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2 Hin zum Ende der Zeiten

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Das ist das Erstaunliche, Jude, dass derjenige, den du gekreuzigt hast, nach der Kreuzigung deine Stadt zerstört, dann dein Volk auseinandergetrieben [hat].

Johannes Chrysostomos

Wir kehren zurück zum Sommer 614. Chosrau II. gelang es, die Byzantiner wieder und, wie es schien, diesmal endgültig aus Syrien zu vertreiben. Die Perser eroberten Palästina und die Stadt Jerusalem. Wie den Quellen zu entnehmen ist, wurde der persische General bei seinem Marsch auf die Stadt von einer großen Zahl Juden unterstützt, die dabei sein wollten, wenn die Perser die Christen aus Jerusalem vertreiben würden. Hierüber schreibt Sebeos:

„Dann unterwarf ganz Palästina sich freiwillig dem König der Könige [Chosrau]. Vor allem die Letzten des Jüdischen Volkes lehnten sich gegen die Christen auf und veranstalteten ein Gemetzel unter der Menge der Gläubigen. Die Juden schlossen sich den Persern an.“

Man sieht, und es ist auch verständlich, dass die Juden in Syrien und Palästina die Perser als Befreier empfanden. Sie hofften, dass sie mit ihrer Hilfe wieder die Herren ihres Schicksals und ihres eigenen Landes sein würden. Vermutlich hatten sie den Persern sogar schon früher geholfen. Als nämlich diese 611 vor Antiochien standen, sorgte ein jüdischer Aufstand in der Stadt dafür, dass sie in persische Hände fiel. Das wurde als Verrat angesehen und fachte den Judenhass bei den Christen nur noch mehr an. Jetzt, drei Jahre später, erschienen die Juden im Gefolge von Scharbaraz vor ‚ihrer‘ Hauptstadt Jerusalem. Jerusalem war damals überwiegend christlich; die meisten jüdischen Bewohner waren längst aus der Stadt verbannt. Die Eroberung geriet zu einem Blutbad – das jedenfalls wollten die Christen, die den Fall der Stadt beschrieben haben, deutlich machen. Die ausführlichste Beschreibung stammt von Strategios vom Sabaskloster, einem Mönch vom Kloster Mar Saba. Es ist kein Augenzeugenbericht, doch Strategios hat sehr wahrscheinlich mit Flüchtlingen gesprochen. Das Fehlen bestimmter Details, wie das Wegschaffen des Heiligen Kreuzes und die Rückkehr der Perser (welche die vorübergehende Herrschaft der Juden beendete), lassen vermuten, dass dieser Bericht recht kurz nach dem Fall der Stadt geschrieben sein muss. Danach verbreitete er sich dank eines weitgespannten Netzwerks sehr schnell und hat sicher zu der Panik im Byzantinischen Reich nach dem Fall Jerusalems beigetragen. Strategios beschreibt die persischen Eroberer nämlich als wahre Tiere:

„Danach kamen die bösartigen Verbrecher in die Stadt, in großer Wut, wie wilde Tiere und gereizte Schlangen. Die Männer, welche die Stadtmauer verteidigt hatten, flüchteten und versteckten sich in Höhlen, Gräben und Brunnen, um sich zu retten. Und das Volk flüchtete sich zuhauf zu den Altären in den Kirchen, und dort wurden sie von ihnen vernichtet. Denn der Feind kam in riesiger Wut hinein, zähneknirschend und voll Hass. Sie schrien wie wilde Tiere, brüllten wie Löwen, zischten wie gefährliche Schlangen und töteten jeden, den sie finden konnten. Wie tollwütige Hunde zerrissen sie das Fleisch der Gläubigen mit den Zähnen und respektierten nichts und niemanden, weder Mann noch Frau, jung oder alt, weder Kind noch Säugling, Priester oder Mönch, keine Jungfrau und keine Witwe […].“

So geht es noch weiter. Die Perser vergriffen sich auch an christlichen Kirchen:

„Heilige Kirchen wurden in Brand gesteckt, andere abgerissen, majestätische Altäre fielen ihnen zum Opfer, heilige Kreuze wurden mit den Füßen getreten. Leben schenkende Ikonen wurden von den Unreinen bespien. Sie kühlten ihre Wut an Priestern und Diakonen; sie ermordeten sie in ihren Kirchen wie das stumme Vieh.“

Als die Perser von all dem Schlachten müde geworden waren, ersannen sie eine List. Ihr Anführer Rasmi Ozda ließ ausrufen, dass die Überlebenden zum Vorschein kommen könnten; er bot ihnen Frieden an. Als alle zusammengekommen waren, selektierten die Perser nützliche Handwerker aus, um sie nach Persien wegzuführen. Aber:

„Er packte den Rest und schloss sie ein im Wasserreservoir von Mamel, das außerhalb der Stadt liegt, etwa zwei Stadien vom Turm Davids entfernt. Und er beauftragte die Schildwachen, die zu bewachen, die in dem Graben eingeschlossen waren. O meine Brüder, wer kann sich die Entbehrungen vorstellen, die die Christen an dem Tag erleiden mussten? Denn durch die große Menge an Menschen erstickten sie einander, und Väter und Mütter starben zusammen durch die dumpfe Luft dort. Wie Schafe, die zum Schlachten bestimmt sind, wurde die Menge der Gläubigen aufs Schlachten vorbereitet. Der Tod kündigte sich von allen Seiten an, denn die enorme Hitze, wie von Feuer, verzehrte die meisten, während sie einander tottraten wie in einer Presse. Und viele starben so nicht durchs Schwert.“

Die Juden, die mit ihnen gekommen waren, taten es den Persern gleich. Den Christen, die Juden werden wollten, boten sie an, sich freizukaufen:

