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Am nächsten Morgen, mitten in einer Personalbesprechung, ertönte ein fernes Rumpeln. Alle Anwesenden horchten auf. Donner? Schweres Gerät? Nein, zu regelmäßig, zu rhythmisch. Wütendes Stimmengewirr, das wieder und wieder dieselben Worte schrie. Natürlich. Eine Demonstration. Der militante Ton war nicht zu überhören. Und der Lärm kam näher. Kate schüttelte verärgert den Kopf. Als hätten sie nicht schon genug Probleme am Hals.

Linda Cathcart war noch immer verschwunden. Sie hatten sie in keinem der üblichen Verstecke aufstöbern können: unter der Brücke, hinter der Friedhofskapelle, im Park. Sie war auch nicht nach Hillside gegangen, um sich dort wieder aufnehmen zu lassen, wie Kate insgeheim gehofft hatte. Jimmy Friedman, einer der Sozialarbeiter, der auf Ausreißer spezialisiert war und wusste, wo sie sich am liebsten verkrochen, war am Vorabend um halb neun zurückgekommen und hatte den Kopf geschüttelt. Sie hatte ihn nach Hause geschickt. Gegen zehn hatte auch sie ihre Arbeit beendet und war nach Hause gefahren. Sie hatte eine halbe Flasche Merlot getrunken und war in der Hoffnung auf einen traumlosen Schlaf ins Bett gefallen. Heute Morgen hatte sie sich an keinen Traum erinnern können, was sie als gutes Zeichen wertete. Und sie fühlte sich gut – sogar fast normal, was auch immer das bedeuten mochte.

Die Parade, wenn man es so bezeichnen wollte, kam rasch näher, und der Lärm schwoll an. Kate beschloss, sie so lange wie möglich zu ignorieren. Es gab eine Menge zu besprechen. Sie und die drei Case Manager waren dabei, sich gegenseitig über ihre Behandlungsprogramme auf den letzten Stand zu bringen. Die Therapieprogramme, in denen Behandlungsziele gesetzt und Kurse und Therapiestunden festgelegt wurden, sollten eigentlich endgültig sein, mussten aber von Zeit zu Zeit verändert und aktualisiert werden. Der Zustand der psychisch Kranken war niemals konstant, was bedeutete, dass die Case Manager ständig die Verfassung, Stimmungen und vor allen Dingen den Aufenthaltsort ihrer Patienten im Auge behalten mussten.

Franca L’Arezzo hatte sich um das schwangere Mädchen gekümmert, deren Namen sie noch immer nicht wussten. »Ich weiß nicht, ob sie zurückgeblieben, krank oder einfach nur starrköpfig ist, aber ich kriege kein vernünftiges Wort aus ihr heraus. Sie behauptet steif und fest, sie heiße Stupid, also ›dumm‹. ›Stupid‹, sage ich also zu ihr. ›Das ist doch kein Name. Nein, Schätzchen, kommen Sie schon, wie heißen Sie wirklich?‹ Und wissen Sie, was sie darauf antwortet? ›Sie nennen mich aber Stupid.‹« Franca schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nicht mal eine Ahnung, ob sie psychisch krank ist, weil ich noch nie eine psychisch Kranke erlebt habe, die sich so verhält. Deshalb lass ich sie hoch nach Hillside bringen, damit sie sie komplett durchchecken, einschließlich Drogenscreening, man weiß ja nie, und ich vereinbare einen Termin beim Gynäkologen. Sie rufen mich an, wenn sie fertig sind.«

Der Kassettenrekorder war angeschaltet, aber Kate machte sich trotzdem Notizen. »Seltsam. Ich frage mich ... Mir kommt sie mager vor, Franca. Vielleicht muss sie zwangsernährt werden?«

»Könnte sein. Heute Nachmittag weiß ich mehr. Das hoffe ich zumindest.« Franca traute niemandem in der Klinik zu, dass er seinen Job anständig erledigte. Kate lächelte sie an. »Noch etwas?«

»Sieht so aus, als hätte Gilda ihre Medikamente nicht genommen, was aber nichts Neues ist. Ich wünschte, wir könnten die Patienten eine Weile hierbehalten, nur eine Zeit lang, damit sie wieder halbwegs auf die Reihe kommen.«

»Amen«, warf Mitch Washington ein. »Wünschen wir uns das nicht alle? Wer um alles in der Welt ist auf die glorreiche Idee gekommen, dass psychisch Kranke in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen! Aber egal, bei mir sieht es folgendermaßen aus ...« Eilig ging er die Liste seiner Patienten durch. Mitch war sehr groß, sehnig und sah nicht aus wie 38. Auf der Highschool und auf dem College war er ein erstklassiger Basketballspieler gewesen. Aber seine Leidenschaft sei nicht groß genug gewesen, um sich für eine Profikarriere zu entscheiden, hatte er Kate erzählt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich vorgebeugt und sie mit seinen dunklen Augen fixiert. »Sie, die Trainer, wollten immer alles von mir. Ständig. Aber ich habe nicht eingesehen, dass ich mich für ein Spiel umbringe, verstehen Sie? Ein Spiel. Ziemlich komisch für einen Schwarzen, was?«

Kate hatte gelacht. »Komisch für einen Mann, Mitch.«

»Die anderen glauben alle, ich sei schwul. Muss wohl so sein, oder? Weil ich so was wie eine Krankenschwester bin und mich um Psychos kümmere. Oooohhh!« Er verdrehte die Augen. »So was machen doch nur Mädchen. Meine Mama, na ja, sie war ein bisschen daneben, aber sie hat zu den Wiedergeborenen gehört, deshalb dachte sie, die Stimmen wären Engel oder Jesus persönlich. Sie hat sich geweigert, zu einem Psychiater zu gehen. Das hätte sie nie im Leben getan. Sie mochte die Stimmen in ihrem Kopf.« Mit einem bitteren Lächeln hatte er den Kopf geschüttelt.

»Wie kam sie zurecht?«, hatte Kate gefragt.

»Oh, nicht gut, Dr. McKenna. Die Nachbarn fanden es nicht besonders toll, wenn sie um drei Uhr morgens bei voller Lautstärke zu Jesus sprach, wenn Sie wissen, was ich meine. Wir haben in Brooklyn gewohnt, und sie sollte ins Kings County eingewiesen werden, aber als die Pfleger kamen, um sie abzuholen, hat sie sich entschuldigt, ist ins Nebenzimmer gegangen und aus dem Fenster gesprungen. Sieben Stockwerke hoch. Sie war sofort tot. Und vielleicht war es sogar besser so.« Er hatte innegehalten und den Kopf gesenkt, dann hatte er aufgesehen und sie angelächelt. »Jetzt wissen Sie, warum ich hier arbeite und mich um ›Psychos‹ kümmere, Dr. McKenna. Ich war einfach daran gewöhnt.«

Mitch ist gut, sogar sehr gut, dachte Kate, als sie ihn ansah, aber trotzdem fehlte ihm die Leidenschaft, der Drang, über sich selbst hinauszuwachsen. Er erledigte seinen Job, dann ging er nach Hause und ließ alles hinter sich. Andererseits war es vielleicht nicht das Schlechteste.

