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Über Nacht schlug das Wetter um. Als Kate aufwachte, hingen dunkle Wolken am Himmel, und schwere Regentropfen perlten an den Fenstern hinab. Kein einziger Vogel war an den Futterkugeln in den Bäumen zu sehen. Es sah aus, als hätte die ganze Welt ihre Farbe verloren. Sie hasste den verhangenen Himmel und die erbarmungslos gedrückte Stimmung von Regentagen. Bei schlechtem Wetter hatte sie stets den Eindruck gehabt, als würde sich auch der Zustand ihrer Mutter verschlechtern. Aber ihre Mutter war nicht mehr Teil ihres Lebens, warum also dachte sie ständig an sie?

Es musste am Haus liegen. Dies war immer Angela Spectors Haus gewesen, ein Spiegelbild ihres quirligen, lebendigen Wesens. Und auch ihrer Krankheit. Angela war Halbitalienerin und Halbjüdin, halb eine wunderbare Frau und mehr als nur halb verrückt. Nach all den Jahren war ihre Anwesenheit immer noch zu spüren. Kate schüttelte den Kopf, um die Schatten der Vergangenheit zu vertreiben, und richtete ihre Gedanken auf das, was sie anziehen wollte. Schwarz, beschloss sie, ein geschäftsmäßiges Kostüm mit einer roten Bluse ... perfekt. Als sie im Badezimmer stand und sich das Gesicht eincremte, erreichte sie der köstliche Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Ihre neue Kaffeemaschine schaltete sich von allein an. Die reinste Zauberei!

Sie sah in den Spiegel. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter war auffallend. Die hohen Wangenknochen, der breite Mund, die leicht schräg stehenden Augen, die dichten Locken. Nur hatte sie denselben hellen, sommersprossigen Teint wie der Doc. Wenn sie nicht Acht gab, konnte sie leicht fahl wirken. Ein Hauch Rouge auf die Wangen, ein wenig Wimperntusche und – voilà – eine ganz neue Frau schaute ihr aus dem Spiegel entgegen, die sehr professionell und beinahe wach aussah.

Ihr Frühstück bestand aus Toast, Orangensaft und – was am allerwichtigsten war – Kaffee. Nach wenigen Schlucken spürte sie bereits, wie die Energie durch ihren Körper strömte.

Sie stellte das schmutzige Geschirr in die Spüle, stopfte ihre Unterlagen in die Aktentasche, griff nach ihrem knallroten Regenmantel und einem Schirm und war bereit, dem feuchten, düsteren Tag entgegenzutreten und sich auf ihre Arbeit und die Mitarbeiter einzulassen, die sie noch nicht besonders gut kannte und bei denen sie sich nach wie vor nicht sicher war, wo sie standen. Sie wünschte, sie hätte ihre Ärzte selbst einstellen können, doch bei ihrem ersten Vorstellungsgespräch war das gesamte Personal bereits engagiert gewesen.

»Ist es nicht üblich, zuerst den Direktor einzustellen?«, hatte sie Dr. Carlyle gefragt.

»Ja, natürlich, Dr. McKenna, aber unter diesen Umständen ... Es tut mir wirklich leid. Ich hoffe, es hält Sie nicht davon ab, die Stelle anzunehmen. Sie scheinen mir die perfekte Kandidatin zu sein.« Sein Lächeln war so hoffnungsvoll gewesen, und sie hatte sich so danach gesehnt, New York und ihrer gescheiterten Ehe den Rücken zu kehren. Also hatte sie sein Lächeln erwidert. »Nein, ich bin sehr interessiert an der Stelle.«

Marian Morgenstern hatte sie herumgeführt und ihr alles über die Ambulanzklinik erzählt. Kate bemühte sich, ihr aufmerksam zuzuhören, während sie auf den richtigen Augenblick wartete, um ein oder zwei Fragen zu stellen. Doch es ergab sich keine Gesprächspause, und Kate wollte schon aufgeben, als Marian meinte: »Ich muss Ihnen etwas sagen ... bevor Sie Ihre Entscheidung treffen. Nein, nein, es ist nichts Schlimmes, bitte sehen Sie mich nicht so an. Tut mir leid, das war ungeschickt von mir.«

