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»Dr. McKenna! Wachen Sie auf! Dr. McKenna!« Die eindringliche Stimme riss Kate McKenna unsanft aus dem Schlaf. Sie blinzelte in die Dunkelheit, noch immer desorientiert, gefangen in den letzten Fetzen ihres Traums. Das hier war nicht ihr Schlafzimmer in der West 86th Street. Wo war sie? Oh, Moment. In ihrem neuen Büro. Bei ihrer neuen Arbeitsstelle. Nicht mehr in New York, sondern, so unglaublich es auch erscheinen mochte, in ihrer alten Heimatstadt. In Waterfield – einem Ort, von dem sie geschworen hätte, niemals dorthin zurückzukehren. Wie viel Uhr war es? Mit einem leisen Stöhnen schwang sie die Beine über die Sofalehne.

Langsam kehrte sie ins Hier und Jetzt zurück: Sie hatte sich auf ihrem Ledersofa in die Richtlinien für die Behandlung von Psychiatriepatienten vertieft – nicht gerade der Inbegriff spannender Lektüre – und musste darüber eingeschlafen sein. Aber woher kam dieses leise Gefühl der Angst? Ihr Traum schien ziemlich unerfreulich gewesen zu sein.

»Tut mir leid, wenn ich Sie wecke, Kate, aber –« Die von der Nachtbeleuchtung erhellte Silhouette im Türrahmen gehörte Marian Morgenstern, ihrer Oberschwester. Wie Kate blieb Marian meistens lange, um sich um den endlosen Papierkram zu kümmern. »Nelson hämmert schon seit zehn Minuten an die Eingangstür und schreit nach der Chefin. Was soll ich tun?«

Kate stand auf und blinzelte gegen den Schlaf an. »Nelson. Was will er denn um diese Uhrzeit?« Sie bückte sich, um die Unterlagen aufzuheben, die ihr im Schlaf entglitten waren.

»Da er als eine Art Orakel gilt, bringt er vielleicht Neuigkeiten über unseren neuen Boss. Vielleicht weiß er etwas, das wir nicht wissen.«

»Und wir wissen weiß Gott überhaupt nichts«, bestätigte Kate. Beim Gedanken an das Memo, das an diesem Morgen auf ihren Schreibtisch geflattert war, tauschten sie einen viel sagenden Blick und lächelten gequält. In dem Schreiben, das mit einem nicht entzifferbaren Namen unterschrieben war (wahrscheinlich dem des neuen Leiters), wurden sie aufgefordert, sämtliche Unterlagen für eine Inspektion Ende der Woche bereitzuhalten.

»Wie hat der Vorstand es nur geschafft, unseren reizenden Dr. Carlyle einfach so ... verschwinden zu lassen? Vorletzten Donnerstag war er noch der Leiter der Anstalt, am selben Abend findet eine Vorstandssitzung statt und zack ... am Freitagmorgen ist er weg, ohne sich von uns zu verabschieden.«

»Stimmt.« Kate unterdrückte ein Gähnen. »Und innerhalb kürzester Zeit gibt es einen Ersatz.«

Wieder lächelte Marian sarkastisch. »Das behaupten sie zumindest. Wieso kommt er nicht einfach vorbei, um sich persönlich vorzustellen? Wer ist er überhaupt? Ich habe nie vorher von ihm gehört. Keiner hat das. Austin Davey!« Sie spie die Worte aus wie ein Schimpfwort.

»Wie ich diese geheimen Machenschaften hasse«, erklärte Kate. »Damit sollen alle eingeschüchtert werden. Und es funktioniert auch noch!«

»Sie haben ja so Recht.« Marian lachte. Sie konnte wohl allem eine lustige Seite abgewinnen. Das war aber nur eine der Eigenschaften, die sie zu einem echten Schatz machten. Sie schien stets da zu sein, wenn man sie brauchte, so wie jetzt ... »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte Kate gähnend. »Entschuldigen Sie.«

»Halb elf.«

»Meine Güte, was kann er nur wollen?« Nelson mochte psychotisch sein – verdammt, das war er allerdings. Aber er wusste genau, dass das Continuing Care Center um 18.30 Uhr schloss. Danach konnten sich die Patienten an die Crisis Intervention Clinic wenden, die rund um die Uhr geöffnet hatte. Was um alles in seiner chaotischen, abgedrehten Welt konnte so wichtig sein?

»Ich nehme an, Sie haben ihn hereingebeten?« Kate stand auf.