Er las seinen Bericht über Paulie DeSanto vor, ehe er den Kopf schüttelte und sich unterbrach. »Wieso strengen wir uns so an, Dr. McKenna?«, platzte er heraus. »Paulie ist so krank, dass er nicht mitkriegt, was jemand sagt ... zumindest kein realer Mensch. Und er glaubt, es gehe ihm gut, also wirft er seine Medikamente weg und schwänzt die Therapiestunden. Wir kriegen nur den Abfall, den Bodensatz! Wir sind der letzte Ausweg der Kränksten unter den Kranken. Sie wollen ein Behandlungsziel für Paulie DeSanto? Kann mir irgendeiner sagen, was ein Behandlungsziel für ihn sein kann? Für den Rest seines Lebens in einem Loch wie Westwind eingesperrt zu sein? Ist es das, wofür wir arbeiten? Denn auf mich hört er nicht, also wird er auch nichts tun, was ihm guttut.« Er verstummte und saß da, heftig atmend, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich.

Die Stille füllte den Raum. Dieser Ausbruch war völlig überraschend gekommen, fast wie ein Schock. »Trotz seiner Abwehrhaltung glaube ich, dass Sie Paulie durchaus helfen können, Mitch. Er mag Sie, und das ist –« Kate wurde von dem Lärm unterbrochen, als der Demonstrationszug das Gebäude erreicht hatte und vor ihrem Bürofenster Stellung bezog. Die Menge war noch lauter als zuvor, obwohl Kate es nicht für möglich gehalten hätte. Und da sie nicht dieselben Parolen im Chor brüllten, war nicht klar erkennbar, worüber sie sich beschwerten.

Anfangs hatten sich die Anwesenden bemüht, die Störung nicht zur Kenntnis zu nehmen, was jedoch mit jeder Minute schwieriger wurde. »Shelby«, sagte Kate zur dritten Case Managerin, einer Rothaarigen mit Kleinmädchenstimme. »Wir würden alle gern Ihren Bericht hören, besonders was Sie über Linda Cathcart herausgefunden haben, aber – bitte entschuldigen Sie mich.« Offenbar piepte Sonya sie die ganze Zeit an. Als Kate zum Hörer griff, klang die Stimme der Empfangsdame atemlos. »Sie müssen raus auf Straße, Dr. McKenna. Leute machen große Parade. Viel Geschrei.« Sonya musste ziemlich aufgebracht sein, denn wann immer sie etwas irritierte, fiel sie in ihren russischen Akzent und ihren lückenhaften Satzbau zurück.

»Es scheint eine Art Demonstration zu sein«, erklärte Kate den Anwesenden. »Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist.« Allgemeines Lächeln. »Ich gehe jetzt hinaus. Es ist mein Kopf, den sie haben wollen. Sie gehen wieder an die Arbeit.« Die Teammitglieder erhoben sich. »Und hört mal, Leute, wenn einer von Ihnen zufällig auf die Straße geht ... keine Konfrontationen. Keine!«

Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war noch immer bedrohlich grau, und es war ziemlich kühl. Kate zitterte und wünschte, sie hätte ihren Regenmantel übergezogen. Die große Demonstration bestand aus etwa einem Dutzend Leuten in Regenkluft, die vor der Klinik auf und ab marschierten und trotz ihrer mickrigen Anzahl einen beachtlichen Lärm verursachten. Einige hatten Schilder dabei, offensichtlich in aller Eile von Hand beschrift und an Besenstielen und Holzstöcken befestigt. Außen hui, innen pfui, stand auf einem der Schilder. Frei herumlaufende Patienten gefährden unsere Gesundheit, hieß es auf einem anderen. SCHLIESST DAS CCC! HEUTE!, prangte in Großbuchstaben auf einem weiteren. Die Demonstranten reckten wütend die Schilder – fast wie Waffen, dachte Kate.

Einer der Demonstranten war kein Geringerer als Paulie DeSanto, der in den »Irre nach Hause! Irre nach Hause!«–Chor eingestimmt hatte. Sie fragte sich, wo sein Vater war, der doch sonst stets an den Fersen seines Sohnes klebte. »Irre nach Hause!«, schrie Paulie grinsend und schwenkte die Arme. Offenbar war ihm nicht ganz klar, dass er einer der Besagten war. Um ihn würde sie sich später kümmern. Sie ließ die Demonstranten eine oder zwei Minuten gewähren, ehe sie sich zwischen sie schob. »Hallo! Hallo! Ich bin Dr. McKenna, die Direktorin der Ambulanzklinik. Was ist hier das Problem?«

»Sie wissen verdammt genau, was das Problem ist, Dr. McKenna!« Ein untersetzter Mann mit dunkelrotem Gesicht – hoher Blutdruck, er muss auf sein Temperament und sein Gewicht achten, dachte sie reflexartig – starrte sie finster an. »Die Ärzte hier sind genauso wie die oben auf dem Berg. Einfach alle laufen lassen! Lassen wir sie eben durch die Gegend rennen und unsere Kinder abschlachten! Und das sind wir endgültig leid!«

Rufe wie »Ja, genau« und »Zeig’s ihr, Bob« wurden ringsum laut.

Sie fixierte Bob. »Jemand aus dieser Klinik hat Kinder abgeschlachtet? Und ich habe nichts davon erfahren? Warum hat die Polizei uns nicht darüber informiert?«, fragte sie.

Trotzig schob Bob die Unterlippe vor. »Na ja ... noch nicht. Noch haben sie es nicht getan ... aber das werden sie!« Weitere Zustimmungsrufe.

»Denken Sie an einen bestimmten Patienten, Mr. –?«

»Slattery. Robert Slattery, Bauunternehmer. Ich zahle Steuern in dieser Stadt, also habe ich auch Rechte!«

»Das haben Sie, Mr. Slattery. Ist jemand –« Sie unterbrach sich, als gleißendes Licht hinter ihr aufflackerte und sie blendete. Sie fuhr herum und sah zwei Fotografen mit gezückten Kameras vor sich, flankiert von einer Reihe mit Digitalkameras bewaffneter Privatleute, die allem Anschein nach auf eine dramatische Szene hofften. Sie bedeutete ihnen zu verschwinden, wenn auch ohne Erfolg.

»Alle wissen, dass sie verrückt ist! Sie hat mit dem Teufel geschlafen!« Das war Paulie, der schwer atmete und dessen Augen vor Aufregung leuchteten.