Und dann berichtete sie Kate, dass man bereits einen Leiter engagiert hatte, einen Mann in den Vierzigern mit einem Doktortitel in Medizin und einer Privatpraxis in einem Bostoner Vorort. Er hatte schon früher unter Dr. Carlyle gearbeitet, und die beiden hatten gemeinsam einige Artikel veröffentlicht. »Das ist der Grund, weshalb Dr. Carlyle Dr. Armstrong ... sehr zugetan war. Er war begeistert von der Idee, dass sein Protegé hier anfangen würde.« Sie hielt inne und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Aber Dr. Armstrong hatte einen Autounfall. Ein Frontalzusammenstoß mit einem Betrunkenen.«

»Oh Gott, wie entsetzlich.«

»Ja, grauenhaft. Und die Art, wie es passiert ist! Dieser Idiot fuhr in der falschen Richtung auf den Highway. Es war ein Albtraum! Dr. Armstrong, seine Frau und die beiden Kinder – alle tot!«

»Und der betrunkene Fahrer?«, fragte Kate voller Zorn.

»Er kam auch ums Leben. Was gut für ihn ist, weil jeder, der von dieser Geschichte gehört hat, ihn am liebsten umgebracht hätte. Dr. Carlyle spricht nicht gern darüber, was Sie bestimmt verstehen. Aber es wäre nicht fair, es Ihnen zu verschweigen.«

»Also wieder mal zweite Wahl«, bemerkte Kate und lachte.

»Oh, bitte, so dürfen Sie das nicht sehen. Wir hatten die Position gar nicht ausgeschrieben, weil Armstrong bereits zugesagt hatte. Sie sind unsere erste Wahl aus Dutzenden Bewerbern, glauben Sie mir.«

»Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Ich habe mich erst kürzlich scheiden lassen und neige gelegentlich dazu, mich selbst zu bemitleiden.«

»Das verstehe ich gut«, sagte Marian und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Ich habe auch meine ... Beziehungsprobleme gehabt. So etwas kann ziemlich übel für das Selbstwertgefühl sein.«

Kate sah zu, wie die Schwester zügig die Stufen hinunterlief, ohne dass ihre Schritte ein Geräusch verursachten. Es sah aus, als schwebe sie – kaum vorstellbar bei ihrem Körperbau. Sie war groß und grobknochig, mit rosigen Wangen und dickem, grauen Haar, das zu einem Bob frisiert war. Falls sie Make-up trug, war es sehr dezent. Sie sah gut aus und schien ruhig und beherrscht zu sein, was für eine Schwester ja noch wichtiger war.

Kate trottete die Stufen hinter Marian hinunter und trat in die Eingangshalle, wo sie stehen blieb. »Werde ich Probleme mit den Mitarbeitern bekommen? Falls ich die Stelle kriege, meine ich natürlich.«

»Ich glaube schon, dass Sie die Stelle bekommen werden. Bisher war noch niemand so weit wie Sie. Und es sollte keine Probleme geben. Es ist ja nicht so, dass Dr. Armstrong von allen geliebt worden wäre. Niemand hat ihn gekannt, deshalb werden Sie nicht gegen irgendwelche Geister ankämpfen müssen.« Sie lächelte. Kate erwiderte das Lächeln. In diesem Moment wusste sie, dass sie die Stelle annehmen würde, falls sie sie bekäme.

Und nun war sie hier und hatte alle Hände voll zu tun. Ihre Arbeit war ziemlich anstrengend, aber sie war entschlossen, so vielen Patienten wie möglich zu helfen, während sie sich daneben um die Führung ihrer Mitarbeiter kümmerte und versuchte, die Bewohner von Waterfield dazu zu bringen, ihre Meinung über die neue Klinik zu ändern.

An diesem Morgen kam es aber erst einmal darauf an, zur Arbeit zu gelangen, ohne völlig durchnässt zu werden. Sie hatte Mühe, den schmutzigen Wasserfontänen auszuweichen, die die vorbeifahrenden Fahrzeuge aufspritzen ließen, wenn sie durch die Pfützen preschten. Die Autos fuhren viel zu schnell durch ihre Straße, fand sie. Ihrer Meinung nach war es völlig unerheblich, dass dies die Hauptverbindung zum Fluss war. Es war ein Wohngebiet mit Geschwindigkeitsbegrenzung, worauf zahlreiche Schilder hinwiesen, doch niemand hielt sich daran. Die wenigen Fußgänger, die so früh am Morgen unterwegs waren, gingen mit gesenkten Köpfen, hochgezogenen Schultern und Regenschirmen vor den Gesichtern die Straße entlang. Genauso wie sie.