»Natürlich. Aber Sie wissen ja, dass es ein Heidenakt ist, Nelson zum Hereinkommen zu bewegen. Ich hätte ja lieber zu ihm gesagt, er soll nach Hause gehen und morgen wiederkommen, aber er ist ziemlich aufgebracht und könnte womöglich einen Grund für sein Erscheinen haben. Nelson bekommt mehr mit, als ihm die meisten zutrauen. Er ist zwar geistesgestört, aber auf seine Weise trotzdem völlig klar im Kopf.« Als sie den Korridor entlang in Richtung Eingangshalle gingen, hörten sie lautes Hämmern an der Tür, begleitet von unartikuliertem Heulen. Marian presste sich die Hände auf die Ohren. »Au. Sie sollten lieber nachsehen, was er will, bevor wir den Ausschuss am Hals haben.«

Sie tauschten einen grimmigen Blick. Seit der Eröffnung vor gerade einmal sechs Monaten wurde das Continuing Care Center vom Großteil der Bevölkerung Waterfield gehasst und gefürchtet. Trotz seiner freundlich gestrichenen Wände und der renovierten Fassade, trotz der Blumenbeete vor dem Haus und der positiven Meldungen, mit denen sie die örtliche Presse versorgt hatten ... niemand in dieser Stadt wollte ein neues Ambulanzzentrum für psychisch Kranke haben. Die Stadt hatte auch für Hillside, das eigentliche psychiatrische Krankenhaus, wenig übrig, aber da dort viele Einheimische Arbeit gefunden hatten und sich das Hospital diskret all jener Familienmitglieder annahm, für die man sich sonst vielleicht geschämt hätte, wurde es stillschweigend geduldet.

Die Anstalt war schon seit den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts Teil von Waterfield, sodass die Leute ihr gegenüber eine Art Blindheit entwickelt hatten. Die Einheimischen schienen sie auf dem Hügel, wo sie die Stadt überragte, nicht mehr zu bemerken, und alle taten so, als hätten sie keine Angst vor den Patienten, die darin untergebracht waren, auch wenn das nicht wirklich stimmte. Die wichtigsten Mitglieder der Gemeinde saßen im Kuratorium und sorgten dafür, dass jede Unannehmlichkeit im Zusammenhang mit Hillside eilig unter den Teppich gekehrt wurde und in Vergessenheit geriet. Bei der neuen Einrichtung jedoch war es ein wenig anders. Das neue Zentrum befand sich mitten in der Stadt, und hier kümmerte man sich lediglich um ambulante Patienten, die sich somit nicht in sicherer Verwahrung befanden, sondern für alle Welt sichtbar waren. Die anständigen Bürger von Waterfield waren außer sich vor Wut, weil sie sich als »Deponie für jeden Geisteskranken des Landes« vorkamen, wie es vergangene Woche in einem der vielen Leserbriefe im Waterfield Chronicle geheißen hatte.

Kate machte sich inzwischen nicht einmal mehr die Mühe, sie zu lesen. Sonya Dubroff, die Verwaltungsmanagerin-Bindestrich-Rezeptionistin-Bindestrich-Hausmutter der Klinik sammelte sämtliche Artikel und legte sie ihr jeden Tag auf den Schreibtisch. Auch ohne sie gelesen zu haben, wusste Kate, dass das Continuing Care Center unerwünscht war und dass der Bürgerausschuss, gegründet und geleitet von Gail Fortunato, der Bürgermeisterin der Stadt, wild entschlossen war, sie zu vertreiben.

Mal ehrlich, dachte Kate, kann ich irgendjemandem einen Vorwurf daraus machen, dass er Hillside und seine beiden Ableger hasst? Sie hatte beinahe ihr ganzes Leben hier verbracht. Sie wusste besser als die meisten anderen, wie gewaltig der Schatten des Hillside Mental Hospital war, den er über alles und jeden warf. Die Anstalt saß auf dem Quarry Hill wie eine riesige Festung aus dunklem Sandstein – mit ihren obligatorischen Wachtürmen, den mit Zinnen versehenen Mauern und zahlreichen kleineren Nebengebäuden. Ein Burggraben und eine Zugbrücke waren das Einzige, was dem Komplex fehlte, um ein perfektes Feudalschloss abzugeben. Mit seiner Lage auf dem Hügel und dem Fluss, der sich darum schlängelte, war Hillside ein steter Beweis für die Existenz der Irren, wie sie in der Stadt bezeichnet wurden. Aber auch die psychisch Kranken hatten Rechte. Leider! Die Tage, in denen man sie vor den Augen der Gesellschaft versteckt hatte, waren vorbei. Sie verdienten, dass man sich um sie kümmerte – sogar mitten in der Stadt, wo jeder sie sehen konnte.

Doch ein Nelson, der mitten in der Nacht vor der Haustür stand und jaulte, war in dieser Situation alles andere als hilfreich. »Ich komme ja schon!«, rief sie und fuhr sich mit den Fingern durch ihr dichtes, lockiges Haar, während sie auf die große Doppeltür zuging, aufschloss und nach draußen trat.

Nelson lebte auf der Straße – im Eingang des alten Bankgebäudes neben dem Zentrum. Schätzungsweise litt er unter paranoider Schizophrenie, benahm sich aber sehr anständig. Er sprach ... nun ja, zumindest benutzte er mehrsilbige Wörter, die manchmal sogar einen Sinn ergaben. Er konnte Gedichte rezitieren und verbreitete, er schreibe an einem Buch, das alles enthüllen würde. Und, wie sie in ihrer ersten Arbeitswoche erfahren hatte, er wurde von vielen Leuten hier als eine Art Guru betrachtet. Oder sogar als Prophet!