Also war Linda Cathcart der Grund für diesen Aufruhr. Wer zum Teufel könnte es auch sonst sein? Dieser verdammte Barry! Seine Story, das war alles, worum es ihm ging.

»Wenn Sie Linda Cathcart meinen«, rief sie der Menge zu, »kann ich Ihnen versichern, dass sie keine Gefahr darstellt. Höchstens für sich selbst. Im Moment ist ein Sozialarbeiter unterwegs und sucht sie. Wir werden sie finden und uns um sie kümmern.«

»Das haben sie letztes Mal auch behauptet!«, schrie eine Frau, worauf die Gruppe wild durcheinander brüllte. Kate wusste nur zu gut, was mit »letztes Mal« gemeint war. Meine Güte, es war so viele Jahre her. Ein Patient war bei einem Ausflug geflohen. Würden sie diesen Vorfall denn nie vergessen? Doch sie selbst hatte es ebenso wenig getan.

»Letztes Mal war ich noch nicht verantwortlich für die Klinik«, erklärte Kate in gemessenem Tonfall. »Aber jetzt bin ich da. Und ich sorge dafür, dass sich jemand darum kümmert. Sie haben mein Wort –« Große Regentropfen klatschten auf ihren unbedeckten Kopf. »Es fängt wieder an zu regnen. Nass zu werden und sich zu erkälten hilft niemandem weiter. Bitte gehen Sie jetzt wieder nach Hause. Mr. Slattery kann gern heute Abend um sechs Uhr zu mir ins Büro kommen, dann informiere ich ihn über den letzten Stand der Dinge. Ist das ein faires Angebot?«

Allgemeines Murren, doch Slattery hätte nicht erfreuter sein können. »Äh, ja, ja, ist es!«, erklärte er, sorgsam darauf bedacht, ein Lächeln zu unterdrücken, während er vor Stolz schier platzte. »Danke, Doktor. Okay, Leute, lassen wir’s gut sein.«

Die Menge verlief sich allmählich – alle, bis auf Paulie, der stehen blieb und nicht wusste, was er tun sollte.

»Paulie«, sagte Kate sanft, »wo ist dein Vater?«

»Ich hab ihn verloren ... irgendwo unterwegs hab ich ihn verloren. Wo ist mein Dad?« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

Kate trat näher und legte ihm behutsam den Arm um die knochigen Schultern. »Wieso kommst du nicht mit hinein? Vielleicht möchtest du dich ja gern ein wenig mit mir unterhalten? Oder mit Mitch?«

»Nicht mit Mitch«, erklärte er. »Mitch ist gemein zu mir!« Seine Jeans und sein Sweatshirt waren nass, und er zitterte vor Kälte.

»Dann eben mit Luke. Würdest du gern mit Luke reden?« Der Junge quittierte den Vorschlag mit einem seligen Lächeln.

»Komm mit, ich rufe Luke an und sorge dafür, dass du eine heiße Schokolade bekommst.« Eigentlich hätte sie ihm gern ein paar Fragen zur Demonstration gestellt, aber er würde ihr nichts Aufschlussreiches darüber erzählen können. Für ihn hatte es einfach aufregend ausgesehen, deshalb hatte er sich ihnen angeschlossen. Sie waren höchstens zehn Schritte gegangen, als sie seinen Vater rufen hörte, der panisch die Straße entlangkam.

»Es geht ihm gut, Mr. DeSanto, alles ist in Ordnung mit ihm«, rief sie, doch keine Beteuerung dieser Welt könnte Paulies Vater davon überzeugen.

»Paulie! Wo warst du? Was hast du dir dabei gedacht? Danke, dass Sie ihn gefunden haben, Dr. McKenna. Ich habe mich höchstens eine Minute umgedreht – ich musste eine Münze in den Automaten stecken ... und schon war er verschwunden! Paulie, das kannst du doch nicht machen!«

»Wag es ja nicht, mich zu schlagen, du alter Mistsack!«

Kate schob sich zwischen die beiden. »Komm, Paulie, Luke will dich bestimmt sehen!«, erklärte sie laut. Allein die Erwähnung von Lukes Namen genügte, um den Jungen zu besänftigen. Die drei gingen ins Haus. Eilig wählte sie Lukes Nummer und bat ihn, so schnell wie möglich in die Eingangshalle zu kommen. »Paulie«, sagte sie nur. »Völlig überdreht.«

»Bin schon unterwegs. Er wird bei der Musiktherapie erwartet. Ich komme und bringe ihn hin.«

Sie erzählte den beiden, Luke sei bereits auf dem Weg, und ging in ihr Büro. Sie würde irgendetwas wegen Paulies Weigerung, seinem Case Manager zu vertrauen, unternehmen müssen. Es war sicher nur ein weiterer Versuch des Jungen, andere zu manipulieren. Mitch konnte hervorragend mit Teenagern umgehen, und anfangs war Paulie gut mit ihm zurechtgekommen. Zu dritt sollten sie in der Lage sein, sich etwas einfallen zu lassen.

Auf dem Weg in ihr Büro hielt Sonya sie auf. »Ein Anruf für Sie, Dr. Kate. Die Bürgermeisterin. Sie sagt, es sei wichtig.«

»Ich nehme das Gespräch in meinem Büro an.« Was ist jetzt wieder los?, fragte sie sich.

Sie griff nach dem Hörer, innerlich gerüstet für das nächste Problem. Doch als sie sich mit ihrem Namen meldete, drangen statt der forschen Stimme der Bürgermeisterin sanfte Klänge an ihr Ohr, dann eine Stimme, die erklärte, sie solle am Apparat bleiben, da Frau Bürgermeister mit ihr zu sprechen wünsche, gefolgt von neuerlicher Konservenmusik. Wenn es so verdammt wichtig war, wo war sie dann?

»Dr. McKenna«, hörte sie schließlich die kampflustige Stimme der Bürgermeisterin. »Ich möchte einen Termin einberufen. In einer halben Stunde in meinem Büro. Kommen Sie. Bitte«, fügte sie hinzu, als Kate nicht sofort reagierte, obwohl ihr Tonfall alles andere als nach einer freundlichen Einladung klang.

»Und bei diesem Termin geht es um –«

»Um eine Ihrer Patientinnen. Eine gefährliche Patientin. Gott sei Dank ist sie im Gefängnis und kann niemandem mehr etwas tun!«

»Im Gefängnis! Aber das ist ... lächerlich ... entsetzlich ... das ist –«

»Ich habe jetzt keine Zeit für so etwas, Dr. McKenna. Wir werden alles besprechen, wenn Sie hier sind. Ich hoffe doch, ich kann auf Ihre Kooperation zählen?«

»Keine Sorge, ich komme«, erwiderte Kate und legte auf. Was sie betraf, konnte Gail Fortunato auf überhaupt nichts zählen. Keine Zeit für Kates Einwände? Tja, das würde sie noch sehen.

