im Vergleich zu meinem John wirkten sie erst recht grobschlächtig und flegelhaft.«

Mick, Keith, Brian und Oldham waren Asher zufolge hingerissen von diesem »selbstsicheren, wohlerzogenen Mädchen aus der Oberschicht«. Aber Faithfull hatte kein Interesse daran, Popsängerin zu werden, und Mick und Keith wollten ihre knapp bemessene Freizeit nicht unbedingt mit Arbeit verbringen – noch nicht einmal, wenn es dabei um eine sehr attraktive Frau ging. Oldham ließ jedoch nicht locker, denn er hatte einen für sie alle nützlichen und äußerst lukrativen Plan. »Ich war davon überzeugt, dass die Leute alles, was sie meiner Meinung nach sein konnten, am Ende auch werden. Mick und Keith jammerten und stöhnten unentwegt, sie seien von all ihren Gigs zu erschöpft, um auch noch Songs zu schreiben.« Oldham ließ nicht locker und redete unablässig auf Marianne Faithfull ein, was diese zumindest ein bisschen neugierig machte. Sie gab zwar nicht viel auf seine Versprechungen und hochfliegenden Pläne, spürte allerdings, dass sie es hier mit einem Original zu tun hatte, jemandem, den man sich mal näher ansehen sollte. Als sie die Party verließ, ahnte sie, dass sie Oldham wiedersehen würde. Sie hatten die Telefonnummern ausgetauscht, aber weiter keine verbindlichen Verabredungen getroffen.

Nicht nur Marianne, auch Mick war schon vergeben – wobei sich die junge Frau für Jaggers Beziehungsstatus seinerzeit wohl kaum interessiert haben dürfte. Seit mittlerweile zwei Jahren war er mit Chrissie Shrimpton liiert, die seinerzeit ein vorzüglicher Fang gewesen war, als die Stones noch kurz vor dem Durchbruch standen. Manch einer vermutete, dass es Mick, nachdem er nun gesellschaftlich etabliert war, darum ging, in der sozialen Hierarchie weiter aufzusteigen (und Marianne Faithfull konnte ihm zweifellos helfen, ein paar Stufen weiter emporzuklimmen). Wahrscheinlicher ist allerdings, dass aus der Beziehung zwischen Jagger und Shrimpton, auf die sich die beiden eingelassen hatten, als sie noch sehr unerfahren waren, inzwischen die Luft raus war. Shrimpton, die eine Zeit lang für Oldham und das Stones-Label Decca gearbeitet hatte, fühlte sich von ihrem beruflich komplett in Anspruch genommenen Partner mehr und mehr entfremdet. Durch das ständige Touren und die permanenten Versuchungen, denen sich der Sänger ausgesetzt sah, wurde die Verbindung zwischen ihnen mehr und mehr zerrüttet. Seit dem Tag, als Mick Jagger Marianne Faithfull zum ersten Mal gesehen hat, muss er sich wohl nach einer Freundin gesehnt haben, die nicht unablässig Bestätigung fordert. Für einen Teenager schien Faithfull außergewöhnlich unabhängig zu sein. Jemand wie sie würde ihn sicher nicht nur verstehen und mit seinem Leben Schritt halten können, sondern ihm eventuell auch helfen, sich von der stickigen, engen Bluesszene zu emanzipieren und ein neues London zu entdecken: das der Wohlhabenden und Intellektuellen. Er wird sich vorgestellt haben, wie sie ihm sagt, welche Bücher er lesen, welche Gemälde er sich anschauen und welche Filme er sehen muss. Und in seiner Fantasie wird sie ihm geholfen haben, erwachsener zu werden, ohne zu verlangen, dass er der allgemein verpönten Musik und ihrer Szene, die ihm beide viel bedeuteten, den Rücken kehrte. Seine Studienzeit an der LSE und der kürzlich unternommene Ausflug in die bessere New Yorker Gesellschaft hatten ihm einen Einblick in ihre Welt gewährt, und was er gesehen hatte, hatte ihm durchaus gefallen. Mit Marianne Faithfull an seiner Seite, könnte sich Mick in eine Art modernen Lord Byron verwandeln – der ewig suchende Romantiker –, während er zugleich mit seinen Kumpels abhängen, Billard spielen und durch die Kneipen ziehen konnte. Das wäre doch absolut großartig, wird Mick gedacht haben. Diese Idealvorstellung ließ ihn von dem Augenblick an, als er Marianne zum ersten Mal gesehen hatte, nicht mehr los, und er setzte alles daran, sie wahr werden zu lassen. Micks Interesse an Marianne war nicht allein sexueller Natur, für ihn war sie auch so etwas wie ein Schlüssel zu seinem neuen Selbst. Mit der poetischen, romantischen Bildsprache in »As Tears Go By« gelang es ihm womöglich unbewusst, dieses Selbst aus seinem Kokon zu befreien.

