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1. Buchverrückt – Islands Liebe zum gedruckten Wort

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Blindur er Bóklaus Maður.

Blind wie ein buchloser Mann.

Isländisches Sprichwort

Wenn man sich nur ein wenig mit Island beschäftigt, kommt man nicht umhin festzustellen, welch großen Stellenwert Bücher und Literatur für die Isländer, ihre Identität und Geschichte einnehmen. Vielleicht sind diese auf Island wichtiger als in jedem anderen Land der Welt, was sich auch in den vielen verrückten Bräuchen und Alleinstellungsmerkmalen des isländischen Buchmarkts zeigt.

Island ist das am dünnsten besiedelte Land Europas und eines der kleinsten Sprachgebiete der Welt mit nur knapp 360 000 Einwohnern und rund 50 000 Sprechern außerhalb des Landes. Und doch werden in Island mehr Bücher pro Kopf produziert als in den meisten anderen Ländern der Welt. Nach Angaben des Internationalen Verlegerverbandes IPA liegt Island bei den Bucherscheinungen pro Kopf an weltweit zweiter Stelle hinter Großbritannien, und jedes Jahr erscheinen rund 1600 neue Bücher. Die durchschnittliche Auflage von Belletristiktiteln beträgt 800 Exemplare – was auf dem kleinen isländischen Markt ungefähr dem Zehnfachen in den USA entspräche. Vielleicht auch gerade, weil Amazon hierhin nur mit Extrakosten liefert, gibt es auf Island noch 83 Buchhandlungen, eine pro 4300 Einwohner (in Deutschland eine pro 14 000 Einwohner), und mehr als 90 Prozent der Isländer lesen laut einer Studie von 2013 mindestens ein Buch im Jahr, mehr als die Hälfte sogar mehr als acht. Dank Halldór Laxness (1902–1998), der 1955 als bisher einziger isländischer Schriftsteller mit dem Literaturnobelpreis gekrönt wurde, sind die Isländer das Volk mit der höchsten Nobelpreisträgerdichte pro Einwohner. Und sehr stolz auf Halldór, dessen Haus Gljúfrasteinn heute als Museum dient.

Es geht aber nicht nur um das Lesen an sich: Literatur ist in Island einer der wichtigsten Teile des öffentlichen Lebens. Bücher sind überall zu finden: auf Tischen in Cafés und Bars, in den Tankstellen im ganzen Land und den Tante-Emma-Läden in den kleinsten Dörfern, sie sind Gesprächsthema beim Friseur und in der Kneipe. Und späht man von der Straße in isländische Wohnzimmer, erblickt man: Bücherregal um Bücherregal. Isländische Autoren sind wichtige Personen nicht nur auf den Seiten des Feuilletons, sondern häufig auch bedeutendere Sprecher und Aktivisten als die Politiker der Insel selbst: Während der sogenannten Búsáhaldabyltingin (›Kochtopfrevolution‹) und dem Protest gegen die isländische Regierung und den Finanzcrash 2008 waren vor allem Autoren und Künstler die Sprachrohre der Protestbewegung. Auf der ganzen Insel finden sich Denkmäler und Gedenktafeln nicht nur für wichtige Autoren, sondern für Bücher und Gedichte selbst, häufig an den Orten, an denen diese spielen. Und wenn man sich dem Museum in der Kleinstadt Höfn im Süden der Insel nähert, das dem Schriftsteller Þórbergur Þórðarson (1888–1974) gewidmet ist, was sieht man dann schon von weitem? Eine lange Reihe von drei Meter großen Buchrücken, die die Fassade des Museums bilden.

Wenn im November der Wind in der Bucht von Reykjavík jault, die Wellen aufpeitscht und gleichzeitig der Schneeregen gegen die Fenster klatscht, kommt auch eine andere Wetterfront auf Island zu, eine aus gedruckten Büchern. Der größte Teil der hier verlegten Bücher erscheint erst im Spätherbst, und kurz vorher wird der Bókatíðindi veröffentlicht: ein dicker Katalog, der an alle Haushalte verteilt wird und sämtliche Neuerscheinungen aller Genres auflistet. Kurz darauf folgt dann die jólabókaflóð, die Weihnachtsbücherflut – vor allem der Tradition geschuldet, zu Weihnachten Bücher zu verschenken. Laut isländischem Verlegerverband verschenken 70 Prozent der Menschen hier mindestens ein Buch zu Weihnachten. Dieser Brauch geht auf den Zweiten Weltkrieg zurück, als Importbeschränkungen Bücher zum beliebtesten Weihnachtsgeschenk machten. Papier wurde im Gegensatz zu anderen Rohstoffen nicht rationiert, aber der Markt war klein, und die Verleger glaubten nicht, dass sie das ganze Jahr über Bücher verkaufen konnten, dementsprechend wurden neue Bücher gezielt in den Wochen vor Weihnachten veröffentlicht. Diese Strategie wird bis heute beibehalten, und die Buchhandlungen werden zu dieser Zeit regelrecht überflutet. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass in Reykjavík und anderswo im Land die Zeit von Anfang Oktober bis Weihnachten in erheblichem Maße den Büchern gewidmet ist: Verlage bringen neue Bücher in großer Zahl heraus, Buchhandlungen, Bibliotheken, Cafés und Schulen fördern sie auf verschiedene Weise, und die Öffentlichkeit strömt zu Veranstaltungen und Lesungen mit Schriftstellern, die sogar als Verkäufer in Buchhandlungen auftreten. Am Tag vor Weihnachten, dem Hauptkampftag der jólabókaflóð, haben die meisten Buchhandlungen bis 23 Uhr geöffnet, die Buchhändler stehen verkleidet hinter der Theke, und ein großer Teil der Isländer kauft an diesem Tag die neuen Bücher. Einige Leute kaufen sich sogar selbst ein neues Buch zu Weihnachten, falls sie das Buch, das sie sich gewünscht haben, nicht bekommen sollten. Einer der Höhepunkte des isländischen Weihnachtsfests ist es bei vielen, gleich nach dem gemeinsamen Abendessen im Familienkreis mit dem Lesen eines neuen Buchs zu beginnen.