Sie arbeitete seit über zehn Jahren als Ärztin für Psychiatrie und fand es reichlich merkwürdig, dass die Angst der Menschen vor psychischen Erkrankungen selbst im 21. Jahrhundert noch immer so groß war, dass sie sie entweder ablehnten, leugneten oder als magisches Phänomen vergötterten. Nelsons Ruf als eine Art Seher war wahrscheinlich der Grund, weshalb seine Gegenwart hingenommen wurde – wenn auch nicht unbedingt mit Begeisterung –, zumindest verlangte niemand seine sofortige Verbannung in eine andere Stadt oder, besser noch, in einen anderen Bundesstaat. Nelson war es vermutlich nicht bewusst, aber damit hatte er all den anderen psychisch Kranken in der Gegend unglaublich viel voraus.

Kate sog die laue Mailuft ein. Das war einer der Vorzüge ihrer Heimatstadt: Der Frühling roch nach Frühling, und nachts konnte man sogar die Sterne am Himmel sehen. Aber wo steckte Nelson? Sie ging die Treppe hinunter und schaute sich auf der Straße nach ihm um. Nichts. Das machte er oft – erst aus heiterem Himmel auftauchen und dann verschwinden. Sie ging ein Stück den Block entlang und genoss die friedliche Stille. Es war gut, wieder hier zu sein. Oder? Doch, es musste einfach gut sein, schließlich hatte sie einen Zweijahresvertrag abgeschlossen.

»Ich weiß genau, wer Sie sind, Kate McKenna!« Erschrocken fuhr sie zusammen. Ihr Herz hämmerte.

»Nelson, schäm dich, eine Dame so zu erschrecken!«

Beim Klang der Stimme fuhr Kate herum. »Wer sind Sie?«, fragte sie mit scharfer Stimme, in der Verärgerung und, ja, wahrscheinlich auch ein Anflug von Angst mitschwangen.

Mit beschwichtigend erhobenen Händen kam der Mann vorsichtig auf sie zu. »Tut mir leid. Ich bin genauso schlimm wie Nelson. Aber hey, ich gehöre zu den Guten, ganz ehrlich. Ich heiße ... heiliger Strohsack, Katie Spector, bist du das?«

»Entschuldigung, aber kennen wir uns? Oh.« Der Mann war noch ein Stück nach vorn getreten und stand nun im Licht der Straßenlaterne. Natürlich kannte sie ihn. Sie hätte ihn an der Stimme wiedererkennen müssen. Sie klappte den Mund auf, hatte aber keine Ahnung, was sie zu ihm sagen sollte. Also schwieg sie. Barry Manheim. Er hatte seit dem College zugelegt. Inzwischen erinnerte nichts mehr an den mageren Teenager von damals, und sein lockiges Haar sah aus, als hätte er sich in die Hände eines guten Friseurs begeben. Er trug keinen Ehering – sie sollte sich schämen, überhaupt darauf geachtet zu haben. Außerdem hatte es ohnehin nichts zu bedeuten. Ihr Exmann hatte sich stets geweigert, einen Ehering zu tragen. Nach einer Weile hatte auch sie ihren Ring abgelegt.

Barrys Haar war immer noch dunkel, und in seinen Augen erkannte sie das vertraute Blitzen. Selbst im trügerischen Licht der Straßenlaterne in einigen Metern Entfernung bemerkte sie, dass er sie musterte. Frechheit! Doch war Barry nicht immer forsch gewesen? Früher hatte sie diese Eigenschaft sehr anziehend gefunden.

»Ich darf doch annehmen, dass es immer noch Katie Spector ist«, fügte er hinzu, während sich seine dunklen Augen auf ihre Hand richteten. Instinktiv wollte sie sie hinter ihrem Rücken verbergen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Er hatte schon immer die Fähigkeit besessen, ihre Gedanken zu lesen. Lachend sagte er: »Ich sehe keinen Ehering.«

»Ich bin geschieden.«

»Tut mir leid.«

»Das muss es nicht. Ich heiße Kate McKenna. Dr. Kate McKenna.«

»Die leitende Psychiaterin von ...« Er nickte in Richtung Klinik. »Ja. Ich habe gerade eine Story über dich redigiert. Dr. Kate McKenna, Leiterin des Ambulanzzentrums, das unsere gesamte Innenstadt verschandelt, die noch immer mit den Folgen der wirtschaftlichen Krisen kämpft et cetera et cetera. Aber es stand nirgendwo etwas von der ›geborenen Caterina Spector‹, der einzigen Tochter unseres geliebten Doc Spector, der bedauerlicherweise –«

»Story? Was für eine Story?«

»Feature. Zeitung. Ich bin Chefredakteur des Chronicle, Katie.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen. »Ich bin dein Erzfeind, fürchte ich.«

»Genau das wolltest du doch immer.«

»Dein Erzfeind sein? Ganz im Gegenteil, wenn du dich erinnern willst.«

Sie würde sich nicht von seinem Charme einwickeln lassen. »Nein, eine Kleinstadt-Tageszeitung herausgeben.«

»Ah. Entschuldige. Freust du dich, wieder hier zu sein?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Alles hat sich so verändert. Einschließlich meinem Boss, scheint es«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu. Chefredakteur des Lokalblatts ... vielleicht wusste er ja etwas, was sie nicht wusste.

