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2. Berichte aus dem Nordmeer
ОглавлениеHass und Hinterlist
des Althing, Lügen und Weiber,
Frieden genannte Erschöpfung,
Erinnern, gefärbt von vergossnem Blut.
Seamus Heaney
Lange bevor die ersten Menschen die Insel im Nordmeer bewohnten, übte das außergewöhnliche Landschaftsbild mit seinen feuerspeienden Vulkanen und riesigen Gletschern eine unendliche Faszination auf europäische Autoren der Antike und des frühen Mittelalters aus. Die spärlichen Berichte der ersten Entdecker ließen die Fantasie nur so sprießen – und zogen andere Seeleute an, so sehr, dass diese sich ebenfalls auf Expedition in das eisige Nordmeer begaben. Die ersten Siedler nahmen dann nicht nur die Insel in Beschlag, sondern hielten als begabte PR-Manager ihre eigenen Legenden in der Skaldendichtung fest. Sie verbreiteten sich in ganz Skandinavien und bildeten schließlich die Grundlage für die Sagas und die gesamte Literatur der Insel. Werfen wir einen Blick auf diese Geschichtenerzähler.
Das Boot wird von den Wellen auf- und abgeworfen. Die Männer in seinem dünnen Rumpf aus Stöcken und Rindsleder rudern um ihr Leben, in der verzweifelten Hoffnung, die kleine Bucht zu erreichen, die sie hinter den Wellenkämmen sehen können. Links und rechts der Bucht donnern die Wellen weißgischtig gegen Steilklippen, und über alldem thronen dunkle, feindselig aussehende Berge. Ist das jenes neue Land, das zu erreichen sie zu Gott gebetet hatten? Eine neue Insel nördlich all der Orte, auf denen sie bisher ihre Klöster gebaut und das Loblied des Herren gesungen hatten?
Der irische Bootstyp Curragh sieht nicht besonders hochseetüchtig oder vertrauenserweckend aus. Die kleinen Boote werden seit der Steinzeit auf irischen Flüssen, Seen und dem Meer benutzt und sind bis heute im Einsatz. Mit Eichenrinde gehärtete Tierhäute werden über ein Skelett aus Holz gespannt, oft leichtes, aber dünnes Material wie Haselnuss, und die Nähte mit Teer versiegelt. In der Mitte des Schiffs kann ein Mast mit Segel aufgestellt werden, und je nach Größe können in einem Curragh bis zu 30 Personen befördert werden.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einem offenen Boot, das von den Wellen an der Mündung eines natürlichen Hafens am westlichen Rand Irlands herumgeworfen wird und von Regen und Brandung durchnässt ist. Das Einzige, was Sie vor dem Ertrinken schützt, ist die dünne aufgespannte Haut einer toten Kuh. Niemand, der bei klarem Verstand ist, würde ein solches Boot benutzen, um sich auf hohe See zu wagen. Aber die verrückten Iren praktizierten es damals, als man zum ersten Mal von »Thule« hörte, schon jahrhundertelang.
Ein Curragh ist klein und von geringem Gewicht, mit außergewöhnlichem Auftrieb in der Brandung und leicht zu flicken, wenn es auf Felsen geschleudert wird. Diese Boote sind für Küstengewässer perfekt geeignet: ein Schiff, das sich durch seine günstige Herstellung und Austauschbarkeit auszeichnet. Auf Reisen nach Norden sind es eben diese Schiffe, die einen regen Handel mit den schottischen Inseln und den Färöern ermöglichten – und wahrscheinlich auch nach Island segelten. Ein Text des römischen Dichters Rufus Avenius aus dem 4. Jahrhundert, Ora Maritima, beschreibt irische Seeleute, deren »Boote frei auf der rauen Meeresfläche segeln«. »Erstaunlicherweise«, fährt Avenius fort, »bauen sie ihre Schiffe, indem sie Häute zusammennähen und mit offenem Leder das Meer überqueren.« Es scheint also gut möglich, dass sich in solchen Booten im 6. Jahrhundert Mönche aus Irland aufmachten und als erste Menschen den Boden der vulkanischen Insel im Nordmeer betraten, die bis dahin bei einigen Gelehrten und Entdeckern als »Thule« bekannt war.