Gegenüber der Klinik blieb sie abrupt stehen. Die breite Doppeltür stand offen, und zwei stämmige Arbeiter in grünen Overalls trugen eines ihrer Krankenbetten heraus.

»Hey! Warten Sie! Was machen Sie da?«, schrie sie, so laut sie konnte, doch sie reagierten nicht auf sie. Sie wollte über die Straße laufen, doch das durchdringende Dröhnen einer Hupe ließ sie erschrocken zurückweichen. Ein riesiger Geländewagen schoss an ihr vorbei, sodass eine Fontäne Schmutzwasser aufspritzte. Verdammt! Wozu brauchten die Leute eigentlich diese Riesenkisten? Es war, als würde die Welt mit einem Mal von diesen Dingern überrollt werden. Man konnte nicht über sie hinwegblicken, sah nicht an ihnen vorbei, und nachts blendeten ihre gleißend hellen Scheinwerfer jeden im Rückspiegel, der das Pech hatte, vor ihnen zu fahren. Aber ... Jetzt erblickte sie zwei weitere Männer, die noch ein Bett nach draußen schleppten. Was taten die da eigentlich?

Sie sah auf die Straße. Verkehr in beiden Richtungen. Aber sie musste auf die andere Seite. Es würde wohl kaum jemand eine Frau überfahren. Entschlossen streckte sie den Arm aus und reckte ihren schwarzen Schirm wie einen Schild nach vorn, ohne weiter nach links oder rechts zu sehen.

Sofort ertönte ein wütendes Hupkonzert, dem sie jedoch keine Beachtung schenkte. Sie erreichte die andere Straßenseite unversehrt und stürzte auf die Männer zu. »Hey! Lassen Sie das! Das sind meine Betten!«

Endlich reagierte einer der Männer. »Halt, Dom!«, rief er. Sie ließen das Bett sinken, sodass eine Seite auf der Treppe hing, die andere auf den Gehsteig ragte.

»Wer ist hier zuständig?«, fragte sie. »Und was tun Sie hier überhaupt?«

»Ich schätze, ich bin das. Mike Malone. Wir bringen die Betten raus.«

»Das sehe ich«, blaffte Kate ihn an. »Sie können sie gleich wieder hineintragen. Wir haben Patienten, die sie vielleicht brauchen«, fügte sie in einem etwas versöhnlicheren Tonfall hinzu.

Der Mann zuckte die Schultern, griff in seinen Overall und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus. »Hier ist mein Auftrag. Von ganz oben. Sehen Sie selbst.«

Sie überflog das Blatt. Es war die eindeutige Anweisung, drei Betten aus der Ambulanzklinik zu entfernen, und sie trug dieselbe nicht entzifferbare Unterschrift wie das Memo. Es musste sich um Austin Daveys Unterschrift handeln. Sie starrte auf das Blatt, ohne die Buchstaben zu erkennen, während sich ihre Gedanken überschlugen. Sie waren eine ambulante Einrichtung, in der es nicht erlaubt war, Patienten über Nacht aufzunehmen. Aber manchmal gab es in Hillside keine freien Betten, und mitunter war ein Patient so außer sich, dass er ruhiggestellt werden musste. Die Mehrzahl ihrer Patienten litt ohnehin unter Wahrnehmungsstörungen, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie jemanden bekämen, der verwirrt war und unter Wahnvorstellungen litt. Man konnte die Leute doch nicht einfach wieder auf die Straße schicken und zusehen, wie sie über den Haufen gefahren wurden! Also hatte sie dafür gesorgt, dass drei »Tagesbetten« in den Gruppentherapieräumen aufgestellt wurden.

»Diese Betten sind wichtig für die Sicherheit unserer Patienten«, erklärte sie.