Die Menschen in Island waren schon immer begeistert vom Geschichtenerzählen. Die Entdecker Islands und die ersten Siedler aus Norwegen im 9. und 10. Jahrhundert brachten ihre Geschichten von Odin, Freya und Loki mit auf die Insel und gaben die Erfahrungen der sogenannten Landnahme, der Besiedlung Islands, in den nächsten Jahrhunderten mündlich weiter – sie waren von Anfang an exzellente Geschichtenerzähler und Sprachkünstler. Den Isländern und ihrer Liebe zum Fabulieren und Geschichtenerzählen verdankt die Welt die einzigen schriftlichen Quellen über die nordische Götterwelt: Im 13. Jahrhundert entstanden sowohl die Lieder-Edda, eine Sammlung von Götter- und Heldenliedern, die mit den Siedlern auf die Insel gekommen waren, und die Prosa-Edda des wichtigsten isländischen Autors Snorri Sturluson (1179–1241), die nicht nur die mittlerweile weltweit bekannten Geschichten der Abenteuer von Odin, Thor und Loki enthält, sondern auch eine Einführung in die Kunst der Skaldendichtung (s. Kap. 3). Zur selben Zeit wie die Eddas entstand aus der mündlichen Überlieferung der Landnahme und der Skaldendichtung, in der heidnische mit christlichen Elementen vermischt wurden, auch das Grundgerüst der isländischen Literatur bis heute: die mittelalterlichen Sagas (s. Kap. 4). Vom irischen Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney (1939–2013) als »Poesie des Nordatlantik« bezeichnet, sind die Sagas (nicht Sagen) eine faszinierende Sammlung von Helden-, Abenteuer- und Familiengeschichten, die zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert aufgeschrieben wurden und neben den Mythen der nordischen Götterwelt auch die Gründungsgeschichte des Staates Island erzählen. Hier finden sich die Namen der ersten Siedler und ihre Familiendramen und Konflikte, Geschichten von Wikingerfahrten und Gedichte, die von Königen und Herrschern mit goldenen Armreifen prämiert wurden, werden wiedergegeben, und die Landschaft Islands erhält ihre Ortsnamen. Es gibt wenige andere Länder, in denen ein Korpus mittelalterlicher Literatur auf nationaler Ebene den Menschen so am Herzen liegt wie die Sagas den Isländern. Sie gelten zu Recht als kulturstiftendes Erbe; es gibt keine derart kleine Nation, die einen solchen Schatz mittelalterlicher Texte besitzt, der sich seinen Lesern heute so leicht erschließt. Aber auch nach dem Ende der Saga-Hochzeit im 14. Jahrhundert und den darauffolgenden Jahrhunderten, in denen die Insel unter dänischer Kolonialherrschaft ein vernachlässigter und trostloser Ort am Rand der Welt und eines der ärmsten Länder Europas war, blieb das geschriebene Wort der wichtigste Aspekt der isländischen Kultur. Städte im mitteleuropäischen Sinne gab es kaum, und das kulturelle Angebot war gering. Mit einer bedeutenden Ausnahme: der Literatur. In vielen Gehöften im ganzen Land wurde Ende des 18. und Anfang der 19. Jahrhunderts der alte Brauch des húslestur (›Hauslesen‹) praktiziert, bei dem sich alle Haushaltsmitglieder am Abend nach dem Essen in der Baðstofa (›Wohnzimmer, Schlafraum und Werkstatt in einem‹) versammelten. Die Hausarbeiten wurden erledigt, während der Mann des Hauses laut aus der Bibel, den isländischen Sagas oder dem Bauernkalender vorlas, um seine Familie und die Knechte und Mägde zu unterhalten. Während der langen kalten und dunklen Wintermonate gab es oft wenig anderes zu tun, und die Menschen suchten nach etwas, um die Dunkelheit vergessen zu machen. Und was könnte dazu besser geeignet sein, als die alten Geschichten der Helden nachzuerzählen oder neue zu erfinden?