„Danach, als die Juden, die Feinde der Wahrheit und Hasser des Christus, erkannten, dass die Christen dem Feind ausgeliefert waren, freuten sie sich riesig, denn sie hassten die Christen. Und sie ersannen einen bösartigen Plan, wie er zum gemeinen Charakter dieses Volkes passt. Denn für die Perser waren sie sehr wichtig, weil sie die Verräter der Christen waren. Und da gingen die Juden an den Rand des Reservoirs und riefen die Kinder Gottes, die dort eingeschlossen waren, und sagten: ‚Wenn ihr dem Tod entgehen wollt, müsst ihr Juden werden und Christus abschwören. Und dann dürft ihr von eurem Platz aufstehen und zu uns kommen. Wir werden euch freikaufen und wir werden euch helfen‘. Doch ihr Plan und Wunsch ging nicht in Erfüllung, ihre Anstrengungen waren vergebens. Denn die Kinder der heiligen Kirche wählten lieber den Tod für Christus statt eines gottlosen Lebens.“

Darauf beschlossen die Juden (immer noch laut Strategios), trotzdem einige Christen freizukaufen, das aber geschah – alles dem Mönch zufolge – nur, um sie anschließend töten zu können. Als alle Christen weggeführt oder ermordet waren, setzten die Juden das Zerstörungswerk der Perser fort:

„Als die Menschen nach Persien weggeführt und die Juden in Jerusalem zurückgeblieben waren, fingen sie selbst an, die heiligen Kirchen, die noch stehengeblieben waren, abzureißen und in Brand zu stecken.“

Strategios hinterlässt uns eine umfangreiche Aufzählung aller Orte, an denen Christen angeblich ermordet wurden, dazu die Zahl der Getöteten, und kommt dabei auf über 60.000.

Archäologische Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die Zerstörung der Perser weit weniger groß war. Es sieht eher danach aus, als habe General Scharbaraz, der Ruhe und Ordnung erhalten wollte, die Stadt schonen wollen und den christlichen Magistrat bestätigt. Aber er begrüßte es (oder konnte es nicht verhindern), dass ganze Gruppen von Juden sich Zugang zur Stadt verschafften. Sebeos berichtet:

„Anfangs unterwarfen die Einwohner Jerusalems sich freiwillig, und sie boten dem General und den Fürsten sehr große Geschenke an und baten darum, Stadträte zum Schutz der Stadt zu berufen, die ihnen günstig gesinnt waren. Doch nach wenigen Monaten taten sich alle tapferen jungen Leute der Stadt zusammen und ermordeten die Räte des persischen Königs. Dann weigerten sie sich, ihm [Scharbaraz] noch länger zu dienen. Es kam zu einer Schlacht unter den Einwohnern der Stadt, Juden und Christen. Die Schar der Christen wurde stärker, überfiel und tötete viele Juden. Die übrigen [Juden] sprangen von den Mauern und schlossen sich dem persischen Heer an.“

Der christliche Sebeos war sichtlich beeindruckt von der ‚tapferen‘ christlichen Jugend. Doch die Ermordung der persischen Räte war ein schwerer Fehler. Scharbaraz kehrte nach Jerusalem zurück und belagerte die Stadt. Seine Rache war schrecklich:

„Am neunzehnten Tag […] eroberten die Perser die Stadt, gebrauchten ihre Schwerter drei Tage lang und töteten alle Menschen in der Stadt […], steckten die Stadt in Brand. Die Soldaten bekamen dann den Befehl, die Leichen zu zählen. Die Zahl stieg auf 17.000. 35.000 Menschen wurden gefangengenommen, unter ihnen auch den Patriarchen namens Zacharias und den Hüter des Kreuzes. Die Perser suchten das Leben schenkende Kreuz und begannen sie zu foltern, während sie viele Geistliche enthaupteten. Schließlich wiesen sie [die Geistlichen] den Platz an, wo das Kreuz versteckt war. Die Perser verschleppten es und schmolzen auch alles Gold und Silber in der Stadt und nahmen es mit an den Königshof.“

Die Perser hatten die christliche Welt zutiefst gedemütigt. Sie hatten die heiligste aller Städte erobert und Zacharias, Patriarch von Jerusalem, und die wichtigste Reliquie, das Heilige Kreuz, nach Ktesiphon verschleppt. Die entsetzliche Nachricht erreichte Konstantinopel im Juni 614. Der Schreck und die Empörung waren gewaltig. Der Fall Jerusalems gab dem Krieg eine ganz andere Richtung: Es war ein Zeichen, dass die ganze Christenheit von dem furchtbarsten Feind bedroht wurde, den der Teufel je hervorgebracht hatte. Der Krieg zwischen Byzanz und Persien war von dem Augenblick an ein Kampf zwischen Gut und Böse.

Das Byzantinische Reich musste alles daran setzen, diesen Feind zu schlagen. Das bedeutete nicht nur den Einsatz aller verfügbaren ökonomischen und militärischen Mittel gegen den Feind von außen, sondern auch strenge Maßnahmen gegen die Feinde innerhalb des Reiches. Mit anderen Worten: gegen die Juden. Nicht nur, weil sie Verräter waren und den Persern halfen; es gab auch eine theologische Dimension. Dieser Kampf auf Leben und Tod war möglicherweise der Beginn der Endzeit. Das christliche Reich musste ein für alle Mal von allen ketzerischen und jüdischen Makeln befreit werden. Kurz nach dem Fall von Jerusalem verbot Kaiser Herakleios im gesamten Reich alle jüdischen Gottesdienste und Gebräuche. Die Juden sollten, soweit es an ihm lag, wählen: sich bekehren oder verschwinden. Es war der End- und Höhepunkt eines langen Prozesses, denn die Juden gingen schon sechs Jahrhunderte lang gebückt unter dem Joch immer strengerer Gesetze. Wir erinnern uns:

Seit sich die Römer für das östliche Mittelmeergebiet interessierten, also im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr., machten sie die Bekanntschaft mit jüdischen Kaufleuten und Emigranten. In jener Zeit fand man in vielen Städten rund um das östliche Mittelmeer große, blühende jüdische Gemeinschaften. Historiker sind der Ansicht, dass das Judentum damals auf Nichtjuden eine große Anziehungskraft ausgeübt haben muss und dass diese Gemeinschaften zum vielleicht größten Teil aus Konvertiten und ihren Nachkommen bestanden. Dieser Erfolg war teilweise der Septuaginta zu verdanken, der Übersetzung der hebräischen und aramäischen Bibel ins Griechische, die im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien entstanden war. Von da an konnte sich die griechisch sprechende Elite mit der uralten Geschichte des jüdischen Volkes vertraut machen. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung, etwa um das Jahr 200, waren schätzungsweise zehn Prozent der Bevölkerung des Römischen Reiches jüdisch. Die römischen Autoritäten beobachteten es voller Argwohn. Für sie war die Kaiserverehrung und die öffentliche Huldigung ihrer traditionellen Götter das Fundament, auf dem die Einheit des Reiches beruhte. Die Juden verweigerten ihre Teilnahme. Schon im 1. Jahrhundert v. Chr. beklagten römische Schriftsteller wie Cicero das Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in Rom. Dreimal wurden sie aus der Stadt verbannt, doch diese Maßnahme zeitigte keine oder nur vorübergehende Wirkung. Spätere Kaiser versuchten aktiv, die Bekehrung nichtjüdischer Männer zu beenden. So verbot Kaiser Antoninus Pius (reg. 138–161) die Beschneidung von Männern, die nicht als Juden geboren waren.

Um das Jahr 60 v. Chr. überfielen die Römer das selbstständige jüdische Königreich in Palästina und degradierten es zum römischen Vasallenstaat. Gut dreißig Jahre lang war Herodes (gen. der Große) der „König der Juden“. Aber einige Jahre nach seinem Tod griffen die Römer ein und machten Palästina weitgehend zu einem Teil des Römischen Reiches. Die Römer respektierten die jüdische Religion und die jüdischen Bräuche. So brauchten die Juden dort den Kaiser nicht als Gott zu verehren. Doch nach einer Zeit der Ruhe und des wirtschaftlichen Wohlstands brach im Jahre 66 n. Chr. ein Aufstands gegen die römische Herrschaft aus, den die Römer nur mit größter Mühe niederschlagen konnten. Das taten sie am Ende mit einer Unbarmherzigkeit, wie man sie in dieser Zeit von ihnen gewohnt war. Als das ganze Land in Schutt und Asche gelegt war, verschanzten sich die jüdischen Kämpfer in Jerusalem. Die Stadt wurde belagert und erobert, die Menschen wurden niedergemetzelt, die Häuser zerstört.

Der Aufstand 66–70 hatte weitreichende Folgen. Erstens betrachteten die Römer die Juden von nun an als eine Gefahr im Reich. Diese hatten nach der schrecklichen Niederlage keinen Tempel mehr in Jerusalem, der von Herodes dem Großen noch so prächtig erweitert worden war. Sie konnten weder ihrem Gott opfern noch ihn auf traditionelle Weise anbeten. Da die Römer auch die Kaste der Hohepriester aus Jerusalem vertrieben hatten, verloren die Juden auf einen Schlag alle geistlichen Führer. Um deutlich zu machen, welcher Gott von nun an der eigentliche Herr war, schafften die Römer die traditionelle Tempelsteuer ab (deren Ertrag immer für den Jerusalemer Tempel bestimmt war) und zwangen die Juden, stattdessen den Fiscus Judaicus zu zahlen, eine Steuer, die für ihren eigenen römischen Gott Jupiter in Rom bestimmt war.

Die Römer entdeckten jedoch schnell, dass die Juden noch lange nicht endgültig geschlagen waren. Neue Führer kündigten sich an, wenn auch nicht in Palästina, sondern in Mesopotamien, im Persischen Reich. Dort lebte nämlich seit vielen Jahrhunderten eine jüdische Gemeinschaft, die – im Gegensatz zu ihren Glaubensgenossen im Römischen Reich – viele Freiheiten genoss. Sie hatte nicht nur ihre eigenen Gesetze und Regeln, sondern auch ihren eigenen jüdischen König, den resh galuta (aramäisch für Oberhaupt der Verbannten, meist griechisch ‚Exilarch‘ genannt.) Der Exilarch hatte seinen Sitz in Nehardea, einer Art jüdische Hauptstadt westlich der persischen Hauptstadt Ktesiphon. Vor Ausbruch des Aufstands 66 n. Chr. hatte der Exilarch sich immer der Autorität der Hohepriester von Jerusalem unterworfen. Er hatte auch folgsam jedes Jahr die Tempelsteuer abgeführt, wie es alle jüdischen Gemeinschaften in der Fremde taten. Nach der Zerstörung des Tempels war der Exilarch die höchste Autorität der Juden geworden. Die Römer sahen in ihm einen Handlanger der Perser – nicht zu Unrecht. Von Nehardea aus wurden neue Aufstände organisiert. Überall im Reich warteten jüdische Kämpfer auf ein Zeichen aus Persien, sich zu erheben. Im Jahr 114 n. Chr. war dank des neu entbrannten römisch-persischen Krieges dieser Augenblick gekommen.

Unmittelbarer Anlass war die römische Eroberung Armeniens, das bis dahin eine selbstständige Nation gewesen war. Dadurch fühlten sich die Perser ernsthaft bedroht. Sie fürchteten einen römischen Überfall von Norden und zogen Truppen aus Mesopotamien ab, um ihre Nordgrenze zu verteidigen. In dem jetzt schutzlos zurückgebliebenen Gebiet lebten viele Juden. Der damalige Exilarch Shlomo ben Hunya fürchtete einen römischen Überfall, den er nicht tatenlos abwarten wollte. Er stellte eine jüdische Armee in Bereitschaft, die sich im Fall eines Angriffs gegen die Römer wehren könnte. Daneben organisierte er wahrscheinlich insgeheim eine ganze Reihe jüdischer Aufstände innerhalb des Römischen Reiches. In dem Augenblick also, als Trajan, wie jeder erwartet hatte, Mesopotamien überfiel, brachen hinter seinem Rücken jüdische Aufstände aus, vor allem auf Zypern, in Ägypten und in der nordafrikanischen Stadt Kyrene. Die Römer nahmen blutige Rache, der viele Tausend Juden zum Opfer fielen. Trajans Offensive wurde übrigens ein Misserfolg: Er wurde krank und starb. Sein Nachfolger Hadrian zog die Truppen schnell wieder zurück, ergriff jedoch harte Maßnahmen gegen die Juden. Die Geschichte wiederholte sich. Die Spannungen verschärften sich und 132 n. Chr. brach in Palästina unter Simon Bar Kochba wieder ein Aufstand aus. Es gelang ihm, für einige Jahre so etwas wie ein unabhängiges jüdisches Königreich zu schaffen. Nach vier Jahren aber wurden Bar Kochba und seine Mitkämpfer besiegt und ermordet. Und diesmal wurden die Juden für immer aus Jerusalem verbannt. Der gescheiterte zweite Aufstand bedeutete das endgültige Ende des organisierten jüdischen Widerstands. Eines aber wussten die Römer jetzt: Den Juden konnte man nicht trauen. Nie.