Vor 2000 Jahren tauchen die ersten Beschreibungen einer Insel im Nordmeer auf. In jener Zeit segelte ein griechischer Entdecker namens Pytheas (um 380 – 310 v. Chr.) von seiner Heimat in der damals griechischen Kolonie Massalia (dem heutigen Marseille) bis zu den britischen Inseln und in den Nordatlantik. Er veröffentlichte um 322 v. Chr. einen Reisebericht, dessen Titel vermutlich Über den Ozean (Περὶ τοῦ ᾿Ωκεανοῦ, Perì toũ Okeanoũ) lautete, und beschreibt hier Fjorde, Eisberge und rund um die Uhr anhaltendes Tageslicht. Ob Pytheas tatsächlich bis Island segelte, ist unklar, doch der von ihm gewählte Name Thule wurde bis ins frühe Mittelalter hinein für die Insel verwendet. Pytheas’ Bericht ging verloren, die wenigen Fragmente seines Textes wurden unter anderem von Eratosthenes (276–194 v. Chr.) und Plinius dem Älteren (23/34–79) überliefert, die Pytheas in ihren Werken allerdings auch als Lügner bezeichneten, weil sie seine Reisen für unmöglich hielten oder sich selbst als Kenner der Materie profilieren wollten. Der im 1. Jahrhundert schreibende Gelehrte Geminos verfasste eine Abhandlung über die Phänomene der Astronomie, in der die Lage Thules südlich des Polarkreises erwähnt wird und die das einzige wörtlich bekannte Zitat des Pytheas enthält:
Für die noch nördlicher von der Propontis (Marmarameer) wohnenden Menschen hat der längste Tag 16 Äquinoktialstunden und für die noch weiter nördlich wohnenden 17 und 18. In diesen Gegenden scheint auch Pytheas von Marseille gewesen zu sein. Er sagt jedenfalls in seinem Werk Über das Weltmeer: »Die Barbaren zeigten uns, wo sich die Sonne schlafen legt.« Denn es traf zu, dass in diesen Gegenden die Nacht nur kurz ist, für die einen zwei, für die anderen drei Stunden, so dass die Sonne nach ihrem Untergang nach einer kurzen Zwischenzeit gleich wieder aufgeht.
Wohin auch immer es Pytheas verschlagen hatte, die nächsten Berichte aus dem Nordmeer lassen fast 700 Jahre auf sich warten. Und dazu brauchte es einen irischen Heiligen. Irland war im 6. Jahrhundert n. Chr. das Zentrum einer lebendigen christlichen Kultur mit zahlreichen Klöstern und angeschlossener Infrastruktur wie Schreibstuben, Brauereien und Bauernhöfen, und diese haben durch Lehren und vor allem die Verbreitung von Handschriften die christliche Zivilisation in Nordeuropa nach dem Niedergang des Römischen Reichs zu einem großen Teil bewahrt. Während dieser Zeit wagten sich irische Mönche auf spiritueller Mission oder auf der Suche nach neuen Orten für Klostergründungen in den Nordatlantik und segelten zu den Hebriden, den Orkney- und Shetlandinseln und den Färöern – und auch weiter nach Norden. Einer der bekanntesten Reisenden dieser Zeit ist die halbmythologische Figur des Heiligen Brendan.
Brendan der Reisende wurde 484 n. Chr. in der Nähe von Tralee in der irischen Grafschaft Kerry geboren und reiste nach seiner Priesterweihe im Alter von 28 Jahren unermüdlich durch Irland und die umliegenden Meere, um Klöster zu gründen und zu erweitern. Der Mönch segelte nach Schottland, Wales und in die Bretagne in Nordfrankreich. Seine epischste Reise unternahm Brendan allerdings erst, als er bereits weit über 70 Jahre alt war. 40 Tage lang fastete und betete er auf einem Berg auf der zerklüfteten Dingle-Halbinsel. Er blinzelte auf die Wellen des Atlantischen Ozeans und wunderte sich, was da draußen war, bevor er sich entschied, den sagenumwobenen Garten Eden zu finden.
Brendan fertigte ein traditionelles irisches Curragh an, und zusammen mit einer 18 bis 150 Mann starken Besatzung (hier sind die mittelalterlichen Quellen nicht ganz so genau) stach er in See. Er begegnete hoch aufragenden Kristallsäulen im Ozean, Riesenochsen, Giganten, die das Schiff mit nach faulen Eiern riechenden Feuerbällen bewarfen, und sprechenden Vögeln, die Psalmen sangen. Schließlich landete das Boot auf einer Insel, die die Iren für das Paradies hielten, ein Land voller Blumen, Früchte und bunter Steine. Nach einem 40-tägigen Aufenthalt forderte ein Engel die Männer auf, nach Hause zurückzukehren. Als Brendan nach siebenjähriger Reise dann auf die eigene grüne Insel zurückkehrte, erzählte er allen Ordensbrüdern von den erlebten Abenteuern und prophezeite seinen baldigen Tod. Der später als Schutzpatron der Schiffer verehrte Heilige starb um 577 n. Chr.