Das Land weist eine außergewöhnlich hohe Alphabetisierungsrate auf (rund 99 Prozent). Ungefähr jeder zehnte Isländer veröffentlicht ein Buch, das ist der weltweit höchste Anteil an Schriftstellern in der Gesamtbevölkerung. Das führt zu mitunter kuriosen Konstellationen, wie die Schriftstellerin Kristín Eiríksdóttir (*1981) in einem BBC-Interview von 2013 verdeutlicht: »Stehen wir miteinander in Konkurrenz? Ja, zumal ich mit meiner Mutter und meinem Partner zusammenlebe, die ebenfalls beide Vollzeit-Autoren sind. Aber wir versuchen, in abwechselnden Jahren zu veröffentlichen, damit wir nicht zu sehr miteinander konkurrieren.« Das zeigt, dass die Isländer einen wesentlich direkteren und demokratischeren Zugang zum Prozess des Schreibens, dem Medium Buch und dem Verlagswesen haben, als dies in vielen anderen Gesellschaften der Fall ist. Autoren hier kommen nicht von Homer und Cervantes und wohnen im Elfenbeinturm, sondern häufig nur drei Häuser weiter. Die Gegenwartsautoren kennen sich fast alle untereinander, weil die meisten in Reykjavík wohnen und man sich ständig über den Weg läuft. Der isländische Literaturbetrieb ist von gemeinsamen Lesungen, Kollektiven und genereller Zusammenarbeit geprägt – der Austausch unter den Schriftstellern läuft wesentlich einfacher als in anderen Ländern. Schriftsteller arbeiten viel mit Musikern und Filmemachern zusammen, einfach weil man sich untereinander persönlich bereits kennt sowie die Arbeit und Spezialgebiete des anderen schätzt. Die isländischen Künstler sind »Macher« im weitesten Sinne und oft impulsiv in ihrer Zusammenarbeit: Viele Kollektive, Dichtergruppen oder Projekträume finden ihren Ursprung nicht in Förderanträgen oder den Planungen des Kulturamts, sondern auf Partys, in der Eckkneipe oder in koffeinhaltigen Diskussionen im örtlichen Buchladen. Und grundsätzlich ist die Chance hoch, dass begeisterte Krimileser ihre Lieblingsautorin morgens beim Bäcker oder abends in der Kneipe treffen.

Die meisten zeitgenössischen Autoren leben heute wie erwähnt in Reykjavík, und nicht nur deswegen ist die isländische Hauptstadt ein Literaturparadies. Reykjavík ist das Zentrum des größten urbanen Raums auf Island mit 200 000 Einwohnern und von herausragender Bedeutung für das gesamte kulturelle Leben des Landes. Die nördlichste Hauptstadt der Welt beherbergt alle wichtigen Kulturinstitutionen, verfügt über eine blühende Kunstszene und ist als kreative Stadt mit vielen Festivals und Events global bekannt. Vor allem seit dem Finanzcrash von 2008 haben sich Island und seine Hauptstadt als eines der wichtigsten Touristenziele weltweit neu erfunden, dementsprechend gibt es hier ein breites Angebot für Buchfans.

Buchhandlungen haben in Island einen großen Stellenwert im öffentlichen Leben. Während die meisten Geschäfte um 19 Uhr schließen, haben die Buchhandlungen hier eine Ausnahmegenehmigung und sind unter der Woche stets bis 22 Uhr geöffnet. Buchhandlungen auf Island waren, wie die Tante-Emma-Läden in Deutschland, immer schon Orte der Begegnung und des gesellschaftlichen Lebens, an denen man in Ruhe einen Schwatz halten und die Nachbarn treffen konnte. Und schon lange bevor Hybridläden in New York und Berlin en vogue waren, konnte man in isländischen Buchhandlungen einen Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen. Stellvertretend für diese gemütliche Atmosphäre ist die in einem alten Holzhaus aus dem 19. Jahrhundert untergebrachte Buchhandlung IÐA Zimsen in Downtown Reykjavík. Gerade im Winter ein perfekter Ort, um eine Stunde mit einem Kaffee und einem Buch zwischen Lichterketten und Kerzen zu sitzen, wenn draußen der Schnee gegen die Scheiben klatscht. Oder auch mit einem geistreichen Getränk – Zimsen verkauft sogar Bier und Wein. In fast allen Buchhandlungen Islands aber gibt es kleine Cafés mit Wohnzimmeratmosphäre, und der Duft von frischem Kaffee und Kuchen passt perfekt zu den Büchern und lädt zum Verweilen und Lesen ein. Auf der Haupteinkaufsstraße Laugavegur befand sich bis Ende 2020 Mál og Menning, die bekannteste Buchhandlung von Reykjavík, die nach 80 Jahren im Geschäft leider der Coronapandemie zum Opfer fiel. 1937 wurde in diesem Haus auch der gleichnamige unabhängige Verlag gegründet, der die Erstausgaben vieler berühmter isländischer Schriftsteller veröffentlichte, zum Beispiel Þórbergur Þórðarson, Svava Jakobsdóttir (1930–2004), Þórarinn Eldjárn (*1949) und Einar Kárason (*1955). Nach dem Finanzcrash 2008 wurde der Verlag zu einer Tochtergesellschaft von Forlagið, dem heute größten Verlag Islands. Noch älter (und größer) als Mál og Menning ist die Filiale der einzigen isländischen Buchhandelskette Eymundsson an der Skólavörðustígur, der Straße, die in Richtung Hallgrímskirkja führt, Islands größter Kirche. Die Buchhandlung wurde 1872 von Sigfús Eymundsson (1837–1911), einem Fotografen und Buchbinder, gegründet. Sigfús war der erste isländische Geschäftsmann, der Schreibmaschinen und Safes importierte, und auch der erste Fotograf, der Postkarten mit seinen eigenen Fotos veröffentlichte und in seinem Geschäft verkaufte. Heute gibt es 15 Filialen mit fast 200 Angestellten in ganz Island, selbst in abgelegenen Orten wie der Hauptstadt der Westfjorde Ísafjörður mit ihren 3000 Einwohnern oder dem kleinen Ort Húsavík an der Nordküste. Die Läden bleiben selbst im Winter bei minus zehn Grad Celsius und zwei Meter Schnee vor der Eingangstür geöffnet und versorgen die Bewohner weiter mit Büchern. Die Lieferungen neuer Bücher erfolgen im Winter übrigens häufig mit dem Flugzeug oder sogar dem Schiff von Reykjavík aus – auf den neuesten Krimi muss man als Leser also manchmal durchaus länger warten. In Reykjavík gibt es insgesamt acht Filialen von Eymundsson, und die in einem Neubau an der Skólavörðustígur hat natürlich auch ein kleines Café. Isländische Buchhändler sehen sich übrigens nicht in erster Linie als Gastronomen, die neben Speisen und Getränken auch Bücher verkaufen, vielmehr gibt es in Island schon länger ein erweitertes Verständnis von Buchhandlungen als wichtigem Treffpunkt ohne Konsumzwang – kein Wunder in einem Land, in dem selbst die abgelegenste Tankstelle schon seit den Anfangstagen des Kalten Kriegs kostenlosen Kaffee anbietet. Es gibt aber auch Buchläden ohne Kaffee wie das Antiquariat Bókavarðan, kurz Bókin genannt, wo sich Tausende alte Bücher und vergilbte Zeitungen bis fast an die Decke stapeln und das der Lieblingsort des amerikanischen Schachweltmeisters Bobby Fischer (1943–2008) war, der auf Island im Exil lebte.