Im selben Jahr gelang es einer jüdischen Sekte – den Christen –, das Vertrauen der Römer zu gewinnen. Anfangs sahen die Römer vermutlich kaum einen Unterschied zwischen ‚echten Juden‘ und den Mitgliedern dieser Abspaltung. Im Jahr 49/50 hatte Kaiser Claudius die Juden aus der Stadt verbannt (das geschah damit zum dritten Mal), weil sie „fortwährend Aufruhr im Auftrag von Chrestos“ verursachten. Wahrscheinlich waren in der Zeit die ersten Christen in der Stadt aufgetaucht und ihr Kommen brachte einige Unruhe. Doch nach dem gescheiterten jüdischen Aufstand setzten die Christen alles daran, sich von den Juden zu distanzieren, um als regierungstreue römische Bürger anerkannt zu werden. Vor dieser Zeit schon hatten sie die jüdischen Speisevorschriften aufgegeben. Danach behaupteten sie, Jesus sei von den Juden gekreuzigt worden; er habe die Zerstörung des Tempels prophezeit (Mk 13,1–4) und die sei Gottes Rache gewesen für die Tötung seines Sohnes. Dass sie sich so deutlich von den Juden distanzierten, machte die Bekehrung zum Christentum leichter und auch verlockender als eine Entscheidung für das Judentum. In zeitgenössischen Quellen wird von einer ganzen Zahl von „Gottesfürchtigen“ gesprochen, die in die Synagoge gingen, aber keine echten Juden waren, vermutlich, weil sie sich nicht an die Speisegesetze hielten und sich nicht beschneiden lassen wollten. Diese Neugierigen fanden nach 66/67 wahrscheinlich ein Unterkommen bei den Christen. Das Anwachsen der jüdischen Gemeinschaften rund um das Mittelmeer stagnierte um das Jahr 100; gleichzeitig wuchsen die christlichen Gemeinschaften beträchtlich.

Die römischen Autoritäten sahen die Christen schon bald als ungefährlich an. Auch Römer, die wichtige öffentliche Ämter bekleideten, konnten ihr Interesse an der Bewegung zeigen. Kennzeichnend für diese Haltung ist ein Brief von Kaiser Trajan aus dem Jahr 110 an seinen Gouverneur Plinius, in dem er ihm beschied, die Christen in seiner Provinz nicht aktiv aufzuspüren, worauf dieser aus eigenem Antrieb gedrängt hatte. Plinius hatte nämlich den Verdacht, dass die Christen sich genau wie die Juden weigerten, den Kaiser zu verehren. Trajan sah hier keine Gefahr.

Diese offiziöse Toleranz endete im Jahr 249. Inzwischen hatte sich das Christentum zur Nachfolgerin des Judentums entwickelt: als die größte monotheistische ‚alternative‘ Religion innerhalb des Römischen Reiches. Es wurde also höchste Zeit, die Loyalität der Christen gegenüber dem Kaiser auf die Probe zu stellen. Im Dezember des Jahres erließ Kaiser Decius ein Edikt, in dem alle Römer aufgefordert wurden, in einem Tempel oder an einem öffentlichen Altar die Götter zu ehren. Das würde Einheit und Wohlstand des Reiches fördern. Um Unruhe zu vermeiden, wurden die Juden von dieser Pflicht befreit – die Christen nicht.

Tausende Christen erschienen folgsam und verbrannten Weihrauch vor den Götterbildern und vor dem Bild des Kaisers. Wer Geld hatte, konnte ein offizielles Dokument kaufen, in dem bestätigt wurde, dass er dieser Pflicht nachgekommen war. Wer sich hartnäckig weigerte, musste flüchten oder verschwand für einige Zeit im Gefängnis.

Die ‚Verfolgung des Decius‘ dauerte nur kurze Zeit, war aber der Beginn einer ganzen Reihe von antichristlichen Maßnahmen. Sie bewirkten kaum etwas. Um das Jahr 300 war jedem klar, dass das Römische Reich vor einer wichtigen Entscheidung stand. Wenn es seine Einheit erhalten wollte, musste der Kaiser entweder das Christentum als Religion anerkennen oder – und das wäre noch besser – er musste eine neue, für alle Bürger attraktive Version des alten römischen Glaubens anbieten. Ein religiöses Revival würde die Römer wieder zu einem geeinten Volk machen. Kaiser Diokletian (der, wie wir sahen, den ersten Versuch unternahm, das Reich friedlich zu teilen) lancierte um 290 herum ein „erneuertes Heidentum“: Im gesamten Reich sollte man von nun an den besonderen Schutz von nur zwei traditionellen Göttern anrufen: Jupiter und Herkules. Jupiter sollte fortan im östlichen Teil des Reiches der Schutzgott des Kaisers sein, Herkules der des westlichen Teiles. Diokletian selbst wollte fortan als „Sohn des Jupiter“ angesprochen werden. Um dieser Religion möglichst schnell die Akzeptanz zu sichern, griff er die fremden Religionen an. Im Jahre 302 erließ er ein Edikt gegen die Manichäer, ein Jahr später folgte eines gegen die Christen. Ihm sollten noch sehr viele folgen.