»Ah. Euer neuer Boss ... der geheimnisvolle Austin Davey. Der Vorstand hat ihn unter Verschluss gehalten, und selbst jetzt ist aus niemandem etwas herauszukriegen. Ich soll morgen im Laufe des Tages eine Pressemitteilung bekommen. Alles, was ich weiß, ist, dass man ihn angeheuert hat, um Kosten einzusparen.«

»Das heißt, um die Patientenleistungen herunterzufahren.«

»Ja, wahrscheinlich. Ich schätze, dich als Ärztin wird das nicht freuen, aber du wirst hier auf wenig Sympathie stoßen, fürchte ich. Man hat uns versprochen, dass das Hillside irgendwann leer sein wird. Aber der gute Gouverneur hat nie erwähnt, dass die Patienten stattdessen hierher, mitten ins Zentrum verfrachtet werden, das wir gerade mühsam wieder in Schwung zu bringen versuchen. Aber wie auch immer. Du bist neu hier und kannst nicht wissen, was sich hier abgespielt hat. Du bist in einen Wirbelsturm geraten, der sich nicht mehr aufhalten lässt ...« Er lachte – so wie früher immer. »Und ich habe dir noch gar nicht gratuliert – zu deiner Stellung als Oberboss hier und dazu, dass du Ärztin geworden bist. Es ist dir wirklich gut gelungen abzutauchen, Katie. Nach dem College schien keiner zu wissen, was aus dir geworden ist.« Seine Stimme wurde eine Spur weicher. »Ich freue mich wirklich, dass du Ärztin geworden bist«, sagte er. »Und hier bin ich. Ich bin dir zu Hilfe geeilt, weil ich dachte, dass Nelson dir Angst einjagt«, fügte er in etwas unbeschwerterem Tonfall hinzu.

Wie geschickt er das Thema gewechselt hatte! »Er hat mir tatsächlich Angst eingejagt«, sagte sie. »Für einen kurzen Augenblick. Und es war sehr nett von dir, einem Mädchen in Not zu Hilfe zu eilen.«

Er grinste sie an. Er war attraktiv. Natürlich war er das! Schließlich war er schon ein attraktiver Jugendlicher gewesen. »Hey, Nelson«, rief er. »Wolltest du nicht mit der Frau Doktor reden? Wieso kommst du nicht raus, damit wir dich sehen können?«

»Meine Botschaften sind nur für sie bestimmt«, drang die Stimme aus der Dunkelheit zu ihnen herüber.

»Hab schon verstanden. Ich sollte mich sowieso auf den Nachhauseweg machen. Es war nett, mit dir zu plaudern, Katie.« Er grinste sie an und wandte sich zum Gehen. »Lies die Story über die Klinik in der Zeitung. Vielleicht gibst du mir ja irgendwann ein Interview? Damit die Leute deine Seite der Geschichte erfahren.«

Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht, dachte sie und sah ihm nach. Sie und Barry hatten einander einmal sehr nahegestanden. Es wäre so einfach, zu verzeihen und zu vergessen. Aber es gab Dinge, die konnte man nicht verzeihen. Barry Manheim hatte sie im Stich gelassen, als sie ihn sehr, sehr gebraucht hatte. Also ... keine Versöhnung und keine neue dicke Freundschaft.

»Nelson?« Es dauerte einen Moment, bis sie ihn im Schatten ausmachen konnte. Er stand da, stocksteif, höchstens zehn Meter von ihr entfernt, den Rücken gegen die Hauswand gepresst. Nur die Augen bewegten sich hektisch hin und her. Sein Alter war schwer zu schätzen. Haare und Bart waren ergraut, doch seine Haltung war noch immer kerzengerade, und selbst unter den zahlreichen Kleiderschichten war seine stämmige, vielleicht sogar muskulöse Statur zu erkennen. Ihm fehlten etliche Zähne und die linke Hand, dennoch wirkte er kräftig.

»Wichtige Angelegenheit, Doktor.« Langsam kam er auf sie zu, ohne die verwaiste Straße aus den Augen zu lassen. »Sie haben mir Dinge erzählt, die Sie wissen sollten.«

»Wer hat Ihnen etwas erzählt?«

Er lachte. »Sie verraten natürlich nicht, wer sie wirklich sind! Aber sie machen neue, hervorragende Sender ... etwa so groß wie ein Salzkorn. Nachts können sie hören, wie ich mich bewege, und spielen mir ihre Aufnahmen vor.«

»Und was sagen Ihnen diese Aufnahmen, Nelson?«

Seine Stimme wurde eine Spur schärfer. »Wenn Sie mir nicht glauben, untersuchen Sie doch meine Ohren. Dort geben sie sie hinein.«

»Ich glaube Ihnen, Nelson. Ich muss nur wissen, was die Stimmen sagen.«

Nelson trat in die Mitte des Bürgersteigs und baute sich vor ihr auf. Er stemmte die Hände in die Hüften und musterte sie verächtlich. »Keine Stimmen, Doktor. Das sage ich euch Typen doch die ganze Zeit. Ich höre keine Stimmen. Es sind Regierungsaufnahmen.« Er wandte sich ab. Sie wollte die Verbindung zu ihm nicht verlieren, solange er in Redelaune war. So etwas kam bei Psychotikern nicht allzu häufig vor. Und vielleicht konnte sie ihn dazu bewegen, ins Haus zu kommen und zu duschen. Oder sie einen Blick auf die »Sender« in seinen Ohren werfen zu lassen. Vielleicht konnte sie ihn sogar davon überzeugen, seine Medikamente zu nehmen, die er zwar ständig mit sich herumtrug, aber, soweit sie es beurteilen konnte, nie in den Mund steckte.