Aufgrund des kleinen Marktes gibt es auf Island noch relativ viele unabhängige kleine, vorwiegend inhabergeführte Buchhandlungen, wo es sich z. B. für Eymundsson nicht lohnt, eine Filiale zu eröffnen, oder es gibt Cafés, die auch Bücher anbieten, oder an Museen angeschlossene Shops, die häufig ein größeres Sortiment an Allgemeinliteratur führen als in Deutschland und bei denen auch die Nachbarn einkaufen. Die Wertschätzung der Literatur sorgt für ein großes Bewusstsein für die Bedeutung des lokalen Buchhandels, auch weil der Onlinehandel in Island über die Buchläden selbst abgewickelt wird. Amazon liefert wie erwähnt nur gegen Extrakosten nach Island, und trotz einer reduzierten Mehrwertsteuer von elf Prozent auf Bücher (normalerweise 24 Prozent) sind Bücher hier im Schnitt immer noch teurer als anderswo. Die Menschen kaufen also die Bücher lieber gezielt bei ihrem Nachbarn. Dabei schwören die Isländer übrigens weiter auf Printware. In Island werden E-Books erst seit 2011 veröffentlicht, und im Jahr 2014 zum Beispiel machte der Verkauf von E-Books weniger als ein Prozent des Gesamtumsatzes auf dem isländischen Buchmarkt aus, vielleicht weil Bücher hier so oft zu Weihnachten verschenkt werden. Aber auch das ändert sich: 2017 hatten die Verkäufe von E-Books schon um über 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugenommen.

Die isländischen Buchhandlungen spielen nicht nur eine wichtige Rolle bei der Literaturvermittlung durch klassische Formate wie Lesungen, öffentliche Diskussionsrunden oder Signierstunden, sondern sind Kulturzentren im Sinne des Wortes. Was die Kunst in Island auszeichnet, ist das kaum vorhandene Schubladendenken. Schriftsteller arbeiten häufiger und ohne Scheuklappen mit Musikern, Filmemachern und Theaterleuten zusammen als vielleicht sonst irgendwo in Europa. Und so ist es kein Wunder, dass es in den Buchhandlungen auch Kammerkonzerte, Unplugged-Rockshows oder DJ-Sets zu sehen und hören gibt.