Im Büro der Bürgermeisterin, einem großen und beeindruckenden Raum im Rathaus, drängten sich bereits etliche Menschen. Kate, die fünf Minuten zu früh dran war, hatte gedacht, sie gehöre zu den Ersten, stattdessen zählte sie unübersehbar zu den Letzten. Sie sah sich um und erkannte einige der Demonstranten wieder, und dort drüben stand Barry, flankiert von zwei Fotografen, neben ihm einige andere, die sie vom Sehen kannte. Polizisten? Oder, Gott bewahre, Anwälte? Und der Stadtrat, alle acht Mitglieder.

Gail Fortunato saß auf der Kante ihres Mahagonischreibtisches – vermutlich, um den Anwesenden einen Blick auf ihre langen, schlanken Beine zu gestatten. Sie trug ein hochgeschlossenes dunkelblaues Strickkleid mit langen Ärmeln, das sich weich an jede Kurve ihres Körpers schmiegte – und davon gab es einige. Gail hatte schon immer auf die Sex-Karte gesetzt – seit der siebten Klasse. Was etwas seltsam war, weil sie im Grunde eine kühle, grausame, ja, geradezu maskuline Person war. Sie werde niemals wütend, sondern rechne immer sofort ab, war einer ihrer Lieblingssprüche. Und das stimmte. Niemand wagte es, Gail gegen sich aufzubringen. Kate fragte sich, wie sie es geschafft hatte, gewählt zu werden.

Die Bürgermeisterin wandte den Kopf und musterte Kate. »Ah. Dr. McKenna. Endlich. Also können wir anfangen.«

Kate warf einen demonstrativen Blick auf ihre Uhr. Sie wusste, was Gail damit andeuten wollte. Tja, sie war nicht zu spät gekommen, also würde sie sich auch nicht davon einschüchtern lassen.

»Sie sind die Letzte, Dr. McKenna«, erklärte die Bürgermeisterin freundlich. »Und die Wichtigste.«

»Tatsächlich.« Und ich dachte, du wärst das.

»Wir sind hier, weil wir gemeinsam – nein. Wieso kommen wir nicht gleich zur Sache? Gut, ich übernehme das.« Es war so typisch für sie, das Ruder an sich zu reißen. »Vielleicht können Sie uns erklären, warum diese gefährliche Patientin – Linda Cathcart, wenn ich mich recht entsinne – mit einem Rezept und einem Schönen Tag noch weggeschickt wurde, nachdem Sie bei Ihnen in der Klinik war?«

»Sagten Sie gerade, Schönen Tag noch

Die Bürgermeisterin winkte ab und lachte kurz. »Na schön, vielleicht haben Sie ihr nicht gerade einen schönen Tag gewünscht, aber Sie haben eine tobende Geisteskranke mit einem Blatt Papier auf die Straße hinausgeschickt. Denn genau das ist ein Rezept, ein Fetzen Papier mit irgendwelchem Gekritzel darauf, aber keine Wunderkur.« Ärgerliches Gemurmel brandete im Raum auf.

»Einen Moment, bitte. Wir haben sie nicht einfach –«

»Wir haben Zeugen dafür. Wir wissen, dass einer Ihrer Mitarbeiter darauf bestanden hat, dass sie geht, und diese –«

»Wenn Sie das Mädchen noch einmal als tobende Geisteskranke bezeichnen, Frau Bürgermeister, werde ich ihren Eltern raten, Sie wegen übler Nachrede zu verklagen.« Kate hielt inne und rang um ihre Fassung. Genau das brauchte sie heute noch: ihre Selbstbeherrschung vor dem Herausgeber der Tageszeitung und zwei seiner Fotografen zu verlieren.

»Bestimmt ...«, fuhr sie fort und sah sich im Raum um, sah in sämtliche Gesichter außer in Barrys. In der hinteren Ecke des Raums stand jemand von WHTC mit einer kleinen Videokamera in der Hand. Also würden sie in den Sechs-Uhr-Nachrichten über dieses Zusammentreffen berichten. Wo zum Teufel war Austin Davey? Sollte der neue Anstaltspräsident nicht hier sein? Und dann sah sie ihn. Er stand in der Ecke nahe der Tür, so unauffällig, wie ein Mann in einem 2000-Dollar-Anzug sein konnte. »Bestimmt sind wir alle zu intelligent und gebildet, um ein armes krankes Mädchen zu dämonisieren, das noch nie einer Fliege etwas zuleide getan hat. Linda Cathcart ist psychisch krank, ja, und, ja, es ist ein Fehler passiert. Sie wurde wieder nach Hause geschickt. Das hätte nicht passieren dürfen. Aber sie stellt für niemanden hier in dieser Stadt eine Gefahr dar, höchstens für sich selbst.«

»Können Sie uns das versprechen, Dr. McKenna?«, fragte Gail über das Gemurmel im Raum hinweg. »Wenn ja, dann tun Sie das bitte. Sie sind sich also absolut sicher, dass diese Linda nicht Amok laufen wird?«

»Absolut sicher? Nein, natürlich nicht. Aber nach meiner Expertenmeinung –«

Eine sorgfältig gezupfte Braue hob sich. »Expertenmeinung? Mag sein, Doktor. Trotzdem sind Sie möglicherweise ein wenig ... befangen? Wegen Ihrer eigenen Geschichte?«

»Meine eigene Geschichte ist Privatsache und hat nichts mit meiner Professionalität zu tun«, gab Kate ruhig zurück und sah Gail in die Augen. Die Unverfrorenheit dieser Frau!

Zu ihrer Verblüffung meldete sich Austin Davey zu Wort. »Wir sollten dafür sorgen, dass eine gewisse Höflichkeit hier gewahrt bleibt, Frau Bürgermeister.«

Zwei rosa Flecke erschienen auf Gails Wangen. »Selbstverständlich«, blaffte sie. »Aber ich bin sicher, wir wollen etwas mehr Sicherheit als nur Dr. McKennas Meinung. Sie sind neu in Waterfield, Mr. Davey, deshalb ist Ihnen vielleicht nicht klar, dass die anderen Anwesenden sich nur allzu gut an die letzte Gelegenheit erinnern, als sich die psychisch Kranken unter die Bevölkerung mischen durften.«

Kate fragte sich, ob die Bürgermeisterin selbst die Demonstration initiiert hatte, indem sie die Leute an die Volksfest-Tragödie von damals erinnert hatte. Egal. Kate war klar, worauf das Ganze hinauslief. Als Nächstes würde jemand das Argument »Aber die Patienten der Ambulanz leben doch gar nicht dort, sondern gehen ein und aus« anbringen, worauf Gail triumphierend »Genau das ist ja der Grund, warum wir diese Ambulanzklinik schließen wollen« sagen könnte.