»Und was sagen diese Aufnahmen?«

Nelson kam etwas näher, senkte die Stimme und sah sich argwöhnisch um. »Einer Ihrer Mitarbeiter hat nichts Gutes im Sinn«, flüsterte er.

»Wissen Sie, wer es ist?«

»Das haben sie mir nicht verraten. Jemand, der in einen anderen Körper schlüpft. Vielleicht aber auch in eine andere Seele. Das weiß ich nicht genau.«

»Wir kümmern uns darum.« Kate unterdrückte ein Gähnen. Sie war durchaus bereit zu glauben, dass Nelson manchmal Dinge sah und hörte, die andere Leute nicht wahrnehmen konnten. Aber in einen anderen Körper oder eine andere Seele schlüpfen – also bitte!

Er musste die Ablehnung in ihrer Stimme bemerkt haben. »Jemand ist hinter Ihnen her, Dr. McKenna. Jemand, der Sie bestrafen will. Die Sünden der Väter, wissen Sie. Aber auch der Doc kann Sie nicht retten, fürchte ich.«

Kate starrte ihn an. Man hatte ihr erzählt, dass Nelson schon seit Jahren in dieser Nische im Hauseingang lebte. Aber sie war seit dem College-Abschluss nicht mehr hier, und das war lange vor seinem Auftauchen gewesen. Woher wusste er, dass der Doc ihr Vater war? Er wusste viel zu viel über sie. Welcher Mann verbarg sich unter dem dichten Bart und der unleugbaren Schizophrenie?

»Soll ich die Polizei einschalten? Verfolgt mich diese Person?«

»Oh, Herrgott, Doktor, benutzen Sie Ihren Verstand. Ich rede nicht von einem Stalker. Hier geht es um einen VIP – very important poison...« Er kicherte über sein Wortspiel. »Sehen Sie sich vor. Seien Sie vorsichtig.«

»Wollen Sie mir sagen, wer es ist?«

»Ich bitte Sie, Dr. McKenna, glauben Sie im Ernst, ich kaufe Ihnen ab, dass Sie nicht wissen, wer es ist? Ich bin sicher, eine der anderen Frauen da drin ...« Er nickte in Richtung Klinik. »Eine Ihrer Gefährtinnen, von denen ich viele, ja, sogar hunderte, gezählt habe, hat Sie bereits gewarnt. In ihrer eigenen Sprache, die sie den Männern nicht beibringen wollen! Damit sie hinter unserem Rücken die Welt regieren können!« Seine Stimme war lauter geworden, und sein Gesicht hatte eine tiefe Röte angenommen. Kate trat einen Schritt auf ihn zu – ein großer Fehler, stellte sie fest, als er abrupt zurückwich, sich umwandte und den Block hinunterlief, ehe er mit der Dunkelheit verschmolz. Er war überraschend schnell.

Nachdem Kate ein oder zwei Minuten auf der Straße gewartet hatte, ob er es sich doch noch anders überlegte, gab sie auf und ging wieder hinein. Sie sehnte sich nach Schlaf, war aber zugleich von einer seltsamen Ruhelosigkeit erfüllt. Wie viel von dem, was Nelson gesagt hatte, konnte sie glauben? Seine Gedankengänge waren vollkommen wirr. Aber das bedeutete noch lange nicht, dass er nicht bestimmte Dinge hören und sehen konnte. Aber wäre er denn ein glaubwürdiger Zeuge?

Marian kam ihr mit ihrer Handtasche und einer Aktenmappe über der Schulter entgegen. »Für heute reicht es«, erklärte sie. »Ich gehe jetzt ins Bett. Was wollte Nelson?«

Kate erzählte ihr von Nelsons Warnung. »Wer könnte es auf mich abgesehen haben?«, fragte sie. »Dass sie das Zentrum geschlossen sehen wollen, kann ich verstehen. Aber dass jemand etwas gegen mich persönlich hat? Ich bin doch gerade erst zurückgekommen! Er muss sich das einbilden«, schloss sie.

