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Vorwort

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Þar er landið mitt

vafið náttkyrri værð

steypt í stálkaldan ís

Dort ist mein Land

Umhüllt von stiller Nacht

Begraben unter Eis, kalt wie Stahl

Gerður Kristný (*1970)

Reykjavík ist fast wie ausgestorben, und Leifur Eiríksson ignoriert mich. Als ich im Schatten der raketenwerferförmigen Hallgrímskirkja, der größten lutherischen Kirche des Landes, an seiner Statue vorbeigehe, starrt er auf den Horizont im Westen, wo sich jetzt, um zehn Uhr morgens, gerade die Dämmerung lichtet. Vielleicht ist sein Blick auf Grönland gerichtet oder die Flugzeuge, die in diesem Moment mit einer neuen Ladung von Touristen durch den Wind in Richtung Flughafen Keflavík trudeln. Die beiden Raben, die auf Leifurs Schultern sitzen, krächzen mich jedoch laut an, es klingt fast höhnisch. Vielleicht sind sie es nicht gewohnt, einen verkaterten Touristen zu sehen, der keine bunte Outdoorjacke trägt oder einen Selfiestick schwingt. Mein Schädel dröhnt, und wäre nicht die Verabredung mit einem Freund gewesen, ich hätte mein Hotelbett nicht verlassen.

Die einzigen anderen Menschen, die ich auf dem Weg zum Frühstück mit dem isländischen Autor und Sagaforscher Arngrímur Vídalín treffe, sind andere Touristen. Ich höre chinesische, deutsche, französische Wortfetzen auf meinem Weg entlang des Laugavegur, der Prachstraße von Reykjavík. Normalerweise schieben sich hier Touristengruppen und shoppende Isländer aneinander vorbei, und Donnerstag- bis Samstagabend tuckern langsam die SUVs, Jeeps und tiefergelegten Autos der jungen Isländer auf dem Weg zur Rúntur entlang, den traditionellen Kneipentouren in der isländischen Hauptstadt, begleitet vom Geräusch der hochhackigen Schuhe der Gruppen von Isländerinnen, die auf den Bürgersteigen entlangflanieren. Aber die jungen Isländer sind gerade auf dem wackeligen Rückweg von den Hauspartys, zu denen man nach der Sperrstunde um fünf Uhr morgens aufbricht, liegen noch auf den Sofas oder Böden ihrer Gastgeber oder schon in ihren eigenen warmen Betten. Das einzige Geräusch, was ich im Moment hier neben den Gesprächen der Touristen vernehme, ist das Rascheln ihrer Goretex-Jacken und -Hosen. Wie immer sind die Deutschen auf alles vorbereitet, wenn auch die Wahrscheinlichkeit eines plötzlichen Schneesturms in der Altstadt von Reykjavík mit ihren beheizten Gehwegen sehr selten ist. Langsam öffnen die Geschäfte und Cafés und stellen Werbeschilder vor die Fenster, die Papageitaucher-Spielzeuge, Wikinger aus Plastik und Polarlichter- und Eishöhlen-Touren anpreisen. Vieles, was ich an Konsumangeboten auf dem kurzen Stück den Laugavegur entlang sehe, ist auch ein Indiz für das widersprüchliche Islandverständnis der Besucher. Auf der einen Seite lockt die Vorstellung der wilden Vulkaninsel im Nordatlantik, mit fauchenden Geysiren und Vulkanen, die den Flugverkehr in ganz Europa lahmlegen, mit unwirtlichem und menschenfeindlichem Hochland; und auf der anderen Seite lassen sich viele Touristen jede eigenständige Entdeckung abnehmen und sich alle Informationen in Plastik verpackt schon im Vorfeld der Reise zuschicken. Es ist also kein Wunder, dass Besucher die Natur hier oft unterschätzen und mit zu kleinen Mietwagen in Gebirgsflüssen stecken bleiben, von Strömungen vom Strand gerissen werden und auf Eisschollen abtreiben. Ich komme am ehemals besten Café der Stadt vorbei, dem Tíu Dropar, seit 2016 ein Outdoorladen (natürlich), und muss einen großen Ausfallschritt auf die Straße machen, um der Gruppe asiatischer Touristen auszuweichen, die aus einem Hauseingang kommen und mehr auf die Smartphones am Ende ihrer Selfiesticks fokussiert sind als auf ihre direkte Umwelt. Die Dokumentation des eigenen Ich scheint wichtiger als die Tatsache, dass man sich in einer Stadt befindet, die von den Wikingern gegründet wurde. Ich drücke die Tür des Cafés im Haus daneben auf. Vielleicht wird mit isländischem Kaffee und Rührei meine Laune wieder besser.