»Was hat Miss Cathcart denn getan, dass sie verhaftet wurde?«, fragte Kate schnell.

»Ahh ...« Gail Fortunato glitt von der Schreibtischkante, wobei sie ein Maximum ihrer wohlgeformten Beine enthüllte. »Die Patientin – Miss Cathcart – hat mit einem Ziegelstein die Scheibe von Zavod’s, einem Bekleidungsgeschäft, eingeworfen. Sie war völlig außer sich, redete wirres Zeug und musste von drei Polizeibeamten festgehalten werden.«

»Entschuldigen Sie, aber eines erscheint mir wichtig zu wissen. Was war in dem Schaufenster zu sehen?«

Sämtliche Köpfe fuhren zu ihr herum. Sie sah förmlich die Fragezeichen in der Luft hängen. Gail gab einem Assistenten ein Zeichen, worauf dieser mit einem Blatt Papier in der Hand an ihre Seite eilte. Sie warf einen Blick darauf. »Es war für die Sammelaktion des Roten Kreuzes nächste Woche dekoriert. Flüchtlinge ... Soldaten.« Sie sah erneut auf das Blatt Papier. »Ich schätze, das Ganze war darauf angelegt, Mitleid für die Opfer des Krieges in ... äh ... Übersee zu erregen.«

»Ich will nicht sagen, dass das ihr Benehmen entschuldigt, keineswegs. Aber Lindas Bewusstsein ist in höchstem Maß getrübt. Sie ist hochintelligent, kann manchmal aber nicht zwischen realen und inszenierten Dingen unterscheiden. Oder denen, die in ihrem Kopf sind. Sie hatte uns um ein Bett gebeten, ein Bett, das wir ihr nicht zur Verfügung stellen dürfen, obwohl wir sie gern für ein paar Stunden bei uns behalten hätten, und als Dr. B., äh, als der Fehler unterlief, hat sie die Ablehnung zweifellos als einen weiteren Verrat betrachtet. Sie muss sehr wütend gewesen sein. Ich schätze, sie glaubte, das, was sie im Schaufenster von Zavod’s gesehen hat, sei real, und deshalb hat sie, nun ja, nach Kräften geholfen. Sie muss gedacht haben, die Schaufensterpuppen seien echte Menschen –«

»Sie hat sich ihrer Festnahme verweigert, Dr. McKenna. Und zwar gewaltsam. Sie hat Officer White gebissen.«

»Es steht völlig außer Frage, dass Linda Cathcart unter Wahnvorstellungen leidet und krank ist. Ich sagte ja gerade, dass sie manchmal die Realität nicht –«

»Sie hat gedroht, die Polizeibeamten umzubringen. Und zwar sehr konkret.«

»Sie ist psychotisch. Sie gehört in eine Klinik.«

»Ganz unserer Meinung, Dr. McKenna. Und warum ist diese Frau, diese gefährliche psychotische Kranke dann nicht in einer Klinik?«

Kate ließ sich ein, zwei Sekunden Zeit mit ihrer Antwort, um sicherzugehen, dass alle sie hörten. »Linda Cathcart ist nicht in einer Klinik, weil Hillside sich weigert, sie aufzunehmen.« Sie hätte nur zu gern gewusst, ob Barry sich Notizen machte, doch sie würde ihm die Genugtuung nicht verschaffen und sich zu ihm umdrehen. Sie sah Austin Davey, der mit vor der Brust gekreuzten Armen reglos in seiner Ecke stand. Er beugte sich vor und klappte den Mund auf, als sich ihre Augen begegneten. Er trat zurück, ohne den Blick von ihr zu wenden. Er will sehen, wie ich mit der Situation umgehe, dachte sie. Vielleicht war er ja doch nicht der kaltblütige Manager-Typ, für den sie ihn gehalten hatte.

»Wenn Hillside sie nicht aufnehmen will«, warf ein korpulenter Mann ein, den sie nicht kannte, »ist sie ja vielleicht doch nicht so krank, wie sie tut.« Er sah sich triumphierend um.

»Na, hören Sie mal«, erklärte sie und starrte ihn durchdringend an, »natürlich ist sie krank. Sie ist schizophren.«

»Schizophrenie! Schizophrenie!«, rief eine Frau mit krausem roten Haar. »Etwas anderes bekommt man heutzutage nicht mehr zu hören. Jeder Massenmörder, jeder Kerl, der sich vor einen Zug wirft, alle haben eine gespaltene Persönlichkeit! Wir sind diese Ausreden leid.«

»Warum sollten wir eine schizophrene Irre frei in der Stadt herumlaufen lassen?«

Allgemeiner Protest erhob sich im Raum. »Die Anstalt hat Miss Cathcart nicht aufgenommen, weil ihre Krankenkasse nur eine Behandlung über sechs Tage gewährt. Sie braucht aber wesentlich mehr«, erklärte Kate nachdrücklich.

»Dann lassen Sie sie doch die Anstalt selbst bezahlen, damit sie mehr bekommt.«

»Ja! Man kann die Steuerzahler nicht zwingen, für jeden durchgeknallten Irren im Bundesstaat aufzukommen!«

»Sie erobern unsere Stadt! Überall wo man hinsieht, begegnet man ihnen!«

»Und dieser eine Kerl ... dieser Prophet! Er lebt praktisch in Ihrem Haus!«

Kate starrte diese anständigen Bürger an, die so wütend und aufgebracht waren, und fragte sich, ob sie sie darauf hinweisen sollte, dass Steuern nichts mit der Krankenversicherung zu tun hatten. Sollte sie ihnen erklären, dass Schizophrenie nicht dasselbe war wie eine gespaltene Persönlichkeit? Nein, denn niemand würde ihr zuhören. Niemand wollte ihr zuhören. Alle waren viel zu beschäftigt damit, sich aufzuspielen.

»Sie brauchen sich vor Linda Cathcart nicht zu fürchten«, erklärte sie beharrlich. »Sie ist absolut harmlos.«

Gail Fortunato hob die Hand, worauf es schlagartig still im Raum wurde, und kniff die Augen zusammen. »Viele von uns können sich noch gut genug daran erinnern, dass eine solche Aussage nicht unbedingt stimmen muss, Dr. McKenna«, erklärte sie zuckersüß.

Kate erstarrte vor Wut. In ihren Ohren rauschte es. Hatte Gail es tatsächlich gewagt? Oh ja, das hatte sie. Ihre Augen waren auf Kate gerichtet, provozierten sie, wie sie es immer getan hatte.