Die Edikte gegen die Christen brachten große Unruhe. Die Römer merkten schon bald, dass vor allem das vierte Edikt, in dem die Menschen gezwungen wurden, Herkules und Jupiter zu opfern, nicht durchführbar war. Zu viele Beamte weigerten sich, mitzumachen. Doch alle Unruhe verschwand sofort, als Kaiser Konstantin, Nachfolger Diokletians, mit dem berühmten ‚Edikt von Mailand‘ (313) alle antichristlichen Maßnahmen beendete. Der neue Kaiser entschloss sich, Christen und Heiden ihre Würde zu lassen und Glaubensfreiheit zu gewähren – und das gelang erstaunlich gut. Konstantin hatte offensichtlich Sympathie für das Christentum und sollte am Ende seines Lebens selbst Christ werden.

Die Christen, die in den Zeiten Diokletians das Römische Reich noch als ein Werkzeug des Teufels angesehen hatten, versöhnten sich jetzt mit dem Kaiser und auch mit seinem Reich. Der Umschwung war also Konstantin zu danken, doch ebenso dem Kirchenvater Eusebius. In seiner einflussreichen Kirchengeschichte, der Historia ecclesiastica, vertrat er die Auffassung, das Römische Reich sei kein Feind, sondern vielmehr ein Instrument Gottes. Der Kaiser beschütze die Kirche und die kaiserliche Macht böte ihr die Möglichkeit, Gottes Wort über die ganze bewohnte Erde zu verkündigen. Und wenn das einmal geschehen sei, wenn die ganze Welt christlich geworden sei, dann würde ein christlicher Kaiser über die ganze Erde herrschen, wie ein einziger Gott im Himmel herrschte. Und dann, wenn dieser ideale Zustand erreicht sei, würde das Ende der Zeiten anbrechen.

Eusebius’ Vision von einem mystischen, apokalyptischen Band zwischen dem christlichen Kaiser und der Kirche sollte großen Einfluss ausüben. Die heidnischen Kaiser hatten sich nie wirklich für den Glauben ihrer Untertanen interessiert. Sie verlangten lediglich, dass sie zu festen Zeiten und in der Öffentlichkeit ihre Verehrung der Götter und des Kaisers demonstrierten. Aber die christlichen Kaiser, angefangen bei Konstantin, beschäftigten sich aktiv mit der Theologie der Kirche und dem religiösen Leben ihrer Untertanen. Sie forderten mehr als öffentliche Zeichen der Treue; sie regelten auch das religiöse Leben. Sie hatten nicht nur die Aufgabe, ihre Macht über die Welt zu verbreiten, sondern auch, den Glauben rein zu halten. Und das bedeutete, dass Gruppen, die den christlichen Glauben ablehnten, aktiv verfolgt werden mussten. Kurz, der Kaiser und die Kirche hatten die Pflicht, Heiden und Juden den Kampf anzusagen.

Seit Langem bereitete es den Kirchenführern nicht nur Sorge, dass die Christen es normal fanden, im täglichen Leben mit Juden und Heiden Umgang zu pflegen, sondern dass sie dabei auch Gebräuche von Ungläubigen übernahmen und sogar ihre Festtage feierten. Das musste in jedem Fall beendet werden.

Das Konzil zu Nicäa (325) legte durch eine eigene Berechnung fest, wann das christliche Passahfest gefeiert werden sollte, sodass dieser Festtag nicht länger mit dem jüdischen Pessach zusammenfiel. Direkt danach befahl Konstantin seinen Gouverneuren, darauf zu achten, dass Christen und Juden Ostern und Pessach nicht mehr am selben Tage feierten. Konstantin nannte die Juden in diesem Brief „Prophetenmörder“ und „Gottesmörder“. In den darauffolgenden Jahren sollten die Kirchenführer einen immer schärferen antijüdischen Ton anschlagen, was Aufruhr und Plünderungen zur Folge hatte. Führende Bischöfe wie Ambrosius von Mailand (339–397) und Johannes Chrysostomos in Antiochien (349–407) provozierten die Christen dazu, die Juden zu meiden, zu erniedrigen und sie hart anzufassen. Sie hätten Christus gekreuzigt und seien deshalb von Gott verflucht worden. Vor allem die Predigten von Chrysostomos („Goldmund“) waren weitverbreitet. Hier ein Beispiel aus seiner fünften „Predigt gegen die Juden“, in der er deutlich macht, dass Angriffe gegen Juden zugleich eine nützliche Lektion in der wahren Lehre der Kirche darstellen:

„Da wir aber nicht nur das [Ziel] verfolgt haben, ihnen den Mund zu verschließen, sondern auch die Versammlung in größerem Maß über die ihr eigentümlichen Grundsätze zu belehren, darum wollen wir darüber hinaus nochmals beweisen, dass weder in Zukunft der Tempel je wieder erstehen wird, noch dass sie zur früheren Lebensweise zurückkehren werden. Denn so werdet ihr die apostolischen Grundsätze besser kennen, und sie werden in größerem Maß als Frevler überführt werden. Als Zeugen für diese Behauptungen werden wir nicht einen Engel, nicht einen Erzengel, sondern den Beherrscher der ganzen Welt, unseren Herrn Jesus Christus selbst anführen. Denn als er in Jerusalem einzog und den Tempel erblickte, sagte er: ‚Jerusalem wird von den Heiden zertreten werden, bis die Zeiten der Heiden sich erfüllen‘ [Lk 21,24], wobei er die Zeit bis zur Vollendung meint. Ein weiteres Mal drohte er dasselbe mit Blick auf den Tempel an, indem er seinen Jüngern sagte: ‚Kein Stein wird hier auf dem andern bleiben; alles wird niedergerissen werden.‘ [Mt 24,2]. Damit sagte er das vollständige Verschwinden und die Verwüstung für alle Zeiten voraus. Aber der Jude anerkennt dieses Zeugnis überhaupt nicht und nimmt das Gesagte nicht an. ‚Wer das behauptet‘, sagt er nämlich, ‚ist mir verhasst. Ich habe ihn gekreuzigt. Wie soll ich da seine Aussage für gültig erachten?‘ Das ist das Erstaunliche, Jude, dass derjenige, den du gekreuzigt hast, nach der Kreuzigung deine Stadt zerstört, dann dein Volk auseinandergetrieben, dann dein Volk überallhin zerstreut hat, womit er lehrte, dass er auferstanden ist und lebt und jetzt im Himmel ist.“