Die Erzählung der Reise des Heiligen Brendan wurde mündlich über Generationen in ganz Europa weitergetragen (und ausstaffiert), bis ein irischer Mönch im 9. Jahrhundert ihn schließlich in einem lateinischen Text mit dem Titel Navigatio Sancti Brendani (Die Reise von St. Brendan) zu Papier brachte. Die meisten Gelehrten betrachten die Reise bis heute einfach als religiöse Allegorie. Es gibt aber auch Forscher, die der Meinung sind, dass der Erzählung eine wahre Reise zugrunde liegt, etwa der Historiker und Schriftsteller Tim Severin (1940–2020), der 1977 mit einem nachgebauten Curragh von Irland nach Neufundland gesegelt ist. Die fantastischen Erlebnisse von Brendan lassen sich mit tatsächlichen Zwischenstopps in Irland und Nordamerika auf einer Nordatlantikroute vergleichen: Die Kristallsäulen könnten Eisberge sein, auf den Färöern leben große Schafe und ein Chor kreischender Vögel, und die übelriechenden Feuerbälle könnten auf das Schwefeldioxid anspielen, das von Islands Vulkanen (ohne die Hilfe von Riesen) ausgestoßen wird.
Aber es gibt noch weitere Quellen über eine Insel im Nordmeer, die von der grünen Insel stammen. 825 verfasste der irische Mönch Dicuil, der sich als Astronom und Geograf betätigte, ein Buch namens Liber de Mensura Orbis Terrae (Über die Abmessung des Erdkreises), in dem Thule erneut auftauchte. In seinem Buch berichtet Dicuil von Gesprächen mit anderen irischen Mönchen, die behaupteten, dass sie bis zur Insel Thule gesegelt seien und Pytheas’ Erzählung bestätigten, dass das gefrorene Meer in einer Tagesreise in Richtung Norden von der Insel aus erreichbar sei. In Irland kannte man die Insel also bereits am Ende des 9. Jahrhunderts.
Während Tim Severin 1977 also bewies, dass eine transatlantische Reise zu St. Brendans Zeiten möglich war, wurden keine archäologischen Beweise für eine irische Siedlung in Island gefunden, bevor die Wikinger anfingen, die Insel zu besiedeln. Die Spuren der ersten Menschen auf dem Eiland finden sich (bis jetzt) nur in Geschichten und auf dem Papier wieder – und in den Namen der Orte.
Ein Beispiel ist Papey, eine kleine Insel im Südosten Islands. Die nur zwei Quadratkilometer große Felseninsel ist heute ein Vogelparadies und wird jeden Sommer von mehreren zehntausend Brutpaaren von Papageitauchern besucht, hat ihren Namen aber nicht von den Vögeln, sondern von irischen Einsiedlermönchen, die hier vor der Ankunft der Wikinger gewohnt haben sollen. Der Name leitet sich ab vom isländischen Wort papar, ein Lehnwort aus dem Lateinischen: Papa bedeutet Papst oder Vater und wird zum ersten Mal von Ari Þorgilsson hinn fróði (Ari der Gelehrte, um 1067/1068–1148), Islands erstem Historiker, der in der Landessprache schrieb, in seinem Íslendingabók (Buch der Isländer) von 1125 erwähnt. Nach den gängigen Theorien haben diese papar, dem Vorbild St. Brendans folgend, die irische Küste auf der Suche nach Einsamkeit und Einsiedelei verlassen, doch wie jüngste Untersuchungen zeigen, waren die Atlantikküsten Irlands, Schottlands und Islands in der Vergangenheit nie eine verlassene, von Stürmen gepeitschte Ödnis am Wasser, wie es lange Zeit von Schriftstellern und Historikern dargestellt wurde.
Aber egal, ob nun der Heilige Brendan selbst, andere irische Mönche oder tatsächlich die Wikinger zuerst nach Island kamen, die unbewohnte Insel, die sie vorfanden, war eine der Extreme. In einer Kurzgeschichte in seiner Comicbuchserie Northlanders fängt der amerikanische Autor Brian Wood (*1972) ein, welchen prägenden ersten Eindruck Island auf die Besatzung eines Wikinger-Handelsschiffs gemacht haben könnte. Die Nordmänner sind vom Kurs abgekommen, und just als sie die Insel erreichen, bricht ein Vulkan aus:
Der Wind flaute komplett ab, und die Männer hatten Blasen an den Händen, als sie das Schiff durch Wasser ruderten, das sich dick und zäh anfühlte wie Suppe, bis es wie das Ende der Welt selbst aus dem Meer aufstieg […]. Der Lärm war gewaltig, ein stetiges Brüllen, unterbrochen vom Krachen der Eisbrocken, die ins Meer krachten […]. Der faulige Gestank verstopfte unsere Nasenlöcher, die Hitze versengte unsere Wimpern […]. Wir waren sicherlich im Reich der Götter!