Der Süden als Himmelsrichtung hat mich nie angesprochen. Ich habe immer die gegenüberliegende Seite des Kompasses bevorzugt, aber lange konnte ich nicht wirklich sagen, warum. Sicher nicht, weil ich familiäre Bindungen dazu habe – im Gegenteil. Ich komme aus der kleinen Stadt Solingen im Westen Deutschlands, die nächste Küste 200 Kilometer und die nächsten Berge über 300 Kilometer entfernt. Und doch, seit ich als kleines Kind Geschichten erzählt bekam und dann später selbst las, inspirierte mich keine Himmelsrichtung so sehr wie der Norden. Ich war Stubenhocker und Bücherwurm und verschlang (und tue es immer noch) mit Vorliebe Geschichten über Regen, der hart auf Moore prasselt, über Schiffe in Not und scharfe Klippen in kochendem Meer, über Männer mit Schwertern, die durch dunkle Wälder stapfen, und heulende Schneestürme, die Schnee auf große Holzhallen häufen, während drinnen Feuer lodern und Männer und Frauen lachen und reichlich dunkles, starkes Bier schlucken. Ich bewunderte und verschlang alle Bücher, die ich bekommen konnte und die auch nur im Entferntesten etwas mit dem Norden zu tun haben. So wuchs ich mit den irischen Elfenmärchen der Gebrüder Grimm auf, in der Gemeinschaft des Tolkien’schen Rings und auf Ursula K. Le Guins (1929–2018) Winterplanet (1974). Wo im Norden diese Geschichten stattfanden, ob auf unserem Planeten oder sonst wo, spielte keine Rolle – Hauptsache, es war kalt und stürmisch. Ich liebte irische Folklore genauso wie Geschichten über Thor und Loki oder die Geschichte von Alan Breck Stewart und David Balfour, die Robert Louis Stevenson (1850–1894) in Die Entführung erzählte – und eine ZDF-Weihnachtsserie namens Nonni und Manni (1988).

Die Sonne des Südens scheint mir fast ein falsches Versprechen zu sein, als streichelte dir jemand über den Kopf, wiegte dich mit Weißwein bei singenden Zikaden in Sicherheit und erzählte dir in der Abenddämmerung am Strand, dass alles gut enden wird. Aber das ist eine Lüge. Die globale Erwärmung macht den Winter im Norden noch extremer: Die Stürme, Überschwemmungen und der Schnee kommen immer früher, und eines Tages fahren wir alle in die Grube. Die Menschen im Norden wussten das schon immer und werden jedes Jahr aufs Neue daran erinnert, wenn die ersten Stürme des Winters Fährüberfahrten unmöglich machen und die Straßen gesperrt werden müssen. All das sind Gründe für meine Nordland-Faszination. Ich bin allerdings kein schroffer Naturliebhaber: Während ich im Herbst und Winter gerne wandere, liebe ich hinterher einen offenen Kamin und schäumendes Bier in der Kneipe umso mehr. Für mich ging es immer um die Reise in den Norden selbst und darum, an einem Ort zu sein, der meine Faszination immer wieder nährt, in der Realität und auf dem Papier. Vielleicht ist es deshalb kein Wunder, dass mich meine Faszination für die Bücher des Nordens, als ich älter wurde, relativ schnell nach Island führte. Und wie ich feststellte, war ich nicht der einzige Bewohner südlicher Gefilde, der vom harschen Vulkaneiland der Wikinger, seiner einzigartigen Literatur und seiner Geschichte inspiriert wurde.

Das erste Mal besuchte ich Island 2010. Damals war ich mehr am Island der Gegenwart interessiert, an der faszinierenden Musikszene, von der so bekannte Künstler wie Björk (*1965) oder Sigur Rós nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs darstellen. Auf Island existiert wenig Schubladendenken zwischen den Kunstsparten, es gibt kaum Scheuklappen, und hier sind Autoren auch Musiker, Dichter bildende Künstler und Verleger oder andersherum. Die Insel ist ein veritabler Spielplatz der Künste, wenn auch mit denselben Problemen, die freiberufliche Künstler weltweit haben, wie z. B. geringe Honorare, überteuerte Mieten für Studios und Ateliers.