Auch die Verlagslandschaft ist in Island außergewöhnlich. Es gibt fast 30 unabhängige Verlage, häufig Familienbetriebe, die seit vielen Jahrzehnten existieren – und das in einem Land, das weniger Einwohner als Bochum zählt! Die meisten Verlage in Island haben ihren Sitz in Reykjavík, und heute ist das Verlagswesen zu einer boomenden Branche geworden. Die außergewöhnliche Bücherliebe der Isländer erlaubt es auch Nischenverlagen mit eher abseitigen Programmen, solide zu wirtschaften, so zum Beispiel dem Kunstbuchverlag Crymogea, der sich auf Naturbücher spezialisiert hat, oder dem Verlag/Kunstprojekt Tunglið, der immer nur 69 Exemplare eines Buchs pro Jahr druckt (und das auch nur bei Vollmond). Das Weihnachtsgeschäft hat überdies Einfluss auf die Planung von Veröffentlichungen, die sehr schnell vom ersten Manuskript zum fertigen Buchprodukt verarbeitet werden: Traditionell schicken die Autoren ihre Manuskripte im September, damit die Verlage schon Anfang Dezember die Bücher in die Läden bringen können. Das größte isländische Verlagshaus ist Forlagið, wurde 2007 gegründet und hat einen Anteil von 50 Prozent am allgemeinen Verlagsmarkt in Island, viermal mehr als der zweitgrößte Verlag, Bjartur & Veröld. Forlagið ist auch der erste isländische Verlag, der von einem ausländischen Unternehmen aufgekauft wurde: Seit 2020 gehören dem schwedischen Hörbuchverlag Storytel 70 Prozent des Unternehmens, eine absolute Novität auf dem isländischen Buchmarkt. Viele Autoren fragen sich, was aus ihren Urheberrechten und zukünftigen Veröffentlichungen wird, und die Geschäftsführerin des isländischen Schriftstellerverbandes Ragnheiður Tryggvadóttir merkte dazu an:

Die Leute sind geschockt, dass ein derart großer Anteil eines isländischen Verlages jetzt einem ausländischen Unternehmen gehört. Weil wir uns fraglos als Wahrer der isländischen Sprache sehen, und die isländische Sprache ist die Basis unserer nationalen Kultur. Unsere erste Reaktion war, dass das überhaupt keinen Sinn hat.

Das ist wenig verwunderlich: Bis heute liegt der gesamte Produktionsablauf isländischer Bücher alleine auf der Insel: Zwei Druckereien in Reykjavík drucken 70 Prozent aller veröffentlichten Bücher, und vom Lektorat bis zur Kasse im Buchhandel liegt alles in isländischer Hand. Das gilt auch für den Lizenzhandel: Neben Einzelauftritten isländischer Verlage auf den großen Buchmessen in London, Frankfurt oder Leipzig wird dieser zentral vom Miðstöð íslenskra bókmennta, dem isländischen Literaturzentrum mit Sitz in der Innenstadt von Reykjavík, angestoßen. Diese vom Staat finanzierte Institution hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Bewusstsein für die isländische Literatur sowohl im Inland als auch im Ausland zu schärfen und ihre Verbreitung zu fördern, und veröffentlicht zweimal pro Jahr eine Übersicht der neuesten Bücher der Insel für ausländische Verlage. Bei Interesse an einer Übersetzung vermittelt sie direkt an den jeweiligen isländischen Verlag. Ausländische Verleger isländischer Bücher können beim Zentrum Zuschüsse für Übersetzungen beantragen (die meisten deutschen Übersetzungen, die in diesem Buch erwähnt werden, haben davon profitiert), und Autoren, Verleger und Organisatoren können sich um finanzielle Unterstützung für Auslandsreisen und entsprechende Literaturveranstaltungen bewerben.

Wie beliebt Bücher in Island sind, zeigt sich nicht zuletzt auch in der Geschäftigkeit der öffentlichen Bibliotheken: Die moderne Stadtbibliothek in Reykjavík zum Beispiel, seit dem Jahr 2000 in einem großen Gebäude in Downtown untergebracht, ist die größte öffentliche Bibliothek Islands mit über 700 000 Besuchern im Jahr – und das in einer Stadt mit 200 000 Einwohnern. Pro Jahr werden alleine hier 1,2 Millionen Bücher ausgeliehen. Insgesamt gibt es in Island 78 öffentliche Bibliotheken, so dass jede der 75 Gemeinden des Landes mindestens eine Bibliothek besitzt, und diese haben einen Buchbestand von über zwei Millionen Exemplaren – also sechs Bücher für jeden einzelnen Einwohner der Insel. Und wie die Buchhandlungen sind auch die öffentlichen Bibliotheken wahrhaftige Kulturzentren und bieten zahlreiche Aktivitäten wie Vorträge, Schreibworkshops oder Vorlesestunden für Kinder an. Die Stadtbibliothek in Reykjavík organisiert im Sommer literarische Stadttouren durch die Nachbarschaft. Außerdem hat sie ein Büchermobil mit dem Namen ›Der Chef‹ (bókabíllinn Höfðingi) und ein Geschichtenmobil mit dem Namen ›Der Narr‹ (Æringi). Das Büchermobil, übrigens das einzige auf Island und mit einer dicken Couch im Heck, besucht unter der Woche fast 40 Orte in ganz Reykjavík und das Geschichtenmobil zur selben Zeit Vor- und Nachschulkindergärten. Überhaupt sind öffentliche Bibliotheken in ganz Island besondere Orte: In der Hafenstadt Akranes im Westen der Insel zum Beispiel liegt die Bibliothek direkt neben der örtlichen Filiale von Eymundsson, ohne dass man sich Konkurrenz macht. Menschen kaufen Bücher, die sie vorher in der Bibliothek gelesen haben, oder sie leihen sich Bücher aus, die sie dann als Geschenke in der Buchhandlung kaufen. Die Bibliothek von Ísafjörður in den Westfjorden ist Teil des Kulturhauses Eyrartuni, das im ehemaligen städtischen Krankenhaus von 1925 untergebracht ist und auch eine Ausstellung zur Geschichte des Hauses und ein Archiv beherbergt. Die älteste und kleinste öffentliche Bibliothek Islands findet man in einem kleinen Holzhaus auf der Insel Flatey im Breiðafjörður, erbaut 1864 und einst Aufbewahrungsort der wichtigen mittelalterlichen Chronik und Sagasammlung Flateyjarbók. Die außergewöhnlichste Bibliothek Islands ist allerdings keine städtische: In Stykkishólmur auf der Snæfellsnes-Halbinsel befindet sich die faszinierende ›Bibliothek des Wassers‹ (Vatnasafn). Dieses 2007 ins Leben gerufene Projekt wurde von der amerikanischen Künstlerin Roni Horn (*1955) initiiert und ist in der ehemaligen öffentlichen Bibliothek untergebracht, allerdings ohne viele Bücher. Die Sammlungen bestehen aus 24 Glassäulen mit Wasser aus Eis von den wichtigsten isländischen Gletschern, und in einem Nebenraum können die Besucher in Roni Horns fortlaufender Buchreihe über Island stöbern. Das untere Stockwerk der Wasserbibliothek ist ein privates Atelier, in das jedes Jahr Schriftsteller zu einem Arbeitsaufenthalt eingeladen werden. Die Residenzen werden abwechselnd von in Island ansässigen und ausländischen Schriftstellern genutzt, darunter die isländische Schriftstellerin Guðrún Eva Mínervudóttir (*1976), die amerikanische Autorin Rebecca Solnit (*1961) sowie die kanadische Dichterin Anne Carson (*1950).