Als Oldham Mick und Keith aufforderte, einen Song für Marianne zu schreiben, nannte er kein konkretes Beispiel, auf das sie zurückgreifen konnten, sondern artikulierte nur eine ziemlich vage Idee: »Ich will einen Song, der von Backsteinmauern und hohen Fenstern umgeben ist, und in dem es nicht um Sex geht«. In »As Tears Go By« schlug sich eine Mischung aus Micks Frustration, seiner Fantasie und seiner Intelligenz nieder. Was er schrieb, trieb ihn damals noch nicht selbst um, aber wie alle großen Künstler konnte er etwas, von dem er wusste, dass es andere Menschen bewegte, überzeugend präsentieren. Es war nicht seine eigene Wahrheit, die sich darin offenbarte, sondern eine universelle. Nur eine Gitarre und jede Menge Zigaretten hatten Mick und Keith dabei, als sie den Song schrieben, eingesperrt in die Küche des Apartments, in dem sie damals alle wohnten.

Shrimpton ließ man nicht an sie heran, während sie schrieben. Keith zupfte die Akkorde, Mick summte die Melodie und kritzelte den Text mit Bleistift auf ein Blatt Papier. Keiths Akkordwechsel hatten etwas geradezu Zwingendes, Forderndes, während Micks Lyrics überraschend sanft und nachdenklich waren. Sie nannten den Song »As Time Goes By«, waren jedoch etwas unsicher wegen der namentlichen Übereinstimmung mit der berühmten Ballade aus dem Filmklassiker Casablanca. »Was habt ihr zustande gebracht?«, fragte Oldham, als er am Morgen zu ihnen in die Küche kam. »Mick, der total angesickt und halb verhungert war, erklärte mir, sie hätten diesen verfickten Song jetzt geschrieben und ich täte gut daran, ihn verfickt noch mal zu mögen«, so Oldham in seiner Biografie.

Und Oldham fand ihn gut. Auf der Stelle packte ihn das Arbeitsfieber: Er mietete ein Aufnahmestudio, benachrichtigte Faithfull und holte sich Verstärkung in Form von Lionel Bart, dem gefragtesten Songwriter der Tin Pan Alley und Komponist des Musicalhits Oliver!, der mit »I Don’t Know How to Tell You« eine weitere starke Komposition zu Faithfulls Debütsingle beisteuerte. Erst eine Woche war seit ihrem Kennenlernen auf der Party vergangen und der Masterplan war schon ausgearbeitet. Für die Aufnahmen trafen sich Marianne Faithfull, Andrew Oldham, Mick und Keith in den Olympic Studios, in denen die Stones bald selbst einige ihrer herausragendsten Alben aufnehmen würden. Der Sängerin fiel auf, dass Jagger und Richards im Regieraum etwas angespannt und sichtlich nervös waren. Sie wirkten auf sie an diesem Tag wie ausgewechselt. Ihr wurde eine Aufnahme des Songs vorgespielt, bei der Mick sang und ein Studiomusiker Akustikgitarre spielte. Die Nummer besaß eine Tiefe, mit der sie nicht gerechnet hatte. Tränen werden hier nicht »vergossen«, sie »gehen vorbei«. Sie werden zu einem Teil der Erinnerung. Während die Sonne langsam untergeht, beobachtet ein lyrisches Ich spielende Kinder aus einiger Entfernung. »Doin’ things I used to do, they think are new«, sang Mick auf dem Demo, und in der Interpretation dieser großartigen Zeile klang eine Aufrichtigkeit mit, die nichts mehr gemein hatte mit dem Image des rüpelhaften Bluessängers, sondern eher klang wie der sanfte Gesang eines Folkmusikers oder sogar einer Chansonnière.