»Erzählen Sie das nicht mir, Lady. Ich mache nur, was der Boss sagt.«

»Frau Doktor, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin Dr. McKenna, die Direktorin dieser Klinik.«

»Tut mir leid, Doc.«

Sie sahen einander in die Augen, und ihr fiel auf, dass sein Blick keineswegs unfreundlich war. »Tragen Sie das Bett wieder hinein, ja?«

»Hören Sie, La... Entschuldigung, Doktor. Ich habe meine Anweisungen.«

»Tja, Ihre Anweisungen werden warten müssen, bis ich der Sache nachgegangen bin. Bitte tragen Sie das Bett wieder zurück. Es wird ja ganz nass. Ich übernehme die Verantwortung.«

Mike Malone gab auf. »Sie müssen hier unterschreiben ...« Sie kritzelte ihre Unterschrift auf das Papier. Erneutes Schulterzucken, gefolgt von einem Lächeln. »Wo sollen wir sie hinbringen?«

»Dorthin, wo Sie sie abgeholt haben. Und zwar alle. Bitte«, fügte sie hinzu. Es war schließlich nicht seine Schuld.

Was für ein Tagesanfang! Sie war so wütend auf Mr. Austin Davey, dass sie sich nicht einmal über die Patienten aufregte, die sich vor dem Gebäude herumdrückten und rauchten wie die Schlote, ohne auf den strömenden Regen zu achten. Vor jeder psychiatrischen Klinik, die sie kannte, standen die Leute und rauchten, denn aus irgendeinem Grund schienen psychisch Kranke rauchen zu müssen. Außerdem war ihr klar, dass kein Argument sie davon abhalten würde. Wenn es den armen geplagten Teufeln also einen Moment der Freude bereitete, warum sollte sie es ihnen verbieten?

Sie folgte den Männern mit den Betten in die Eingangshalle, wo sich bereits ein Zuschauergrüppchen eingefunden hatte, um das Hin und Her der Betten zu verfolgen – unter ihnen auch ihr Vertreter Dr. William Bannerman. Der blonde Mann überragte all die anderen um einige Zentimeter.

»Wer hat diesen Typen erlaubt, die Betten wegzuschleppen?« Sie starrte Bannerman an, der sie mit seinen großen blauen Augen flehend ansah. Er schien alles daran zu setzen, ja nicht anzuecken. »Weiß irgendjemand, was hier los ist?«

Unverständliches Stimmengewirr erhob sich.

»Jemand muss doch mitbekommen haben, dass die Betten davongetragen wurden! Dr. Bannerman?«

»Ich war hinten«, verteidigte er sich eilig. »Die Polizei hat diesen Obdachlosen gebracht ... Bruno ... und er war in einer ziemlich üblen Verfassung. Ich habe ihn mit nach hinten genommen. Als die Arbeiter wissen wollten, ob in diesen Betten jemand schläft, habe ich Nein gesagt. Ich dachte, sie schieben sie nur beiseite, und nicht, dass sie sie wegbringen ... außerdem war ich ziemlich beschäftigt. Bruno war in Kampflaune.«

»Und ich dachte, wenn sie an Sonya vorbeigekommen sind, müssen sie ja eine Erlaubnis haben«, erklärte Naomi Jackson, eine der Schwestern, und verdrehte die Augen, was allgemeines Gelächter auslöste. Sonya Dubroff misstraute jedem und war berüchtigt für ihre beharrlichen, argwöhnischen Fragen. Niemand kam so einfach an ihrem Schalter vorbei. Sonya hätte im Büro des Präsidenten oben in Hillside angerufen und Malone und seine Männer so lange warten lassen, bis sie sicher war, dass es in Ordnung ging. Wie waren sie also an ihr vorbeigekommen?

»Sonya war auf der Toilette«, sagte jemand und beantwortete damit Kates unausgesprochene Frage. Es war sinnlos, sich deshalb jetzt aufzuregen. Es war vorbei, und sie hatte wieder alles im Griff.