1985. Das Abschlussjahr auf der Highschool. Ein schöner Frühlingstag, klar und freundlich. Kate und ihre Freunde waren ausgelassen – ausgelassen über ihren Status als Schüler der Abschlussklasse, über die Verheißung des bevorstehenden Sommers, das College und dann ... Wer konnte das schon sagen? Wen kümmerte es? All das war noch viel zu weit weg. Sie saß im Geschichtskurs, und Professor Smith faselte über den Völkerbund oder die Vereinten Nationen oder sonst etwas Langweiliges. Sie und Barry tauschten Zettelchen über die Pizza-Party aus, die für den nächsten Abend geplant war. Die großen Fenster im Klassenzimmer standen weit offen, sodass die Rufe der Spieler eines Softballspiels und gleich darauf der Sirene eines Polizeiautos oder eines Krankenwagens herübergeweht wurden. Der Duft nach Gras hing in der Luft. Der Direktor betrat den Raum und sagte leise etwas zu Smith, was den Schülern die Gelegenheit bot, miteinander zu flüstern.

Doch Kate bemerkte, dass die Blicke der beiden Männer immer wieder in ihre Richtung schossen, ehe sie sie wieder abwandten. Kalte Angst breitete sich in ihr aus. Was war passiert? Steckte Carlo schon wieder in der Klemme? Das passierte ständig. Aber diesmal mussten es ernsthafte Schwierigkeiten sein, wie das Gesicht des Direktors vermuten ließ. Es war blass, wie versteinert, ungläubig. Sie starrte die beiden Männer an, ohne sie zu sehen – es war, als wäre ihr Gehirn mit einem Mal völlig leer.

Mr. Smith schlug mit der Hand auf sein Pult, worauf die Geräusche erstarben. »Mr. Madison hat eine wichtige Mitteilung zu machen.«

Kate wusste noch genau, was der Direktor gesagt hatte. Am deutlichsten erinnerte sie sich jedoch daran, wie sich sämtliche Blicke auf sie gerichtet hatten. Eine Gruppe Hillside-Patienten war zu einem Ausflug in die Stadt gebracht worden, wo ein kleiner Rummelplatz auf dem ehemaligen Fußballfeld aufgebaut war. Für die Patienten sollte der Ausflug eine Belohnung sein. Doch eine Patientin hatte ein Kind entführt und war mit ihm geflüchtet. Polizei und Feuerwehr suchten bereits nach den beiden. Alle sollten bleiben, wo sie waren, sämtliche Aktivitäten nach dem Unterricht waren gestrichen, und nach der siebten Stunde sollten alle auf dem direkten Weg nach Hause gehen und sich keinesfalls draußen herumtreiben.

»Nein, es kann nicht Angela gewesen sein!«, hätte Kate am liebsten gerufen. »Meine Mutter würde niemals jemanden entführen!« Aber ihre Brust war wie zugeschnürt vor Angst, denn warum sonst sollten die beiden Männer sie ständig ansehen? Es musste ihre Mutter gewesen sein. Wer sonst? Einen Moment lang war ihr schwindlig, als sie sich des Schweigens im Klassenzimmer bewusst wurde. Sie brachte es kaum über sich, sich umzusehen, trotzdem tat sie es. Die meisten Kinder sahen verlegen nach unten. Alle außer Gail Fortunato, die sie mit unverhohlener Neugier anstarrte. Ebenso wie Barry, nur dass er die Augen niederschlug, als sich ihre Blicke begegneten. Oh Gott, auch er dachte, dass Angela die Entführerin war.

Sie stürzte davon, aus dem Klassenzimmer und dem Schulgebäude, durch sämtliche Hinterhöfe, in die Praxis ihres Vaters. Im Wartezimmer saßen Patienten, die in alten National-Geographic-Ausgaben blätterten. Sie sahen auf und lächelten ihr zu, als sie laut an die Tür zum Behandlungszimmer hämmerte, durch die Olive gewöhnlich trat und »Der Nächste, bitte« rief. Aber sie konnte nicht warten, bis Olive erschien. Nicht wenn Angela vielleicht einen kleinen Jungen entführt hatte. Oh Gott, hatten sie alle nur darauf gewartet, dass eines Tages so etwas passieren würde?

»Olive, ich muss mit dem Doc reden. Es ist sehr, sehr wichtig!«, erklärte sie der überraschten Arzthelferin. Olive sah zu den wartenden Patienten hinüber, ehe sie Kate ins Zimmer zog und die Tür hinter ihr schloss.

»Nur eine Minute. Ich sage ihm, dass du da bist.«

Doc kam aus dem Labor im hinteren Teil der Praxis und trocknete sich die Hände ab. Bei ihrem Anblick blieb er abrupt stehen. »Was ist passiert?«

Die Worte sprudelten über ihre Lippen, als sie ihm schilderte, was vorgefallen war.

Der Griff seiner Hand auf ihrer Schulter verstärkte sich. »Haben sie gesagt, dass sie es war? Haben sie den Namen gesagt?«

»Nein. Aber sie haben mich dauernd angesehen –«

»Diese Idioten! Kate, sie wissen nicht, wer es war. Falls ... falls sie es war, hätten sie mich doch sofort angerufen. Eine Frau ist weggelaufen, und wahrscheinlich sind sie immer noch dabei herauszufinden, wer fehlt. Wir wissen nicht, wer es ist, hast du mich verstanden? Wir. Wissen. Es. Nicht. Und bis dahin werden wir ganz ruhig bleiben, ganz ruhig, verstehst du mich, Katie?«

»Aber, Daddy, solltest du nicht in Hillside anrufen? Oder lass uns zum Rummelplatz gehen und sie suchen.«

»Hast du all die Patienten gesehen, die auf mich warten, Katie? Sie verlassen sich darauf, dass ich mich um sie kümmere. Ich werde nicht einfach Hals über Kopf davonlaufen. Nicht, solange ich nichts Genaueres weiß. Und«, fügte er mit einem forschenden Blick in ihre Augen nachdrücklich hinzu, »du genauso wenig. Ich meine es ernst, Katie. Kein Theater. Und wenn du weinen musst, bevor du weißt, ob es überhaupt etwas zu weinen gibt, wirst du die Hintertür benutzen müssen. Ich lasse nicht zu, dass du dich vor meinen Patienten so benimmst.«

Er wandte sich ab, als jemand lautstark an die Tür des Behandlungsraums klopfte, ehe sie abrupt aufgerissen wurde und zwei atemlose Polizisten vor ihnen standen. »Doc! Doc! Sie müssen mitkommen! Eine der Ver..., eine der Patientinnen aus Hillside ist mit einem kleinen Jungen davongelaufen und sitzt jetzt auf einem Dach mit ihm. Sie behauptet, er sei ihr kleiner Junge, und sie würde ihn nicht wieder gehen lassen. Sie droht zu springen!«

Doc wurde blass, dennoch zögerte er nicht, sondern schnappte seine Arzttasche. »Katie, geh nach Hause, hörst du? Geh nach Hause. Olive, du verschiebst die Termine und entschuldigst dich in meinem Namen.« Er legte nicht einmal den weißen Arztkittel und das Stethoskop ab, das um seinen Hals baumelte, sondern stürmte mit den Polizisten zur Tür hinaus. »Tut mir leid, Leute, ein Notfall!«, rief er, ehe die Eingangstür hinter ihnen ins Schloss fiel.