Als die Session begann, änderte Oldham seinen Masterplan leicht ab. Die A-Seite wurde zur B-Seite, sodass »As Time Goes By« (den Oldham nun »As Tears Go By« nannte und dafür einen Credit als Koautor einheimste) nun der Song war, mit dem Marianne Faithfull ihr Debüt als Sängerin gab. Oldham war klar, dass es die bessere Nummer war, und er hoffte, mit diesem Schritt Micks und Keiths Selbstvertrauen zu stärken, damit sie ihm in Zukunft mehr davon lieferten. »Er hatte tatsächlich etwas von einer Françoise-Hardy-Nummer«, erinnert sich Faithfull. »Vielleicht hatte Mick so was in der Art mit mir assoziiert, als wir uns kennenlernten. Leicht existenzialistisch mit einem Hauch von San Remo Song Festival. Die Art von Euro-Pop, die aus französischen Jukeboxes dröhnt. Vielleicht war es auch das, was Andrew in mir sah, als er mich auf der Party traf, und dann hat er Mick beauftragt, so was für mich zu schreiben; Andrew stand schon immer auf solche Sachen.« Oldham gab Marianne Faithfull den Text, den Mick auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte, und den sie einstudierte, ohne ausreichend Zeit zu haben, sich richtig in die Atmosphäre des Songs hineinzuversetzen. Ebenso wie Mick folgte sie nur ihrem Instinkt, irgendeiner mysteriösen inneren Stimme. Damals spielte man Songs noch sehr schnell ein, man experimentierte nicht lange damit herum. Faithfulls Version wirkt infolgedessen ein bisschen steif, mit ihrer nervösen Stimme artikuliert sie die einzelnen Zeilen etwas zu exakt (»Rain fowl-ing on the ground«).


© Rex USA

David Bailey porträtierte Mick Jagger als Romantiker im Pelz, 1965.

Mick und Keith beobachteten sie vom Regieraum aus, während sie sang. Der Song löste irgendetwas aus – in Mick und in Marianne Faithfull. Die Session war schnell vorüber, für den Song wurden nur zwei, drei Takes gebraucht. Sie verließen das Studio gemeinsam und fuhren Faithfull zum Bahnhof zurück. Das im Juni 64 beim Stones-Label Decca veröffentlichte »As Tears Go By« wurde ein Hit, genau wie Oldham es vorhergesagt hatte. Es war Faithfulls erster Schritt auf dem Weg, eine große, mythenumrankte Popikone zu werden, außerdem begründete dieser Song ihre Verbindung zu den Stones. Auch wenn von einer Liebesbeziehung zu Mick damals noch gar keine Rede sein konnte, so markiert »As Tears Go By« doch den Beginn einer Romanze, die sie in der kollektiven Erinnerung auf ewig miteinander verbindet.

Obschon Mick den Song öffentlich als »Mädchenkram« abtat, wusste er, dass ihm diese Ballade neue Türen öffnete, dass sie ihm erlaubte, von nun an auch mit diesem Genre zu experimentieren. Schon wenig später nahmen die Stones auch langsame Titel in ihr Repertoire auf, etwa Arthur Alexanders melodramatisches »You Better Move On« und ihr eigenes »Tell Me«. Und zu guter Letzt spielten sie »As Tears Go By« auch selbst ein. Veröffentlicht im Dezember 65, markierte diese Aufnahme den Ausklang eines Jahres, das musikalisch gekennzeichnet war von Hits wie »Yesterday« und »You’ve Got to Hide Your Love Away« von den Beatles, Dylans »Desolation Row« und »Go Now« von Moody Blues. Zusammen mit Jaggers Version von »As Tears Go By« standen all diese Songs am Beginn einer neuen Ära klassisch-melancholischer Popmusik, die noch so unter die Haut gehende Meisterwerke hervorbringen sollte wie »Waterloo Sunset« von den Kinks und »Walk Away Renée« von Left Banke. »Das Geheimnis guter Songwriter ist, woher sie kommen«, konstatiert Asher. »Als ich die Nummer zum ersten Mal hörte, dachte ich: ›Oh, wow, solche Songs können Mick und Keith schreiben. Sie versuchen nicht mehr nur, ihre R’n’B-Idole zu kopieren.‹ Es liegt auf der Hand, warum sie immer noch dabei sind.«