»Ab sofort«, erklärte sie, »halten wir jeden Fremden, den wir hier sehen, auf und fragen, was er will. Keine Vermutungen.« Sie warf Bannermann einen Blick zu und ertappte ihn, wie er ins Leere starrte. »Habe ich mich klar ausgedrückt?« Allgemeine Zustimmung. »Okay. Zurück an die Arbeit. Dr. Bannerman, einen Moment noch bitte.«

Für den Bruchteil einer Sekunde sah er ärgerlich aus. Doch dieser Ausdruck war so schnell verflogen, dass sie nicht sicher war, ob sie ihn sich vielleicht nur eingebildet hatte. Sie machte keine Anstalten, zu ihm hinüberzugehen. Er hatte die Angewohnheit, stets zu dicht vor einen zu treten und einen mit seinen großen blauen Augen zu fixieren, ohne die Intimsphäre anderer zu achten. Allgemein galt er als gut aussehend, auch wenn sie es nicht so empfand. Für ihren Geschmack war er ein wenig zu gut gepolstert, und seine runden rosigen Wangen hatten etwas Mädchenhaftes. Er gehörte zu den Menschen, die keine Sexualität zu besitzen schienen. Pillsbury-Männchen, fiel ihr bei seinem Anblick ein. Aber die Schwestern liebten ihn. Er galt als umgänglich und behandelte sie nicht wie Handlanger. Und es hieß, er könne gut mit den Patienten umgehen, was das Wichtigste war.

Er beugte sich vor und hob die Hände in einer flehenden Geste. Große, weiche Hände. »Unschuldig, Kate. Es ist eben einfach passiert. Sonya hat mich gebeten, die Lobby im Auge zu behalten. Aber als Bruno kam ... na ja ... ich hoffe, Sie sind nicht sauer.« Er schenkte ihr ein schmeichelndes Lächeln. »Dr. McKenna, wenn Sie nichts dagegen haben«, hätte sie ihm am liebsten an den Kopf geworfen. Doch dies hier war eine kleine, familiäre Klinik – Dr. Carlyles Worte –, und Bannerman war ihr Stellvertreter. Welche Rolle spielte es also, wie er sie nannte?

»Ich bin nicht sauer, und ich verstehe auch, dass Ihnen der Patient wichtiger war, aber halten Sie es wirklich für klug, die Eingangshalle zu verlassen, ohne dass ein anderer Mitarbeiter aufpasst?«

»Haben Sie Bruno jemals erlebt, wenn er schlechte Laune hat? In diesem Moment konnte ich nur über eines nachdenken – dass er mich nicht umbringt.« Er musterte sie bekümmert. »Wir haben einfach nicht genug Personal.«

»Dr. Bannerman –« Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, dass er ohnehin vom Thema ablenken würde. Niemals würde er einen Fehler zugeben. Das sprach nicht für ihn, vor allem nicht, wenn er weiterhin für sie arbeiten wollte.

»Und was ich Ihnen noch sagen wollte. Das Ativan ist fast aufgebraucht. Und mit Haldol und Demerol sind wir auch knapp. Außerdem ist mein Aspirinvorrat verschwunden, was ziemlich merkwürdig ist, weil wir nicht besonders viel davon brauchen.« Er holte tief Luft. »Ich habe eine Liste zusammengestellt, die ich Ihnen geben wollte. Ich glaube, jemand klaut Medikamente aus dem Schrank. Obwohl er immer verschlossen sein sollte.«

»Einer der Mitarbeiter?« Nelsons Worte kamen ihr wieder in den Sinn.

»Ich sage es nicht gern, aber wer sollte es sonst sein? Ich bringe Ihnen die Liste im Lauf des Vormittags vorbei. Und ich halte den Bestand weiter im Auge.«

»Danke, das könnte helfen. Aber könnten wir jetzt wieder zu den drei Betten zurückkommen, die weggetragen werden konnten, ohne dass jemand nach dem Grund gefragt hat?«

Bannerman holte tief Luft. »Okay. Als ich Bruno in einen der Sessel in der Lobby verfrachtet hatte und wieder zurückkam, läutete das Telefon ... Es war ein privater Anruf, den ich aber annehmen musste. Mein Vater. Der richtige Dr. Bannerman.« Er zuckte entschuldigend die Schultern.

»Ihr Vater ist auch Arzt?« Sie fragte sich, warum ihr das nicht aufgefallen war, als sie sich seine Personalakte angesehen hatte.