Marian hob eine Braue. »Tja ... wir haben das Personal tatsächlich vernachlässigt. Donna war gestern in Tränen aufgelöst, weil die Abrechnung nicht gestimmt hat und sie den Fehler nicht finden kann.« Donna Silvestri war die Buchhalterin, ein reizendes, schüchternes Mädchen mit einem Hasengesicht, auf dem stets ein Ausdruck des Erstaunens lag. Es war nicht weiter überraschend zu hören, dass sie wegen eines Rechenfehlers in Tränen ausgebrochen war. Donna hatte ziemlich nahe am Wasser gebaut. Eigentlich schien sie viel zu empfindsam zu sein, um in einer psychiatrischen Klinik zu arbeiten, aber wie alle anderen Mitarbeiter war auch sie schon hier gewesen, bevor Kate ihre Stelle angetreten hatte. Fast alle, die von der Anstalt in die Innenstadt versetzt worden waren, gingen ähnlichen Tätigkeiten nach wie zuvor. Die Verkleinerung der Einrichtung war weniger schmerzhaft, weil man den Mitarbeitern einen Job in der neuen Klinik zumindest anbieten konnte. Dr. Carlyle war es gelungen, das Personal zu halten. Warum also hatte man ihn gehen lassen? Und wo war er?

»Okay, vielleicht klaut ja jemand. Medikamente und Drogen gibt es hier weiß Gott genug. Ich kümmere mich gleich morgen früh darum. Und ich rede auch mit Donna und beruhige sie. Aber bestimmt schwebe ich nicht in akuter Gefahr. Es sei denn, dieser Neue ist ein Killer.«

»Vielleicht nicht im eigentlichen Sinne des Wortes. Aber ich habe gehört, dass er einen Abschluss in Betriebswirtschaft hat und ein Erbsenzähler ist«, erwiderte Marian. »Zuletzt war er am Cadman Memorial Hospital in New York, wo man ganz begeistert von ihm war, weil er die Kosten für die Ambulanten deutlich gesenkt hat ...« Sie verdrehte die Augen. Jeder, der in einem Krankenhaus arbeitete, wusste, dass mit »Ambulanten« all die armen Patienten ohne Krankenversicherung gemeint waren. Also würde Dr. Davey wohl dafür sorgen, dass die Ärzte nach dem Prinzip »Notversorgung und dann raus mit ihnen« vorgingen. Kate hatte in ihrem letzten Job mit diesem Menschenschlag zu tun gehabt. Heutzutage traf man sie überall an. Carlyle dagegen war ein solcher Goldschatz gewesen ... Sie hatte gedacht, dass sie hier endlich die Chance bekäme, Menschen helfen zu können, ohne dass ständig jemand nur den Profit im Auge hatte.

»Verdammt.«

»Ja, ich habe kein besonders gutes Gefühl, was diesen Kerl betrifft.«

»Vielleicht ist er doch nicht so schlimm«, meinte Kate, obwohl sie ihren eigenen Worten nicht glaubte. Dr. Carlyle war keiner dieser Manager-Typen gewesen, und sie hatten sich so gut verstanden. Wer wusste, was ihnen jetzt ins Haus stand?

Marian rückte die beiden Taschen auf ihrer Schulter zurecht. »Wie Scarlett schon sagte: ›Darüber denke ich morgen nach‹.« Sie wandte sich zum Gehen. »Gehen Sie nach Hause, Doktor. Es ist schon spät. Sehen Sie zu, dass Sie etwas Schlaf bekommen.«

Gehorsam sammelte Kate ihre Sachen ein und schloss die Tür zu ihrem Büro ab. Doch sie fragte sich, ob sie wohl Schlaf finden konnte. Sie war völlig aufgedreht. Erstens war da der geheimnisvolle neue Boss, dann Barry Manheim – nach all den Jahren – und schließlich Nelson mit seinen düsteren Prophezeiungen, dass sie bald in großen Schwierigkeiten stecken würde.

Zügig ging sie die Straße entlang – nicht aus Furcht, verfolgt zu werden, sondern weil die verlassene Innenstadt nichts Sehenswertes bot. Nach zwei Häuserblocks änderte sich das Straßenbild wie durch Zauberhand. Statt der halb leer stehenden Bürogebäude und der kleinen Geschäfte, die ums Überleben kämpften, säumten nun große viktorianische Wohnhäuser beide Straßenseiten. Dies war der Anfang des Universitätsviertels, eine Oase aus Bäumen und Sträuchern und mit der altmodischen Eleganz an der Schwelle zu urbanem Niedergang. Kate war hier aufgewachsen und zur Schule gegangen, hatte auf der Straße Himmel und Hölle gespielt, das College besucht, sich das erste Mal verliebt. Aber hier war sie auch unglücklich und verängstigt gewesen, eine Mitwisserin des Geheimnisses ihrer Familie.

Vor ihrem Haus blieb sie stehen. Es war dasselbe, in dem sie alle gelebt hatten, ihre Eltern, ihr Bruder und sie – ihr Vater hatte es ihr per Testament vererbt. Es war ein großes viktorianisches Gebäude mit einem runden Turm auf der einen und einem großen Panoramafenster auf der anderen Seite, umgeben von weitläufigen Veranden. Die Eingangstür hatte Bleiglasfüllung. Das Turmzimmer mit den Buntglasfenstern war ihr Refugium gewesen. Viele Stunden hatte sie darin verbracht, zusammengerollt auf einer der mit abgenutzten Samtkissen gepolsterten Sitzbänke am Fenster gekauert, tief in irgendein Buch versunken. Als sie hier gelebt hatte, war das Haus weiß gestrichen und mit grünen Fenstereinfassungen versehen gewesen, aber irgendwann, nachdem alle fort waren, hatte der Doc einen Restaurator engagiert, der ihm seinen Jahrhundertwendeglanz wieder zurückgeben sollte. Damals hatte das Haus seine Fassade aus verschiedenen Blautönen mit ziegelroten Akzenten erhalten. Sie wusste, dass sie es eigentlich mögen sollte, doch sie tat es nicht.