Um das Jahr 400 erreichten die Angriffe auf die heidnischen Tempel und Synagogen einen Höhepunkt. Kaiser Theodosius I. (379–395) machte das Christentum zur Staatsreligion. Und er ergriff ebenfalls eine Reihe neuer Maßnahmen gegen die Juden. Sie durften keine christlichen Sklaven halten und durften ihre Sklaven auch nicht beschneiden. Zudem verbot er gemischte jüdisch-christliche Ehen. Theodosius war der zweite Kaiser, der einen Versuch unternahm, das unregierbare Reich zu teilen. Sein Sohn Honorius erhielt die westliche Hälfte, Arcadius die östliche. Der westliche Teil sollte sehr schnell ruhmlos untergehen. Auch Arcadius war kein starker Herrscher, doch sein Nachfolger Theodosius II. zeigte sich als außergewöhnlich tatkräftiger, zäher und zugleich frommer Kaiser. Er bereitete (in seinem berühmten Codex Theodosianus) den letzten Resten des alten Heidentums endgültig ein Ende: Alle Tempel wurden sofort geschlossen und das Opfern wurde verboten. Wer es dennoch tat, wurde „geschlagen mit dem rächenden Schwert“ und verlor alles, was er besaß. Die Juden wurden im dem Codex als „Feinde der höchsten Majestät und des römischen Gesetzes“ bezeichnet. Sie wurden aus allen staatlichen und militärischen Ämtern ausgeschlossen und konnten vor Gericht nicht gegen Christen zeugen. Das einzige noch für Juden zugängliche Amt war Decurio (Stadtratsmitglied, zuständig für Finanzen). Theodosius verbot auch den Bau von Synagogen, was allerdings oft wohl nicht so genau genommen wurde.

Eine letzte Reihe antijüdischer Maßnahmen (vor der von Herakleios) stammte von Kaiser Justinian (reg. 527–565). Auch er publizierte ein juristisches Kompendium, den Codex Justinianus, und erließ neue Gesetze, die Novellae, unter anderem gegen die Juden. Ein Beispiel aus den 535 Novellae ist Novella 146, in der bestimmt wurde, dass Juden in ihren Synagogen nicht mehr aus der hebräischen Bibel und auch nicht mehr aus dem Mischna, der teilweise auf Aramäisch gechriebenen Auslegung der Thora und des Gesetzes, lesen durften. Nur die griechische Bibelübersetzung war erlaubt. Diese Bestimmung entsprang wohl der Furcht vor antichristlichen Äußerungen der Juden in ihrer fremden Sprache.

Nicht alle antijüdischen Maßnahmen wurden überall im Reich konsequent durchgeführt. Regenten in Städten oder Gebieten, in denen viele Juden lebten, werden es häufig nicht so genau genommen haben, um Aufruhr zu verhindern. Sehr wohl aber mussten sie sich hüten vor der Kritik von Bischöfen und vor allem von fanatischen Mönchen. Die Mönchsbewegung, die aus dem 2. Jahrhundert stammte, wuchs im Laufe der Jahre nämlich zu einer einflussreichen dogmatischen Strömung innerhalb der christlichen Kirche.

Die Bewegung war in Ägypten entstanden. Arme Menschen, vor allem Bauern, zogen sich in die Wüste zurück, um sich dort in Einsamkeit Gott zu widmen. Nach eigener Aussage wurden sie von Johannes dem Täufer und von Jesus inspiriert, aber auch vom Erzvater Abraham, dessen Lebensgeschichte ja mit dem göttlichen Auftrag begann: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft […] in das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Viele dieser Monachoi (Alleinlebenden) hausten als „echte“ Klausner in Höhlen und Felslöchern. Andere lebten in Gruppen in Hütten um eine kleine, primitive Kirche. Die gewöhnlichen Gläubigen auf dem Land betrachteten diese Menschen, die stunden- oder gar tagelang beteten und ihren sündigen Leib ‚straften‘, indem sich sich auf allerlei Art quälten, als lebende Heilige, die dank ihres Leidens Zugang zum Höheren hatten und somit das Wort Gottes sprachen.

Doch sie blieben nicht in der Wüste. Auch in den großen Städten entstanden Dutzende von Klöstern. Viele ‚Wüstenmönche‘ entschieden sich, in die ‚sündigen‘ Städte zu ziehen, um dort Hölle und Verderben zu predigen oder gemeinsam mit Scharen von Anhängern Theater, Kneipen, Bordelle, Tempel und Synagogen zu überfallen. In vielen Städten sahen die Magistrate (aber auch Bischöfe und normale Bürger) diese Fanatiker deshalb lieber gehen als kommen. Aber auch Dekrete halfen kaum, die Mönche in die Wüste zurückzujagen.

Im Laufe des 4. Jahrhunderts breitete die Mönchsbewegung sich in der ganzen byzantinischen Welt aus. Viele Gläubige gerieten in den Bann dieser Männer, die sich auf die absonderlichste Weise selbst kasteiten und so nach eigener Aussage einen einzigartigen Zustand der Heiligkeit erreichten. Im 5. und 6. Jahrhundert erregten vor allem die syrischen Säulenheiligen, die Styliten, Aufmerksamkeit. Um das Jahr 400 bestieg Symeon Stylites der Ältere (389–459) in der Umgebung von Aleppo eine hohen Säule und verbrachte dort mehrere Jahrzehnte bis zu seinem Tod. Wie es heißt, bekehrte er von dort viele Araber zum Christentum. Später gerieten viele Menschen in den Bann von Symeon Stylites dem Jüngeren (521–592), der seinerseits in einiger Entfernung von Antiochien viele Jahrzehnte lang auf einer hohen Säule lebte. Der Zulauf war so groß, dass rund um die Säule ein regelrechter Wallfahrtsort entstand. Schließlich beschloss man, neben der Säule ein Kloster zu bauen und dazu, fast über dem Kopf des Symeon, eine riesige Kirche. Symeons Predigten und prophetische Mahnungen stammten, so meinte man, von Gott. (Mohammed mochte in der Zeit etwa 20 Jahre alt gewesen sein.)