»Leiter der Herzchirurgie am Cadman Memorial in New York ... Brooklyn.«

»Und Sie wollten nicht in seine Fußstapfen als Chirurg treten?«

»Ich sehe nicht gern Blut. Und um fünf Uhr morgens zu arbeiten anfangen ... bitte

»Ja«, meinte sie unverbindlich. Hatte nicht kürzlich jemand das Cadman Memorial erwähnt? In diesem Moment fiel es ihr wieder ein. Marian. Gestern Abend. »Das Cadman Memorial. Unser neuer Präsident kommt von dort. Austin Davey. Kennen Sie ihn?«

»Mein Vater ist ein großer Bewunderer von ihm«, antwortete er trocken. »Und ich vermute, es beruht auf Gegenseitigkeit. Die beiden spielen zusammen Tennis.«

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Sie ging jede Wette ein, dass er Austin Davey nicht leiden konnte. Ebenso wenig wie seinen Vater. »Tja«, meinte sie mit einem Blick auf ihre Uhr, ohne zu sehen, was sie anzeigte. »Zeit anzufangen. Die Patienten warten.« Sie wandte sich um und trat in den Korridor.

»Das mit den Betten tut mir leid, Kate«, rief er ihr nach. »Aber ich konnte es ja nicht wissen.« Sie winkte ihm zu, ohne sich umzudrehen.

Als sie nach rechts in den Haupttrakt des Gebäudes einbog, dachte sie zum x-ten Mal darüber nach, wie jämmerlich man beim Versuch, dieses Gebäude in ein Krankenhaus zu verwandeln, versagt hatte. Das Haus war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sportstätte gebaut worden und besaß all die großartigen architektonischen Besonderheiten dieser Ära – hohe Decken, die es unmöglich machten, die Räume anständig zu heizen, Marmorböden, die an Regentagen wie diesem rutschig wurden, üppig verzierte Geländer und Mauervorsprünge, die den Staub wie ein Magnet anzogen. Beim Betreten bot sich ein höchst beeindruckender Anblick: Über eine breite Treppe gelangte man zu der riesigen, hölzernen Doppeltür, flankiert von hohen, verzierten Säulen, hinter denen sich die Eingangshalle öffnete. Der Eingangsbereich war ebenfalls mit symmetrisch angeordneten Säulen ausgestattet und so hoch, dass die Schritte im Raum hallten. Inmitten all der altmodischen Pracht waren moderne fluoreszierende Leuchten installiert und Gipsfaserwände eingezogen worden. Sehr schizoid, dachte sie. Und hässlich. Man hätte das Gebäude zweifellos sinnvoller gestalten können, auch wenn die Zeit gedrängt hatte.

Das Gebäude bestand aus zwei Flügeln. Der größere der beiden befand sich auf der rechten Seite des Eingangs und beherbergte die Büros der Ärzte und Schwestern, Waschräume und diverse Behandlungsräume und außerdem die Vorratsschränke für Medikamente und sonstige Utensilien. Die Therapie- und Konferenzräume befanden sich im ersten Stock. Das Direktionsbüro – ihr eigenes – war im linken Flügel untergebracht. Es bestand aus mehreren Räumen, die sie eigentlich nicht brauchte, sowie einem großen Konferenzzimmer und zwei oder drei Büros für die Buchhaltung und andere Verwaltungsmitarbeiter. Dies war Donna Silvestris Reich. Im ersten Stock gab es ein Labyrinth aus weiteren Räumen. Einer davon war als eine Art Aufenthaltsraum mit einer großen Kaffeemaschine, einer Kochplatte und mehreren, mit Vinyl bezogenen Stühlen eingerichtet worden. Die anderen dienten als Büros für die Case Manager. Kate hielt es für unnötig, das Direktionsbüro von den anderen zu trennen, während ihre Mitarbeiter alle zusammen im anderen Flügel untergebracht waren. Sie verabscheute es, die Leute ständig in ihren Flügel zu zitieren, mit dem Resultat, dass sie stattdessen ständig hin und her laufen musste, was ihr ebenso wenig gefiel. Außerdem erschwerte ihr dieses Arrangement, die Abläufe im Haus im Auge zu behalten.

Ein großer, halbmondförmiger Tisch aus poliertem Holz – wahrscheinlich eines der wenigen ursprünglichen Möbelstücke hier – diente als Empfangstisch. Er war umgeben von niedrigen Metallaktenschränken, neben denen sich die Telefonzentrale befand. Dahinter waren bonbonfarbene Vinylsofas und Sessel zu einem halben Dutzend Sitzgruppen zusammengestellt, von denen jede mit einem eigenen gestreiften Teppichboden ausgestattet war. Kate fand es eher traurig, den Wartebereich als eine Reihe von Wohnzimmern erscheinen zu lassen, aber man hatte ihr versichert, dies sei ein gänzlich neuer Ansatz, von dem die Patienten begeistert seien. Vielleicht stimmte das, vielleicht auch nicht. Die Mehrzahl der Patienten hier hatte vermutlich ohnehin keine Augen für ihre Umgebung.