Kate stand stocksteif da, als könne sie sich auf diese Weise unsichtbar machen. Nach Hause gehen? Nein. Ihr Herz hämmerte. Sie wusste, der Doc wusste, und auch Olive wusste, dass Angela der festen Überzeugung war, ihr sei ein Kind gestohlen worden, das nun irgendwo darauf wartete, von ihr gerettet zu werden. Möglicherweise hatte sie diesen kleinen Jungen genommen und versucht, ihn nach Hause zu tragen, doch es mussten ihr zu viele Leute nachgelaufen sein und nach ihr gerufen haben, sodass sie die Kontrolle verloren hatte. Menschenansammlungen machten sie grundsätzlich nervös. Vermutlich hätte sie ihn abgesetzt oder sogar fallen lassen. Aber auf ein Dach geklettert? Angela litt unter Höhenangst, panischer Höhenangst. Es ergab keinen Sinn. Trotzdem ... Sie hatte den Ausdruck in Docs Augen gesehen, diesen angespannten, besorgten Ausdruck. Auch er dachte, dass Angela das Kind hatte. All die Jahre hatten sie alles daran gesetzt, die schlimmen Dinge unter Verschluss zu halten, innerhalb der Familie, innerhalb des Hauses. Und nun sickerte es durch. Im privaten Arbeitszimmer ihres Vaters läutete das Telefon, läutete und läutete, bis es plötzlich aufhörte.

Kate schlang die Arme um ihren Oberkörper. Ihr Magen schmerzte. »Bitte, Mommy, nein«, betete sie, ehe sie innehielt. Angela erlaubte keine Babysprache. »Du nennst mich beim Vornamen«, hatte sie immer gesagt.

Doch ihr Gebet, wenn es denn eines gewesen war, wurde nicht erhört. Olive betrat den Behandlungsraum, schloss die Tür, lehnte sich mit dem Rücken dagegen und sah sie traurig an.

»Was?«, sagte Kate, während sich eine eisige Hand um ihr Herz legte. »Was ist?«

Olives Stimme war viel zu sanft. »Geh nach Hause, Katie, wie dein Vater gesagt hat. Hast du jemanden, den du anrufen kannst, damit du Gesellschaft hast?«

Normalerweise hätte sie Barry angerufen, aber sie war sich nicht sicher, wie er reagieren würde. Das Geheimnis war gelüftet, und mit einem Mal war die Welt ein vollkommen anderer Ort, voller Fallen und tückischer Gruben.

»Nein. Aber das macht nichts. Ich komme schon klar«, log sie und ging zur Hintertür.

»Katie –«

»Was?«

»Nichts.«

»Da ist doch etwas. Bitte sag es mir, Olive. Diese Ungewissheit ist entsetzlich.«

Olive stieß einen Seufzer aus, während sich ihr hübsches, freundliches Gesicht verzog. »Deine Mutter ... dein Vater hat gerade angerufen. Sie ... oh, Kate, es tut mir so leid. Sie haben deine Mutter gefunden. Mit dem kleinen Jungen in den Armen.«

»Auf einem Dach

Olivia sah sie überrascht an. »Auf einem Dach? Nein, nein, deine Mutter würde nie im Leben auf ein Dach steigen, Katie, das weißt du doch. Sie hat auf dem Boden gesessen, mit ...«

»Hat sie ihm wehgetan?«

»Er ist ... ich fürchte, er ist tot.«

»Angela hat ihn getötet? Sie hat ihn getötet?« Sie begann zu zittern und brach in Tränen aus.

»Kate, Kate, beruhige dich. Ich bin sicher, deine Mutter hat das nicht getan. Der Doc sagt, es kann einfach nicht sein. Sie behauptet zwar ständig, sie sei schuld, aber er bleibt bei ihr, solange die Ermittlungen andauern. Deshalb könnte es eine Weile dauern, bis er nach Hause kommt, und ich will nicht, dass du dir Sorgen machst. Ich rufe die Patienten an, die einen Termin für später hatten, dann schließe ich ab und komme rüber, wenn du willst.«

»Nein, vielen Dank. Es geht mir gut.« Warum sagte sie das? Sie war weit entfernt davon, dass es ihr gut ging. Sie spürte, wie ihre Eingeweide rumorten, als breche sie jeden Moment auseinander. Unter Aufbietung ihres gesamten Willens zwang sie sich zu lächeln, ruhig zur Hintertür zu gehen und sie leise hinter sich zu schließen. Erst als sie zu Hause war, oben in ihrem Turmzimmer, brach sie entsetzt in Tränen aus.

Erwartungsvolle Stille erfüllte Gails Büro. Worauf warteten sie? Was sollte sie ihrer Meinung nach tun?

»Wäre eine gefährliche Patientin aus der Klinik geflohen, Gail, säße ich jetzt nicht hier«, erklärte sie mit stählerner Stimme. »Ich würde nach der Patientin suchen. Persönlich. Aber wie Sie sehen, bin ich hier.« Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Ich weiß nicht, was Sie damit andeuten –«

»Ich will damit andeuten, Kate«, schoss Gail nicht minder scharf zurück, »Sie könnten ebenso gut die Tatsache vertuschen, dass Sie zugelassen haben, dass eine gefährliche Patientin die Klinik verlässt.«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Vielleicht weil Sie in einem solchen Fall zu befangen sind, um objektiv zu sein, Dr. McKenna. Zu nahe an diesem Thema und zu nahe an Ihren Erinnerungen. An Ihre Mutter, vielleicht.«