Eine lange Ziegelauffahrt im Fischgrätmuster führte an den riesigen alten Ahornbäumen vorbei zur Veranda mit der breiten Holztreppe, zu deren beiden Seiten gerade die Iris blühten. Selbst in der Dunkelheit – sie hatte vergessen, die Zeitschaltuhr für die Veranda zu stellen – fand sie den Weg mühelos. Neben der Eingangstür hing die alte Metallschaukel, die selbst bei der leisesten Brise quietschte, und von der Decke baumelten Blumenampeln. Was für ein reizendes Haus, mochte man als Betrachter denken.

Doch ihre Gefühle waren gemischt, was die Rückkehr in dieses Haus betraf. Ihr war klar, dass sie es jederzeit verkaufen könnte – unmittelbar nach ihrem Einzug hatte sie einen Anruf von einem Immobilienmakler namens Ben Vandenburg erhalten. Aber noch war sie nicht bereit, einen Verkauf in Erwägung zu ziehen.

»Ich bin gerade erst eingezogen.«

»Ja, das weiß ich«, hatte er sie mit seiner vollen, tiefen Stimme beschwichtigt. »Und es tut mir leid, wenn ich ein wenig voreilig bin, aber mein ... jemand hat mir erzählt, Sie wollen verkaufen. Tut mir leid. Ich schicke Ihnen trotzdem meine Visitenkarte. Nur für alle Fälle.« Jemand hatte es ihm erzählt. Jemand, der sich an all die pikanten Details aus dem Leben der Spectors und an ihre Skandale erinnerte. Das könnte jeder hier sein. So war das nun mal in einer Kleinstadt. Warum also hatte sie sich entschlossen, wieder zurückzukommen? Warum hatte sie das Haus nicht zum Verkauf angeboten, wie sie es hätte tun sollen, und einen Job weit, weit weg von hier angenommen? Ach, was sollte das! Sie war hier, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Sie war eine erwachsene Frau. Aber was auch immer auf sie zukam, sie würde sich ihm stellen.

Sie hatte den Schlüssel bereits ins Schloss gesteckt, als ihr ein Gedanke kam. In Waterfield wusste doch jeder über alles Bescheid. Was für ein Dummkopf sie doch war! Barry wollte sie nicht erkannt haben? Er wollte nicht gewusst haben, dass Katie Spector inzwischen Dr. Kate McKenna war? Blödsinn! Er war der verdammte Chefredakteur der verdammten Tageszeitung hier. Er wusste alles! Weshalb dann dieses Spielchen zwischen ihnen? Eine Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit erfasste sie. Warum konnte er nicht ehrlich zu ihr sein? Nun, sie würde sich jedenfalls kein zweites Mal zum Narren halten lassen.

Sie öffnete die Haustür und wurde vom einladenden Geruch von Limonenöl begrüßt. Die Streifentapete, die weißen Simse, die Holzbank an der langen Wand, die alten Haken für Hüte und Mäntel ... alles vertraut und dennoch ... Dieses Haus war voller Geister, und nicht alle waren ihr wohlgesinnt.

Sie ging in die Küche, die auf den Garten hinter dem Haus hinausging. Sie brauchte etwas zu trinken. Das rote Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte hektisch. Wer um alles in der Welt könnte sie angerufen haben? Sie schenkte sich ein Glas Wein ein und drückte die Abspieltaste.

Die Stimme war leise, schwach, wie die eines kranken kleinen Mädchens. »Hier ist Mommy, Liebling. Ich rufe an, um dich zu warnen. Sei vorsichtig, dieses Haus ist verflucht.« Es ertönte ein Klicken, dann herrschte Stille. Sie hatte das Gefühl, es wäre keinerlei Luft mehr in ihren Lungen. Es ist nur ein Streich. Nur ein dummer Streich. Doch sie wusste, dass es mehr war. Natürlich war das nicht ihre Mutter gewesen. Ihre Mutter war tot. Und es war auch kein Geist. Sie hatte ihre Mutter nie »Mommy« genannt. Niemals. Angela hätte das nie zugelassen. Es musste eine reale Person sein, jemand, der ihr Angst machen wollte. Aber wer? Und warum? Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Wein und versuchte, sich zu beruhigen.