Heute hing ein feuchter, dumpfer Geruch in der Halle, und trotz der großzügigen Deckenbeleuchtung wirkte alles grau und düster. Vielleicht lag es aber auch nur an ihrer getrübten Stimmung.

Es warteten bereits fünf oder sechs Patienten ... nein, keine Patienten, wie sie in einem der Memos aus der Anstalt letzte Woche gelesen hatte. Konsumenten. So sollten Patienten neuerdings bezeichnet werden. Als verfügte die Klinik über Regale, in denen sich Kisten mit den modernsten Therapien und Gläser mit Medikamenten türmten. Vor nicht allzu langer Zeit waren die Patienten noch Kunden genannt worden. Ständig dieses Theater um die korrekte Bezeichnung! Menschen, um die Ärzte sich kümmerten, hießen nun einmal Patienten. Was war so verkehrt daran? Oh Mann, dachte sie. Ich habe wieder einmal bewiesen, dass ich kein Team-Mensch bin. Dafür war sie eine verdammt gute Psychiaterin. Was psychische Erkrankungen betraf, hatte sie weiß Gott genug Erfahrung. Es war sehr angenehm, der Leiter der Klinik zu sein, und sie hoffte, dass ihr genügend Zeit bliebe, um auch Patienten zu behandeln. Dr. Carlyle hatte sie gewarnt, die administrativen Arbeiten könnten ihre gesamte Zeit in Anspruch nehmen. »Aber dafür gibt es so manche Entschädigung, meine Liebe.«

Sie ließ den Blick durch den Wartebereich schweifen. Inzwischen kannte sie die meisten Patienten, die regelmäßig kamen, aber es gab auch immer Neulinge. Psychiatrie-Patienten machten sich entweder extrem rar, so wie Nelson, oder sie tauchten ständig auf. Darlene Ormond gehörte zu Letzteren. Sie kauerte vornübergebeugt auf einem der Stühle, rauchte – was verboten war, aber Darlene scherte sich nicht um Verbote –, wippte rhythmisch mit dem Fuß und murmelte leise vor sich hin oder stieß entnervte Seufzer aus. Im nächsten Moment sprang sie auf und ging ruhelos im Raum auf und ab. Oder sie tanzte zur Musik in ihrem Kopf. Darlene konnte höchst streitlustig und aufbrausend sein – wenn sie nicht gerade völlig apathisch war. Sie litt unter einer bipolaren Störung, was sie jedoch nicht wahrhaben wollte – mit dem Ergebnis, dass sie ihre Medikamente nur selten einnahm, weil sie der Meinung war, sie seien nicht richtig für sie.

Und dann war da noch Gilda, eine weitere Stammpatientin. Gilda war schätzungsweise in den Fünfzigern, vielleicht auch älter, und hatte langes, zerzaustes graues Haar. Sie war schizophren und hielt sich die meiste Zeit für Rita Hayworth, die die Rolle der Gilda im gleichnamigen Hollywood-Klassiker spielte. Gilda nahm ihre Medikamente nur dann, wenn jemand vor ihr stand und dafür sorgte, dass sie es tat. Ihr richtiger Name war entweder Rita Navarone oder Rita Hicks, vielleicht auch beides. Sie hatte eine Sozialversicherungskarte bei sich, die vor vielen Jahren auf eine gewisse Rita Hicks aus New York ausgestellt worden war, doch als sie das erste Mal als psychiatrische Patientin registriert worden war, hatte sie den Namen Rita Navarone angegeben. Vielleicht war die verwahrloste alte Frau einmal ein hübsches Mädchen gewesen. Vielleicht hatte sie einen Ehemann gehabt. Oder war im Showgeschäft tätig. Sie erzählte jedes Mal eine andere Geschichte, wenn sie mit ihr sprachen.