Die Mönche in ihren kleinen Booten müssen eine Erfahrung von ähnlicher Qualität gemacht haben.
Die Vulkaninsel: Geologie, Flora und Fauna
Island ist, geologisch gesehen, eine junge Insel. Sie entstand vor etwa 20 Millionen Jahren aus einer Reihe von Vulkanausbrüchen, die durch die nordamerikanischen und eurasischen tektonischen Platten verursacht wurden, welche sich bis heute mit einer Geschwindigkeit von 2,5 Zentimetern pro Jahr voneinander entfernen. Island wird also irgendwann in der Zukunft auseinanderreißen, und die tektonische Aktivität macht die Insel zu einem Vulkan-Hotspot. Es gibt hier 31 aktive Vulkane, von denen manche seit Tausenden von Jahren ruhen, andere jedoch, wie die Hekla oder der Grímsvötn-Vulkan, alle fünf bis zehn Jahre ausbrechen. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist kein Jahrzehnt ohne einen Ausbruch vergangen. Die dramatischen Landschaften der Insel mit ihren Ebenen und Stränden aus schwarzem Sand, ihren zerklüfteten Lavafeldern, heißen Quellen und bis zu 2100 Meter hohen Bergen sind das direkte Resultat dieser vulkanischen Aktivität. Und auch die Geysire, Lavahöhlen und Basaltklippen, die heute Besucher anlocken, sind die Folgen vergangener Ausbrüche.
Das zweite dominierende Element der isländischen Landschaft, eines, das widersprüchlicher nicht sein könnte, ist das Eis. Aufgrund der Lage am Polarkreis vergletscherte die Insel in der Eiszeit fast vollständig, und in den Jahrmillionen ihrer Existenz haben die isländischen Gletscher die vielen Fjorde und Täler der Insel geformt. Heute bedecken Gletscher immer noch über elf Prozent der Oberfläche – acht Prozent davon werden alleine vom größtem Gletscher Europas eingenommen, Vatnajökull. Dieser Gigant ist rund 8100 Quadratkilometer groß, hat ein Eisvolumen von über 3000 Kubikkilometern und eine Eiskappe, die an der breitesten Stelle bis zu 1000 Meter dick ist. Erwähnt werden sollte auch die Tatsache, dass sich viele der isländischen Vulkane wie Bárðarbunga und Grímsvötn direkt unter einem Gletscher befinden, was bei einem Ausbruch die Verheerung noch verstärkt: Ein Ausbruch unter einem Gletscher kann zu einer sogenannten Jökulhlaup führen, riesige Überschwemmungen durch geschmolzenes Gletschereis (s. Kap. 8). Aber die Gletscher haben natürlich auch eine Funktion im Tourismus der Insel, sind mittlerweile mit geeigneten Offroad-Jeeps sogar befahrbar, und ihre »Nebenprodukte« wie Eishöhlen und Gletscherlagunen sind beliebte Sightseeing-Spots.
Das gnadenlose Zusammenspiel von Feuer und Eis im Inneren der Insel bedeutet aber auch, dass Ackerbau und Viehzucht nur an den Küsten und Flussmündungen möglich sind, wo sich fruchtbarer Boden einigermaßen halten kann. Aufgrund des Golfstroms ist das Klima hier zwar milder als in vergleichbaren Regionen derselben Breitengrade, aber der Boden einer konstanten Wind- und Wassererosion ausgesetzt. Auch deswegen hat es hier vor der Ankunft der ersten Siedler (s. Kap. 3) kaum größere einheimische Säugetiere gegeben, und das größte »Raubtier« der Insel ist der kleine Polarfuchs. Bis heute leben auf Island Vögel in großer Vielfalt, besonders Seevögel wie Papageientaucher und Küstenseeschwalben, und große Fisch- und Robbenbestände. Mit dem Menschen kamen Haus- und Nutztiere, vor allem Schafe und Pferde. Und all diese Geschöpfe klammern sich an die Küsten, denn das innere Hochland der Insel ist eine zwar spektakuläre, aber menschen- und tierfeindliche »Wüste«, in die sich nur Verbannte und Geister verirren.
Bald würden sich die nächsten Menschen um das knappe Ackerland an den Küsten streiten, die nach den irischen Mönchen Island erreichten. Aber zuallererst segelt ein Mann mit zwei Raben an Bord durch das Nordmeer …