Es wäre schön, wenn sie mit Luke Montour darüber reden könnte. Luke war der medizinische Assistent in der Klinik und der ruhigste, geistig klarste Mensch, den sie kannte. Dass er zufällig groß und schlank war und das gebräunte, zerfurchte sympathische Gesicht eines Naturburschen besaß, schadete auch nicht gerade. Doch dieser seltsame Telefonanruf war ein wenig zu persönlich, um mit einem Kollegen darüber zu reden, und eigentlich kannte sie ihn auch nicht besonders gut. War es nicht eher seltsam, dass sie ausgerechnet jetzt an ihn dachte? Sie vermisste Conor nicht, nein, ihr Exmann fehlte ihr weiß Gott nicht. Stattdessen brauchte sie eher einen Mann zum Reden, vielleicht auch eine Schulter zum Anlehnen, wenn sie abends allein nach Hause kam und seltsame Botschaften vorfand. Als hätte Conor ihr jemals Trost spenden können.

Sie war zu unruhig, um sich ins Bett zu kuscheln oder sich vor den Fernseher zu setzen, also ging sie im Haus umher, wild entschlossen, sämtliche negativen Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Sie würde ihren Wein genießen und nicht an ihre Feinde denken, weder an die realen noch an die imaginären. Sie würde nicht an die Klinik und den neuen Boss denken. Kate setzte sich an den großen, auf Hochglanz polierten Mahagoni-Esstisch, sprang aber gleich wieder auf und wanderte weiter durchs Haus. Sie sollte es wirklich verkaufen. Es war viel zu groß für eine alleinstehende Frau. Ihr Rundgang endete im Wohnzimmer, wo sie die Bilder an den Wänden gerade rückte, die Kissen aufschüttelte und die Lampen an- und ausschaltete, ohne etwas zu sehen.

Es war zwecklos. Sie schaffte es nicht, ihre düsteren Gedanken abzuschütteln. Dieser neue Boss hatte angeordnet, dass ihm ihre Krankenblätter zur Überprüfung vorgelegt werden sollten! Waren die Aufseher nicht mit der Abschaffung der Sklaverei ausgestorben? Sie würde Hillside wissen lassen müssen, wie sie darüber dachte. Ihr war klar, dass sie starrköpfig ... vielleicht auch ein klein wenig streitlustig sein konnte. Aber als Leiterin des Continuing Care Center, wofür sie ihr Gehalt bezog, brauchte sie ganz bestimmt keinen Verwaltungsheini, der weder genug von Psychiatrie noch von Medizin verstand, um ihre Entscheidungen unter die Lupe zu nehmen und in Frage zu stellen!

Sie nahm noch einen großen Schluck aus ihrem Weinglas und beschloss, sich nicht verrückt machen zu lassen. Sie kannte diesen Kerl noch nicht einmal. Vielleicht war Austin Davey ja nett, vernünftig und intelligent. Sie trat vor das Panoramafenster und ließ sich auf die gepolsterte Bank sinken, die einen Blick auf die verlassene Straße bot. Um diese Zeit herrschte kein Verkehr mehr. Wahrscheinlich lag die gesamte Stadt bereits im Tiefschlaf.

Bestimmt war es nicht ratsam, die Klappe allzu weit aufzureißen. Das hatte sie schon mehrmals in Schwierigkeiten gebracht. Schätzungsweise hatte sie auch ihrem losen Mundwerk das Ende ihrer sechsjährigen Ehe mit Conor McKenna zu verdanken. Hätten sie sich nicht getrennt, wäre sie jetzt nicht hier, an diesem Ort, an den sie niemals mehr zurückkehren wollte. Sie wäre nicht hier und stieße nicht an jeder Ecke auf Überreste ihres alten Lebens – alte Freunde, alte Geschichten und, ja, alte Liebschaften.

Sie bereute ihre Scheidung nicht. Allein war sie besser dran. Conor war Kontrollfanatiker und stets zutiefst erschüttert gewesen, wenn sie sich ihm widersetzt hatte. Das war das Wort, das er immer benutzt hatte: sich widersetzen. Als wäre sie ein aufsässiges Kind. Sie war Medizinstudentin, als sie sich kennen gelernt hatten. Und natürlich ließ sich eine Frau, die ehrgeizig und mutig genug war, ein Medizinstudium zu absolvieren, nicht widerstandslos versklaven. Das hätte ihm klar sein müssen. Sie hätte aber auch wissen müssen, dass ein engagierter Arzt, der fast 20 Jahre älter war als sie und daran gewöhnt, Anweisungen zu erteilen, nicht gut auf Widerworte reagieren würde. Sie wünschte nur, er hätte die Scheidung nicht zu einer so hässlichen Angelegenheit gemacht.

Ach, es war sinnlos, wieder und wieder die Dinge durchzukauen, die sie so unglücklich gemacht hatten! Wichtig war doch nur, dass sie endgültig über ihren Exmann hinweg war. Und nun tauchte Barry Manheim auf der Bildfläche auf, schmeichlerisch und freundlich, als hätte er sie damals nicht wie ein Stück Dreck auf die Straße befördert. Doch auch über ihn wollte sie jetzt nicht nachdenken. Sie würde über nichts und niemanden nachdenken – schon gar nicht über unheimliche Telefonanrufe. Sie goss ihr Glas noch einmal voll und hob es an die Lippen. Auf die Zukunft! Was sie auch bringen mochte, möge sie erfreulicher sein als die Vergangenheit!

Die Mildtätige

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