Die Anwesenden schnappten kollektiv nach Luft. Oh Gott, wussten alle hier von Angela? Kannte jeder jedes verdammte Detail über ihre Familie und ihr Leben? »Meine Mutter war psychisch krank, ja, aber sie war nicht gefährlich. Und sie hat nie jemandem etwas getan. Benutzen Sie die Krankheit meiner Mutter, um mich einzuschüchtern, Frau Bürgermeister? So sieht es nämlich aus. Mir ist klar, dass die Bevölkerung besorgt ist bei der Vorstellung, dass eine labile Frau da draußen herumgeistert. Aber zufällig irren Sie sich, Frau Bürgermeister. So wie sich die Leute 1985 geirrt haben, als alle glaubten, meine Mutter hätte ein Kind getötet. Wie Sie ja selbst wissen«, fügte sie nachdrücklich hinzu. »Wie Sie verdammt genau wissen, Frau Bürgermeister. Meine Mutter war eine kranke Frau, die unter Wahnvorstellungen litt, aber eine andere Frau hat das Kind getötet und ist dann geflüchtet, um sich das Leben zu nehmen. Meine Mutter war den beiden nachgelaufen, um den Jungen zu retten, aber sie kam zu spät, und die Polizei fand sie, wie sie das tote Kind in den Armen wiegte. Warum um alles in der Welt zerren Sie jetzt diese alte Geschichte ans Tageslicht, Frau Bürgermeister? Sie können sich doch bestimmt vorstellen, welchen Schmerz das Ganze mir und meiner Familie damals bereitet hat. Was soll das bringen – außer vielleicht, mich damit unter Druck zu setzen. So sehr, dass ich die Klinik schließe, meinen Sie? Vergessen Sie’s.« Ihre Stimme war immer lauter geworden und schien den gesamten Raum zu erfüllen. Sie bemerkte, dass sich niemand rührte. Alle Augen waren auf sie gerichtet, alle lauschten ihr. »Das Ambulanzzentrum hilft den Menschen, die sich nicht selbst helfen können, und was mich betrifft, werde ich es nicht schließen, wie sehr die Ignoranz und Hysterie auch geschürt und auf die Straße getragen wird.«

Austin Daveys weiche, zivilisierte Stimme durchbrach die Stille. »Wir wollen gewiss keine alten Geschichten aufwühlen ... Das käme einer Hexenjagd gleich. Und das wollen wir doch nicht, oder, Frau Bürgermeister?« Er wandte sich Kate zu. »Bitte entschuldigen Sie, Dr. McKenna. Aber es wäre wohl ratsam, die Sicherheitsmaßnahmen in der Klinik zu verschärfen, meinen Sie nicht auch? Und vielleicht ein ernstes Wort mit dem Arzt zu reden, der Miss ... äh, die Patientin weggeschickt hat? Das ist nie klug, zumindest nicht bei psychisch Kranken, oder? Sie sind schließlich alles andere als, nun ja, gehorsam, wenn ich es recht sehe. Ich bin sicher, Frau Bürgermeister, wir können uns darauf verlassen, dass Dr. McKenna für Ordnung in ihren Reihen sorgt, stimmt’s, Doktor?«

Es dauerte einen Moment, bis Kate aufging, dass er auf ihrer Seite stand – okay, gewissermaßen. Bestimmt würde er von ihr verlangen, Bannerman vor die Tür zu setzen und nicht nur »ein ernstes Wort mit ihm zu reden«.

»Stimmt«, bestätigte sie. »Ich werde mich sofort darum kümmern. In der Zwischenzeit könnten Sie, Mr. Davey, ihr vielleicht ein Bett in Hillside besorgen?« Er neigte leicht den Kopf. War das ein Ja? Zumindest ein Vielleicht. Sie würde ihn jedenfalls noch einmal darauf ansprechen.

»Wir sind noch nicht fertig hier«, erklärte Gail knapp. »Und man hat uns im Vorfeld Versprechungen gemacht, unsere Straßen und Parks von psychisch Kranken zu befreien. Diese Stadt ist es leid –«

Nun ergriff Barry das Wort. »Diese Stadt hat nichts für Lynchaktionen übrig, nicht einmal für verbale. Ich denke, wir haben genug gehört.« Kate bemerkte, dass Gail nicht auf seinen Einwurf gefasst gewesen war. Sie warf ihm einen durchdringenden Blick zu, den er jedoch ignorierte. Waren Gail und Barry mehr als Freunde? Ein erschreckender Gedanke. Aber warum sollten sie nicht zusammen sein? Sie waren beide Singles, beide Kontrollfanatiker und konnten in beruflicher Hinsicht zweifellos voneinander profitieren. Das ideale Power-Paar! »Ich denke, wir sollten uns jetzt alle beruhigen und wieder an die Arbeit gehen«, fügte Barry hinzu. »Wir werden alle Beteiligten befragen und in der morgigen Ausgabe die ganze Geschichte veröffentlichen. Dr. McKenna, darf ich vielleicht mit Ihnen anfangen?«

»Mit mir anfangen?«

»Ein Interview. Geben Sie mir ein Interview?«

»Ja, natürlich.« Sie blinzelte, als sich die Kameras auf sie richteten.

»Jetzt?«

»Ich – ja. Jetzt. Draußen. Fünf Minuten.«

Die Atmosphäre im Raum war spürbar weniger feindselig als vor ... wie viel Zeit war inzwischen vergangen? Gerade einmal 20 Minuten. Der Bürgermeisterin war es gelungen, sich selbst ins Aus zu manövrieren. Natürlich stand die arme Linda noch immer unter Arrest. Kate würde mit Austin Davey über ein Bett für sie reden müssen. Sie sah sich im Raum um, doch er war verschwunden. Also zog sie ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte seine Nummer in Hillside, wo sie ihm die Nachricht hinterließ, er möge sie anrufen, sobald er wieder dort angekommen sei. Sie hätte die Angelegenheit lieber persönlich mit ihm besprochen, aber was blieb ihr anderes übrig?

Als Nächstes wählte sie die Nummer der Ambulanzklinik. Als Sonya abhob, bat sie sie, den Betreuer zu finden, der auf der Suche nach Linda war. »Sie ist verhaftet worden.«

»Verhaftet! Mein Gott, was sie hat getan?«

»Nein, nein, nichts Schlimmes. Niemand wurde verletzt. Sie hat nur einen Ziegelstein ins Schaufenster von Zavod’s geworfen. Ich erzähle es Ihnen, wenn ich zurück bin, Sonya. Bitte informieren Sie jetzt die anderen, okay? Ich will nicht unnötig Zeit mit der Suche nach ihr vergeuden. Und ...« Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. »Hat sich Dr. Carlyle gemeldet? Oder seine Frau?«

»Nein, Dr. McKenna. Was soll ich ihm sagen, wenn er anruft?«

Ja, was? »Dass ich ihn sprechen möchte. Ich bin bald zurück.«

Wieder sah sie sich um. Das Büro leerte sich zusehends, und die anfängliche Anspannung schien vollends verflogen zu sein. Die Leute unterhielten sich und schienen sich wieder ihren Angelegenheiten zuzuwenden.

Nur Gail nicht, wie Kate bemerkte. Sie sah sie, nein, starrte sie mit zusammengepressten Lippen und zu zornigen Schlitzen verengten Augen an. Die Feindseligkeit, die von ihr ausging, ließ Kate innehalten. Für einen Augenblick begegneten sich ihre Blicke, ehe Gail den Kopf in den Nacken warf und ihr den Rücken zukehrte. Wie seltsam. Was könnte in Gail vorgehen, das sie ein derartiges Verhalten an den Tag legen ließ? Aber was auch immer, es war es nicht wert, jetzt darüber nachzudenken. Sie musste zur Polizei und Linda aus dem Gefängnis holen.

Die Mildtätige

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