Die Verehrung der umherziehenden Banden fanatischer Mönche ging inzwischen so weit, dass lokale Autoritäten und selbst Kaiserinnen es nicht wagen konnten, sich ihnen in den Weg zu stellen – vor allem nicht, wenn es darum ging, die Juden, die ewigen Feinde des Christus, zu belästigen und zu töten. Ein aufschlussreiches Beispiel ist die Konfrontation des Mönchs Barsauma und Kaiserin Aelia Eudocia im Jahre 438. Barsauma und seine Mitstreiter zogen jahrelang durch Palästina und Syrien, um heidnische und jüdische Heiligtümer zu zerstören. So waren sie 423 in die Stadt Petra eingedrungen und hatten auch dort große Zerstörungen angerichtet. Fünfzehn Jahre später wagte Kaiserin Aelia Eudocia, Gemahlin von Theodosius II., die zu der Zeit in Jerusalem lebte, ein altes Dekret abzuschwächen, das den Juden verbot, Jerusalem zu betreten. (Außer während des Laubhüttenfestes, wenn sie den Verlust des Tempels betrauern durften.) Als deutlich wurde, dass die Juden in großen Mengen zum Tempelberg ziehen würden, kam Barsauma mit einer Schar Anhänger und richtete ein Blutbad an. Die Juden ergriffen einige der Mörder und brachten sie zu Eudocia, die die Rädelsführer hinrichten lassen wollte. Doch Barsauma mobilisierte die Christen von Jerusalem und die Menge drohte der Kaiserin, sie würde die Stadt nicht lebend verlassen, wenn sie Christen töten lassen würde, weil sie jüdisches Blut vergossen hatten. Eudocia gab nach. Barsauma wurde später heiliggesprochen.

Es war kein Zufall, dass Eudocia sich gerade in dieser Stadt aufhielt. Jerusalem war im 2. und 3. Jahrhundert bedrohlich in Verfall geraten, doch dann dank Kaiser Konstantin zu einer der bedeutendsten Wallfahrtstätten der christlichen Welt angewachsen. Konstantin wollte ganz Judäa zu einem spirituellen Zentrum der christlichen Welt machen. Er ließ viele heilige christliche Plätze instand setzen und wieder aufbauen. Seine Mutter Helena, die getauft war und lange Zeit in Jerusalem gelebt hatte, unterstützte ihn dabei tatkräftig. Um den wachsenden Pilgerstrom auf angemessene Weise empfangen zu können, ließ sie viele Kirchen bauen. Die größte erhob sich an der Stelle, an der nach christlicher Tradition Jesus ins Grab gelegt worden war: die Heilig-Grab-Kirche. Andere Kaiser und Kaiserinnen setzten ihr Werk fort, wie Eudocia, die sechzehn Jahre lang in der Stadt lebte und Geld für einen Bischofspalast, Klöster und Hospitäler gab.

Die ‚Christianisierung‘ Jerusalems passte in die apokalyptische Zukunftsvision des Eusebius. Christus, so behauptete dieser Kirchenvater, würde erst auf die Erde zurückkehren, wenn ein einziger (christlicher) Kaiser über die ganze Erde herrschen würde – und diese Rückkehr würde sich selbstverständlich in einem christlichen Jerusalem ereignen. Gleichzeitig waren die Juden davon überzeugt, das Ende der Zeiten würde mit der Ankunft des Messias beginnen. Und auch der würde sich zuerst in Jerusalem zeigen. Wenn die Unterdrückung des jüdischen Volkes ihren Höhepunkt erreicht haben würde, so glaubten viele Juden, würde Gott den Messias auf die Erde senden, der seinen Thron an den Ort stellen würde, an dem der Tempel Salomos gestanden hatte: auf dem Tempelberg in Jerusalem. Die Christen kannten diese Prophezeiung natürlich, und um den Juden zu demonstrieren, dass dies nie geschehen würde, dass ihr Glaube abgetan sei und Jerusalem jetzt und für alle Zeiten eine christliche Stadt sei, machten sie den Tempelberg zu einem Schuttplatz.

In Helenas Heilig-Grab-Kirche wurde die wichtigste Reliquie des Christentums aufbewahrt: die Reste des Heiligen Kreuzes. Eine Reliquie, die, wie die Quellen berichten, Helena persönlich entdeckt hatte. Wir wissen nicht, wie diese Teile genau ausgesehen haben, da sie im 7. Jahrhundert verloren gingen. Aber die Christen hielten es für das Kreuz, an dem Jesus gestorben war. Besonders Kyrill, Patriarch von Antiochien (350–387), förderte die Verehrung des Heiligen Kreuzes. Für ihn war das Kreuz der eindeutige Beweis, dass die Juden (in den Worten Konstantins) „Prophetenmörder“ und „Gottesmörder“ waren. Dank Kyrills Einsatz wurde das Kreuz zum Symbol für den Sieg des Christentums über all seine Gegner. Es machte das christliche Reich unbesiegbar.

Für die Juden, die General Scharbaraz 614 nach Jerusalem folgten, stand also viel auf dem Spiel. Sie wollten Jerusalem vom christlichen Joch befreien. Der Tempelberg musste gereinigt und für die Ankunft des Messias bereitet werden. Denn, wer weiß, vielleicht kam er jetzt schon bald. Das jüdische Volk hatte mehr als genug gelitten. Das Ende der Zeiten stand vor der Tür. Daher musste die Enttäuschung groß gewesen sein, als Scharbaraz die christliche Stadtregierung ungeschoren ließ. Doch dann folgte der Aufstand der ‚tapferen‘ christlichen Jugend und das brutale Auftreten von Scharbaraz. Das Heilige Kreuz, das verhasste Symbol christlicher Unbesiegbarkeit, verschwand Richtung Ktesiphon. Und dann lief es dennoch noch gut für die Juden: Scharbaraz übertrug ihnen die Stadtregierung. Doch der Messias erschien nicht. Musste denn erst Konstantinopel fallen? Bevor es so weit war, kam es zu einem Konflikt zwischen der jüdischen Regierung und den Persern. Nach drei Jahren ließ Scharbaraz die Juden fallen. Ihr Führer, Nehemia, organisierte eine kleine Armee, wurde aber besiegt und später exekutiert.