Neben den größten Buchhandlungen des Landes, schrulligen Antiquariaten, der Zentralbibliothek und fast allen wichtigen Literaturinstitutionen des Landes gibt es in Reykjavík das Alþjóðlega bókmenntahátíðin, das Internationale Literaturfestival, das seit 1985 alle zwei Jahre stattfindet. In der Vergangenheit haben weltbekannte Autoren wie Günter Grass (1927–2015), Isabel Allende (*1942), J. M. Coetzee (*1940), Margaret Atwood (*1939), Paul Auster (*1947) und Swetlana Alexijewitsch (*1948) daran teilgenommen. Es gibt das Mýrin Bókmenntahátíð, das Internationale Kinderliteraturfestival, das seit 2001 alle zwei Jahre stattfindet, und Literatur ist immer auch wichtiger Teil des Programms des Reykjavík Arts Festival, das ebenfalls im Zweijahresrhythmus stattfindet. Da ein großer Teil der Künstler in Island multidisziplinär und kollaborativ arbeitet, ist das jährliche Iceland-Airwaves-Musikfestival ein ebenso wichtiges Event im Kulturkalender, bei dem Musiker gemeinsam mit Schriftstellern auftreten.

Im Jahr 2011 wurde Reykjavík als erste nichtenglischsprachige Stadt zur UNESCO-Literaturstadt ernannt, als insgesamt fünfte Stadt der Welt, die diesen Ehrentitel erhielt – mittlerweile gibt es 39 solcher Literatur-Weltstädte. Um diesen Titel zu würdigen und zu fördern, hat die Stadt als Unterabteilung des Kulturamtes die Reykjavík Bókmenntaborg UNESCO & Bókmenntavefur ins Leben gerufen, die Reykjavík UNESCO Literaturstadt & Literaturnetz. Diese Institution betreibt neben ihrem Programm und ihrer Residenz die Website bokmenntaborgin.is, ein fantastisches Repositorium an Informationen, Leseproben und Bibliografien fast aller isländischen Schriftsteller der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart mit Bezug zu Reykjavík. Die englischsprachige Version der Website richtet sich gezielt an ein internationales Publikum und präsentiert auch Auszüge aus bislang noch nicht übersetzten Klassikern oder neuen Veröffentlichungen als Appetithappen. Für Autoren selbst ist der isländische Schriftstellerverband oder Rithöfundasamband Íslands (RSÍ) die wichtigste Institution. Er wurde 1974 gegründet und ging als eigenständige Organisation aus dem Schriftstellerverband des isländischen Künstlerverbands hervor. Ziel der Organisation ist es, die Interessen und Rechte der Schriftsteller zu schützen, eine allgemeine Unterstützungsstruktur für isländische Autoren zu schaffen und die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Heute hat der Verband rund 500 Mitglieder, darunter Lyriker, Romanschriftsteller, Drehbuchautoren, Dramatiker, Akademiker und Übersetzer.