Die isländische Sprache: Eine Einführung

Das heutige Isländisch geht auf das Altisländische zurück, das ab dem 11. Jahrhundert auf der Insel gesprochen wurde und sich aus dem Altnorwegischen entwickelt hatte, der ursprünglichen Sprache der ersten Siedler aus Festlandskandinavien. Durch die geografische Isolation Islands hat sich die Sprache in den letzten tausend Jahren allerdings kaum verändert, was es Isländern heute ermöglicht, mittelalterliche Texte wie die der Sagas im Original zu lesen. So sind die Sagas auch für heutige isländische Leser unmittelbar zugänglich, und die Gegenwartsliteratur bezieht sich immer wieder auf die Themen, Figuren und Orte, die zum ersten Mal in den Sagas auftauchen. Das isländische Alphabet ist dem deutschen sehr ähnlich und besteht aus 32 Buchstaben, von denen nur wenige entweder nicht im Deutschen vorkommen oder nur im Isländischen verwendet werden. Die drei wichtigsten Sonderzeichen sind þ, æ und ð. Þ/þ wird wie ein hartes englisches »th« (z. B. in thunder) ausgesprochen, Æ/æ wie »ai«, und Ð/ð wie ein weiches englisches »th« (z. B. in that). Namen und Begriffe wirken zunächst recht seltsam, erschließen sich aber leicht, da viele Begriffe den deutschen ähnlich sind, zum Beispiel dalur ›Tal‹, fjörður ›Fjord‹, Þorp ›Dorf / kleine Ortschaft‹.

Kleine Namenskunde

In Island kennt man keine Familiennamen in unserem Sinne, sondern es werden sogenannte Patronyme (bzw. Matronyme) verwendet: In der Regel wird an die Genitivform des Vornamens des Vaters (seltener auch an die Genitivform des Vornamens der Mutter) ein son (›Sohn‹) oder dottir (›Tochter‹) angehängt. Verwurzelt in der nordgermanischen und skandinavischen Sprachgeschichte, enthält der Nachname in der isländischen Sprache eine kurze Beschreibung der Herkunft, und das gilt bis heute. Die meisten Neugeborenen erhalten in Island den Namen des Vaters oder der Mutter als Nachnamen. Die wenigen Familiennamen, die es heute in Island gibt, stammen von Vorfahren ausländischer Herkunft. Seit 2019 gibt es übrigens ein Gesetz, das festlegt, dass Namen keinem Geschlecht mehr zugeordnet werden können – Männer führen also auch ein -dottir im »Nachnamen«. Ich folge dem isländischen Sprachgebrauch und beziehe mich, auch bei Autoren aus anderen Ländern, im Anschluss an die erste Nennung meist nur auf den Vornamen.

Ich bin prinzipiell sehr skeptisch gegenüber Reisebüchern, die einen real existierenden Ort auf dieser Welt als tatsächlichen Sehnsuchtsort vorstellen, als Ort, an dem »alles möglich« ist oder der »immer so ist, wie man sich fühlt«. Jedes Buch, das einem Leser erzählt, es gebe hier etwas Besseres, und man müsste nur hinfahren, um es zu finden, lügt buchstäblich wie gedruckt. Man wird ein anderes, faszinierendes Land vorfinden, aber sicher nicht die Lösung der Probleme, die man zu Hause gelassen hat. Und man tut besser daran, die Bücher von hier aufzuschlagen als Hochglanzbroschüren aus dem Reisebüro.

Aber wenn ich auch statt einer bunten eine schwarze Outdoorjacke tragen mag, bin ich doch nur Besucher in Island, einer der vielen Touristen; und genauso wie viele andere wegen einer Sache hier: dem Perspektivwechsel. Am Tag zuvor bin ich mit dem Bus in das Viertel Seltjarnarnes gefahren und den Küstenweg entlang zur Spitze der dortigen Halbinsel und zum Leuchtturm auf der Insel Grótta gelaufen. Die isländische Künstlerin Ólöf Nordal hat hier eine Basaltskulptur namens Kvika geschaffen, ein Heißwasser-Fußbad, das ich benutzen wollte, um mit meinen Füßen im wärmenden Thermalwasser in der eisigen Kälte zu sitzen und auf die Bucht und den schneebedeckten Berg Esja dahinter zu schauen. Ich ging an den Felsen an der Küste entlang, während Raben auf den Straßenlaternen am Wegesrand saßen. Die Sonne ging schnell unter, aber das Licht über Reykjavík und den Bergen hatte die Klarheit, die nur die Wintersonne hier oben im Norden hat. Als ich am Fußbad ankam, war es von einem großen Nordmann mit langen blonden Haaren besetzt, der sich vollständig in das kleine Bad gequetscht hatte, sein nackter Oberkörper und die Beine ragten in die Kälte und nur sein Bauch und sein Hintern waren mit dem heißen Wasser bedeckt. Die verpasste Gelegenheit für mein Fußbad machte mir nichts aus, und ich beobachtete stattdessen die Raben, die über dem Wasser spielten, an diesem außergewöhnlichen Ort nahe dem Polarkreis, und freute mich schon auf den Einkauf in meinem Lieblingsbuchladen Mál og Menning auf dem Rückweg, um mir neue Bücher für die Zeit zu besorgen, in der ich nicht auf der Insel sein konnte.