Das sieht Marianne Faithfull genauso: »Es ist ein absolut außergewöhnlicher Song für einen Zwanzigjährigen. Ein Song über eine Frau, die mit nostalgischen Gefühlen auf ihr Leben zurückschaut. Das Unheimliche daran ist, dass Mick diesen Text schrieb, lange bevor das alles (mit uns) passierte. Es ist so, als würde unsere gesamte Beziehung in diesem Song vorweggenommen. Eine Menge Leute haben das so gesehen.«

1966 hatte Mick Mariannes Herz schließlich erobert. Er hatte sich von Chrissie Shrimpton getrennt, hatte Marianne John Dunbar ausgespannt und sogar die kurze Phase ausgestanden, als sie sich anfänglich in Keith verguckt hatte. Innerhalb eines Jahres wurden sie zu dem gefeierten Thronfolgerpaar eben jener Chelsea-Szene, zu der Mick partout hatte gehören wollen. Gewiss, mit der Zeit ging auch ihre Beziehung in die Brüche, doch in der Mythenwelt des Pop bleiben sie für immer verbunden. Als Martin Scorsese »As Tears Go By« für Shine a Light filmte, zeigte er Mick majestätisch im Profil; mit seiner mit dem Alter tiefer gewordenen Stimme artikuliert er jedes Wort ganz deutlich, wie ein Darsteller in einem Shakespeare-Drama, der den Lear oder den Prospero gibt: langsam, bedächtig und wahrhaftig. Auch Marianne Faithfull nahm den Song noch einmal auf, als sie schon älter war. »Ich spielte ihn noch mal ein, als ich vierzig war«, sagte sie, »und das war genau das richtige Alter und ich war in der richtigen Verfassung, ihn zu singen. Erst da empfand ich die poetische Melancholie, die dem Song innewohnt.«

»Es ist eine Metapher für das Alt-Sein: Man beobachtet die Kinder beim Spielen und erkennt, dass man selbst kein Kind mehr ist«, erläuterte Jagger 1995. »Verglichen mit den restlichen Sachen von damals ist das ein ziemlich reifer Song. Und wir haben (anfangs) gar nicht daran gedacht, ihn selbst aufzunehmen, weil die Rolling Stones doch so eine virile Bluescombo waren.« Nach »As Tears Go By« waren sie viel mehr als das.

Als ich Marianne Faithfull für die Vanity Fair-Website interviewte, fragte ich sie, ob sich ihr Verhältnis zu dem Song über die Jahre verändert habe. »Das hat sich in der Tat verändert«, antwortete sie. »Aber ich mag ihn immer noch sehr. Weil er wirklich gut ist. Eine Menge Leute hatten nicht das Glück, einen so guten Stones-Song als Coverversion einspielen zu können. Ich bekam den besten.« Als ich sie darauf hinwies, dass sie der Band durchaus auch etwas gegeben hätte, nämlich einen Riesenhit, der ihnen ein bisschen Selbstvertrauen gab, um sich dem neuen, gefühlvollen, feminin angehauchten Trend in der Musik zu öffnen, stimmt sie mir zu. »Ja, das habe ich sicher getan.« Vor dem Hintergrund von Micks eindrucksvoller Darbietung in Shine a Light (den sie anscheinend nicht gesehen hat) frage ich sie, wie es sich für sie anfühlt, »As Tears Go By« heute zu singen, wo sie die sechzig bereits überschritten hat. »Er kommt mir vor wie ein sehr alter Freund«, antwortet sie.


© Gamma-Keystone via Getty Images

Mick Jagger und Marianne Faithfull auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung, in der beide des unerlaubten Drogenbesitzes beschuldigt wurden, 1969.

Mick Jagger

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