Die Freude am Lesen und Schreiben begleitet die Einwohner Islands von klein auf. Jede weiterführende Schule, auch die Fach- und Berufsschulen, hat eine Bibliothek, die neben Werken zum jeweiligen Schwerpunkt der Schule einen umfassenden Bestand an Allgemeinliteratur bereitstellt. Der jeweilige Schulbibliothekar unterbreitet den Lehrern proaktiv zu jedem Schuljahr die für die jeweiligen Stufen passenden Angebote. Die Bibliotheken sind aber auch nicht nur reine Orte der Ausbildung und des Lernens, sondern werden aktiv als Freizeit- und Rückzugsorte für die Schüler beworben. Und natürlich stehen die Klassiker der isländischen Literatur wie die Sagas oder die Werke von Halldór Laxness seit Jahrzehnten auf dem Lehrplan. Aber nicht alle isländischen Schüler werden begeisterte Literaten. 2019 hat das isländische Radio Schüler nach ihrer Leselust befragt, und ein Gymnasiallehrer gab an, vor 20 Jahren mit den Schülern drei Laxness-Romane gelesen zu haben, heute sei es aber nur noch einer.

Die Insel ist und bleibt aber dennoch ein Land der Leseratten. Isländer bezeichnen sich als bókaþjóð, als Buchnation, und der Begriff wird nicht im übertragenen Sinn verwendet: Es gibt im Isländischen dieses Wort nur in Bezug auf Island selbst und nie auf ein anderes Land. Island ist die Buchnation, und die Menschen hier lesen und schreiben wie kaum sonst jemand auf der Welt. Jeder Zehnte geht hier durch die Straßen und sammelt Eindrücke und Geschichten, um diese weiterzuspinnen und in Buchform zu erzählen, und wenn sich die auf den ersten Blick schroffen Isländer einmal warmgeredet haben, hat jeder hier eine Geschichte (oder vier) zu erzählen. Die Zahl derjenigen, die hauptberuflich als Schriftsteller arbeiten, ist allerdings mit der in Deutschland vergleichbar: In einer Umfrage des Schriftstellerverbandes RSÍ im Jahr 2017 gaben nur 34 Prozent der Mitglieder an, vom Schreiben leben zu können.

Island kann also ohne Übertreibung als eine Kultur des Wortes bezeichnet werden, besonders weil die mittelalterlichen Handschriften bis in die Gegenwart identitätsstiftend bleiben. Durch die Texte konnten die Isländer über Jahrhunderte dänischer Kolonialherrschaft ihre kulturelle Identität bewahren, denn die Sagas handeln zum großen Teil nicht von irgendwelchen fernen Königen, sondern von Bauern, Fischern und Naturgewalten. Die Themen der isländischen Literatur haben sich in den letzten 70 Jahren aber deutlich geändert, doch erst ab den 2000er Jahren konnte die neueste Generation von Autoren aus dem übermächtigen Schatten Laxness’ heraustreten und eine moderne isländische Literatur schaffen. Die zeitgenössischen Schriftsteller behandeln vor allem Themen der Gegenwart, die sie in der ganzen Welt finden, und sind nicht mehr nur auf die Insel beschränkt. Isländische Literatur ist einerseits kritisch heimatverbunden, andererseits weltoffen, kosmopolitisch. Die Wertschätzung des geschriebenen Wortes und die Betonung des kulturellen Fortschritts haben dazu geführt, dass Künstler auf Island einen sehr hohen Status in der Gesellschaft innehaben. Vertreter der kreativen Künste gelten heute nicht nur als das sprichwörtliche Gewissen des Landes, sondern werden auch mehr als in anderen Ländern zu Aktivisten und Politikern – wie zum Beispiel der Schriftsteller Andri Snær Magnason (*1973; s. Kap. 10), einer der Kandidaten bei der Präsidentenwahl 2016.

Angesagt auf der ganzen Welt sind in Island geschriebene (und stattfindende) Kriminalgeschichten, insbesondere im englisch- und deutschsprachigen Raum, und es gibt hier einen extrem hohen Anteil an Krimiautoren, deren Werke auch in anderen Medien wie geschnitten Brot verkauft werden. Kino- oder TV-Krimis, die auf den Werken internationaler Literaturstars wie Yrsa Sigurðardóttir (*1963) oder Ragnar Jónasson (*1945; s. Kap. 11), basieren, sind global so erfolgreich wie ihre Bücher. Island mag also ein Beweis dafür sein, dass eine feindliche und gnadenlose Natur, so gruselig sie auch erscheinen mag, nicht immer das Schlimmste im Menschen und seine innersten Dämonen hervorruft –, sondern stattdessen die Fantasie seiner Bewohner sprießen lässt.

Die isländische Natur spielt eine entscheidende Rolle in der Literatur und ist ebenfalls mit den Sagas verknüpft: Die Erfahrungen der kleinen und unbedeutenden Menschen im Angesicht der harten Natur der gnadenlosen Vulkaninsel bilden den Rahmen fast aller Erzählungen. Es an einem solchen gnadenlosen Ort, wo das reine Überleben schon schwierig genug war, auch noch zustande zu bringen, Bücher zu schreiben und darin Geschichten zu erzählen, die die Menschen bis heute inspirieren, ist wirklich beeindruckend. Die Geschichten der Sagas sind fiktiv, aber nie unrealistisch und immer in der Landschaft der Insel verankert. Wie die Liebe zum Spiel mit Sprache ist die Wahrnehmung der dramatischen Natur mit ihren Lavafeldern, Lawinen und Schneestürmen eine der Triebfedern für den isländischen Drang zum Geschichtenerzählen, zum Schreiben und Lesen von Büchern. In anderen Ländern gibt es römische Tempel und Amphitheater, Raubritterburgen und Kathedralen, die an die Vergangenheit erinnern. In Island gab es lange Zeit: nichts. Anstatt auf Ruinen oder auf altertümliche Bauwerke können die Isländer nur auf einen Fluss oder Gletscher zeigen und sagen: Hier haben sich diese und jene Geschichten abgespielt, und deswegen heißt der Ort jetzt soundso. Isländische Geschichte und Geschichten sind immer fest in der Natur der Vulkaninsel verankert, und viele der Künstler und Autoren sind von ihrer Heimat inspiriert. Aber niemals idealisierend oder verniedlichend und immer mit dem Blick nach außen.