Diese Niederlage muss für viele Juden eine schwere Enttäuschung gewesen sein. Offensichtlich war die Zeit für die Ankunft des Messias noch nicht reif. Einige Jahre später schien der große Augenblick dann doch gekommen. Die Perser standen am Bosporus, genau gegenüber der byzantinischen Hauptstadt. Und von der Ostseite drängten die Awaren zu den Mauern der Stadt. Es würde nur noch kurze Zeit dauern, bis die Macht des Christentums Vergangenheit war.

Es kam anders. Konstantinopel hielt stand – dank der byzantinischen Flotte, der gewaltigen Stadtmauern und natürlich dank Maria, der Mutter Gottes, der Schutzheiligen der Stadt. Aber Kaiser Herakleios wusste, dass sein Reich durch geduldiges Abwarten nicht gerettet werden konnte. Statt in der Stadt zu bleiben und die Verteidigung zu übernehmen, verließ er Konstantinopel übers Meer. Mit einem kleinen, aber disziplinierten Heer fuhr er zur Ostküste des Schwarzen Meeres ins heutige Georgien, um dort eine neue Front zu eröffnen und möglichst Richtung Mesopotamien durchzubrechen. Die Erfolgschance war klein, der Einsatz ungewöhnlich groß: Es ging um die Macht über die zivilisierte Welt. Um die Zukunft des Christentums. Die Welt schaute atemlos zu. Sollte Konstantinopel tatsächlich fallen? Oder wollte Gott seine Anhänger nur auf die Probe stellen und stand zuverlässig auf der Seite der Byzantiner? Auch auf der Arabischen Halbinsel wartete man voll Spannung, was die Zukunft bringen würde. Auch für die Araber stand immens viel auf dem Spiel: Arabische Stämme hatten den Byzantinern wie den Persern lange Zeit als Grenzwächter und Söldner gedient. Und auch in diesem größten aller Kriege kämpften ganze Scharen arabischer Kämpfer mit – auf byzantinischer wie persischer Seite. Die Araber wussten, dass es um ihre Zukunft ging, denn der Sieger würde Herrscher über Arabien werden. Die Halbinsel war ebenfalls umstrittenes Gebiet. Keines der beiden Reiche hatte sie je tatsächlich in Besitz genommen, aber beide hatten sich in den Jahrhunderten davor bemüht, arabische Stämme an sich zu binden, um einen möglichst großen Einfluss zu gewinnen. Der einzige Teil Arabiens, den die Großmächte irgendwann doch besetzt hatten, weil sie ihn strategisch gesehen wichtig genug fanden, um Truppen dorthin zu schicken, war der Jemen, am südwestlichsten Punkt Arabiens. Denn wer den Jemen beherrschte, beherrschte den Handel zwischen den Mittelmeerländern, Afrika und Indien. Als der Krieg ausbrach, war der Jemen in persischer Hand. Die Perser beherrschten zu diesem Zeitpunkt die Länder nördlich von Arabien und zugleich einen südlichen Teil Arabiens selbst. Wenn sie den Krieg gewönnen, würden sie die Herrscher Arabiens sein. Das wollten die Araber nicht. Allzu oft hatten die Perser sie erniedrigt. Doch für die Byzantiner galt eigentlich dasselbe. Auch einen byzantinischen Sieg fürchteten die Araber. Kurz, es wurde höchste Zeit, dass sie ihre internen Gegensätze überwanden und eine starke Front bildeten – gleich gegen welchen Sieger.

Einer der vielen Araber, der den Krieg im Norden bestimmt mit großem Interesse verfolgt hat, war Mohammed. Auch er fragte sich, was Gottes Ratschluss sein würde. Sollte er das Byzantinische Reich – und damit das Christentum – wirklich untergehen lassen? Sollten die Juden Recht bekommen? Würde ihr Messias auf die Erde herabsteigen? Nein, das konnte er nicht glauben. Mohammeds Prophezeiung ist aufgezeichnet in den berühmten Eröffnungsversen der Sure 30:

„Besiegt sind die Byzantiner im nächstgelegenen Land. Doch siegen werden sie nach ihrer Niederlage in ein paar Jahren. Bei Gott liegt die Entscheidung – vorher und nachher. Freuen werden sich die Gläubigen an diesem Tag über Gottes Hilfe. Er hilft dem, dem er helfen will. Denn er ist der Mächtige, der Barmherzige.“

(Sure 30,2–5)

Es ist eine höchst sonderbare Passage – die einzige im Koran, in der auf den großen Konflikt im Norden verwiesen wird. Und es ist zutreffend, was dort steht: Letztlich sollten die Byzantiner die Perser besiegen. Der Prophet sprach wahrhaftig prophetische Worte. Oder handelt es sich hier vielleicht um eine ‚rückwirkende Prophezeiung‘? Das ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wenn der dafür verantwortliche ‚fromme Betrüger‘ eine kurze ‚Vorhersage‘ vom Verlauf des Konflikts hätte einfügen wollen, dann ist die Mitteilung „im nächstgelegenen Land“ (wahrscheinlich Syrien/Palästina) recht eigenartig, wie auch die Mitteilung, dass der byzantinische Sieg nur ‚einige Jahre‘ auf sich warten lassen würde, viel zu optimistisch klingt. Nachdem das „nächstgelegene Land“ in die Hände von Persern gefallen war, dauerte es noch 24 Jahre, bevor sich die Byzantiner Sieger nennen konnten. Sure 30, Vers 2–5 muss auch nicht unbedingt so erklärt werden; der Vers fügt sich, wie wir sehen werden, gut in die zentrale Botschaft des Koran. Eine persische Niederlage war in den Augen des Propheten unvermeidlich, denn Gott würde die Christen nicht fallen lassen. Gott stand auf der Seite der Byzantiner. Aber weshalb war das gut für „die Gläubigen“? Dazu später mehr. Jetzt erst: Arabien.

Mohammed

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