Dieses Buch basiert auf Literatur aus oder über Island, und das jeweilige Thema jedes Kapitels wird ergänzt mit Zitaten und Hinweisen auf weiterführende Bücher zu dem Thema. Dies ist kein typisches Landesporträt, sondern ich befasse mich mit der Literatur und der Buchverrücktheit der Isländer in der Vergangenheit und Gegenwart; bereits zuhauf behandelte Islandreisethemen wie heiße Quellen oder ausgefallene Speisen lasse ich bewusst aus. Die Auswahl der hier erwähnten und zitierten Werke, insbesondere der von zeitgenössischen Schriftstellern, ist höchst subjektiv. Auch nenne ich viele isländische Schriftstellerinnen, die von hoher Wichtigkeit für die Literatur des Landes waren und sind, aber deren Werke leider (noch) nicht in deutscher Übersetzung vorliegen. Wo möglich, sind Auszüge ihrer Werke direkt aus dem Isländischen oder aus dem Englischen übersetzt. Ich verwende für einen besseren Lesefluss das generische Maskulinum, das stellt aber dezidiert keine Vernachlässigung weiblicher Stimmen dar. Dieses Buch ist eine Sammlung von Geschichten von und über die Menschen, die in oder wegen Island die Feder aufs Papier gesetzt oder das Textdokument auf dem Rechner geöffnet haben. Dementsprechend finden sich hier Märchen, Sagas, Folklore, Gedichte, engagierte Literatur, True Crime, Kurzgeschichten und Romane, ohne dass eines dieser Genres bevorzugt würde. Es gibt jedoch tatsächlich einen hohen Anteil an Gedichten in diesem Buch, was einfach der Tatsache geschuldet ist, dass Lyrik in der Vergangenheit und Gegenwart der isländischen Literatur eine weitaus wichtigere Rolle spielt als in der deutschsprachigen. Das liegt zum einen daran, dass fast alle Isländer, auch solche, die sich nicht als Dichter sehen, bis heute täglich kleine Alltagsgedichte und Reime verfassen, und zum anderen daran, dass die Schlüsselszenen aus isländischen Literaturklassikern wie den Sagas in Versform vorliegen und den Isländern von klein auf vermittelt werden.

Ich versuche mit diesem Buch einen schmackhaften Eindruck von der außergewöhnlichen und vielseitigen Literatur dieser einzigartigen qualmenden Insel im Nordatlantik zu vermitteln, der hoffentlich dazu führt, dass noch mehr Menschen es sich mit einem Islandbuch im Sessel bequem machen. Neueinsteiger in die Literatur der Insel finden hier viele Anregungen aus den letzten tausend Jahren, und ich hoffe, dass auch Islandfreunde und -kenner sich von den vielen Querverweisen zwischen Autoren und Materialien unterhalten lassen und vielleicht noch etwas Neues entdecken. Dies also ist ein Buch über Bücher, um einen Ort zu ehren, in dem das geschriebene Wort geschätzt wird wie nirgendwo sonst.

Mein besonderer Dank gilt den scharfen Augen von Eymelt Sehmer und Ólafur Örn Arnarson, ohne die dieses Buch wieder einmal ein grausames Durcheinander deutscher, englischer und isländischer Schreibweisen von Orten und Menschen geblieben wäre; Kai Müller, ohne den ich diese Insel niemals entdeckt hätte und dessen Blick durch die Linse seiner Kamera mir oft dann weiter den Weg weist, wenn mir die Worte fehlen. Und ohne die Unterstützung und textliche Hilfe meiner Frau Anne Mager wäre auch dieses Buch, wie so viele andere, nie fertiggestellt worden.

Dundalk, April 2021

Island

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