Die Faszination von unbarmherziger Natur und einer 800-jährigen Tradition des Romans hat isländische Literatur immer schon für andere spannend gemacht. Spätestens seitdem Island 2011 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war und durch neue Übersetzungen und eine breite Präsenz in den Medien viele neue Leser gefunden hat, ist die Lust auf Bücher aus dem Norden in Deutschland ungebrochen und sind isländische Autoren gern gesehene Gäste auf literarischen Veranstaltungen im ganzen Land. Deutschland ist nach Großbritannien und Frankreich der größte Absatzmarkt für Autoren und Verlage aus Island, und dieses Interesse zeigt sich auch in den Veröffentlichungen: Alleine seit 2017 wurden mehr als 50 Bücher aus dem Isländischen ins Deutsche übersetzt und in Deutschland, Österreich und der Schweiz veröffentlicht. Diese Verbindung wirkt natürlich auch andersherum, und deutschsprachige Künstler reisen gerne nach Island, um sich vom Land inspirieren zu lassen (s. Kap. 7). Ein Teil dieser Faszination ist sicherlich eine kindliche, eskapistische Begeisterung für Geschichten über magische Schwerter, Thors Hammer und den Blutadler; ein anderer Teil jedoch ist ein beständiges Interesse an Menschen, Landschaften und Literatur am Rand; an Kulturen, die sich der Zerbrechlichkeit der irdischen Existenz bewusst sind und deren plötzliches und gewalttätiges Ende an dunklen und kalten Orten nicht nur in den Nachrichten vorkommt, sondern Teil des täglichen Lebens ist. Das harsche Vulkaneiland der Wikinger, so unwirtlich es auch war, hat immer wieder Fremde angesprochen, und die dramatische Landschaft und einzigartige Kultur haben ein beeindruckendes Nordland-Œuvre von Autoren aus der ganzen Welt beeinflusst. Von Jules Verne (1828–1905), der 1864 den Eingang zur Reise zum Mittelpunkt der Erde im Snæfellsjökull-Krater verortete, über die Sagen und Volksmärchen über Elfen, die Wilhelm Grimm (1786–1859) schon 1811 in seinen Altdänischen Heldenliedern, Balladen und Märchen übersetzte und die J. R. R. Tolkiens (1892–1973) Der Hobbit (1937) und Der Herr der Ringe (1954) bis hin zu den Thor-Comics aus dem Marvel-Verlag und Neil Gaimans (*1960) Nordische Mythen und Sagen (2017): Island und seine Literatur inspirieren Künstler auf der ganzen Welt schon lange.

Genau wie seine Bewohner weist dieser Ort eine Vielzahl von Identitäten auf: Island ist vermutlich der letzte Ort in Europa, der besiedelt wurde. Das Land war eine vernachlässigte Kolonie unter Fremdherrschaft, deren Bevölkerung durch Naturkatastrophen fast ausgerottet wurde. Nach den beiden Weltkriegen wandelte Island sich zu einer fortschrittlichen nordischen Demokratie und entwickelte sich schließlich von einem der ärmsten Mitglieder der Europäischen Zentralbank zu einem globalen Finanzakteur, um nur wenig später, 2008, einen spektakulären Staatsbankrott zu erleiden. Island ist heute eines der beliebtesten Reiseziele der Welt und das Interesse an seinen Kulturerzeugnissen ungebrochen. Die faszinierende Insel im Nordmeer ist außerdem vor allem eines: ein Paradies für Buchliebhaber und Geschichtenerzähler. Die Autoren der Insel schreiben sowohl über aktuelle gesellschaftliche Missstände als auch historische Ereignisse, verfassen spannende Krimis, aber auch absurd-komische Werke mit einem Hang zum Grotesken und schaffen es dabei immer, literarische Stile und Themen der Vergangenheit und Gegenwart geschickt miteinander zu verbinden.

In den folgenden Kapiteln gehe ich anhand der historischen Entwicklung der isländischen Literatur der Frage nach, warum Bücher auf dieser kalten, vom Atlantik umbrandeteten und von Winterstürmen gepeitschten Insel seit jeher derart beliebt sind und warum die Literatur für Island überlebensnotwendig ist, stelle die wichtigsten Schriftsteller der Vergangenheit und Gegenwart und ihre Werke vor und zeige, wie die Verbindung von Geschichte, Natur und Sprache die Literatur zur wichtigsten Kunstform gemacht hat. Wie keine andere ist sie in der isländischen Gesellschaft verbreitet und demokratisch verankert.

Island

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