Im Augenblick stand sie mit dem Gesicht zur Wand im hinteren Teil des Raums, gestikulierte und redete mit leiser, monotoner Stimme vor sich hin. Seit kurzem hatten ihre Wahrnehmungsstörungen beträchtlich zugenommen. Letzte Woche hatte sie Vera, ihrer behandelnden Ärztin, erzählt, ihre Stimmen seien zurückgekehrt. Heute hatte sie sich von den anderen Abwesenden im Raum abgewandt, in der fälschlichen Annahme, dass niemand ihr seltsames Verhalten bemerkte.

Neben ihr saß ein Mädchen, das Kate noch nie vorher gesehen hatte. Sie war sehr jung, hochschwanger und starrte ins Leere. Ihr Haar sah aus, als wäre es seit Wochen nicht mehr gewaschen worden. Und allem Anschein nach hatte sie auch kaum etwas gegessen. Kate fragte sich, wie sie wohl hergekommen war. Hatte sie jemand hier abgeliefert? Aber es war niemand zu sehen, keine Begleitperson. Sie würde Vera Ilitch bitten, sich um sie zu kümmern. Kate setzte ihren Rundgang durch den Wartebereich fort, um zu sehen, wer Hilfe brauchte, und um nach vertrauten Gesichtern Ausschau zu halten. Insbesondere nach Nelson, obwohl sie wusste, dass er so gut wie nie vorbeikam.

Auf einem der Sofas hatte sich ein junger Mann zusammengekauert, den sie schon einmal gesehen hatte. Aber nicht hier. Wo sonst? Wahrscheinlich auf der Straße, wo er sich ein Bett aus einem Karton gebaut hatte. Er schlief. Der Regen hatte ihn wahrscheinlich hereingetrieben. Sie würden ihn sich ansehen und herausfinden, was sie für ihn tun könnten. Dr. Bannerman würde das übernehmen. Und Pete war auch gekommen. Pete war mittleren Alters ... vielleicht auch jünger. Es war schwer zu sagen bei psychisch Kranken, da die Krankheit sie auszuzehren und schrumpfen zu lassen schien. Pete war zaundürr und zappelig. Er saß auf der äußersten Kante eines Stuhls, während seine Augen ruhelos durch den Raum schossen und sein Fuß nervös wippte. Er weigerte sich, Kate in die Augen zu sehen. Das tat er niemals. Sie wünschte, er könnte ihr Patient sein. Vielleicht gelänge es ihr ja, zu ihm durchzudringen und ihn dazu zu bewegen, sich ein wenig mit ihr zu unterhalten. Aber ihr Terminkalender ließ es im Moment nicht zu, sich um mehr als die allerneuesten Zugänge zu kümmern. Noch nicht. Sie beendete ihre Runde. Ziemlich viele Patienten an einem so abscheulichen Tag! Aber kein Nelson.

Wie gewohnt erledigte Sonya mehrere Aufgaben auf einmal. Sie sprach leise in den Telefonhörer, drückte irgendwelche Knöpfe, um Gespräche zu verbinden, begrüßte Besucher, kümmerte sich um irgendwelche Unterlagen, gab Anweisungen und redete mit Patienten. Dennoch erblickte sie Kate sofort.

»Dr. McKenna!«, rief sie und klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Einen Moment, bitte.« Ihre Stimme klang freundlich, trotzdem signalisierten ihre Augen, dass Kate sich beeilen solle. Sonya war eine ausgeschlafene und stets wachsame Person. Kate ging auf ihren Schreibtisch zu, doch Gilda schien den Namen ihrer Lieblingsärztin, Kate, gehört zu haben. »Doc! Hey, Doc«, rief sie und schlitterte in ihren zerschlissenen Hausschuhen, die sie sommers wie winters, bei Regen oder Sonnenschein trug, über den Fußboden. Die Verbände, mit denen sie erst wenige Tage zuvor die offenen Geschwüre an ihren Beinen versorgt hatten, waren völlig verschmutzt. Gilda schlief auf der Straße. Ihr Lieblingsplatz war das große, warme Lüftungsgitter vor dem Sears-Kaufhaus. Sie sieht irgendwie dicker aus, fand Kate. Und dann dämmerte es ihr. Gilda trug mindestens drei Schichten aus Röcken, Hosen und Pullovern und darüber eine vor Schmutz starrende, riesige alte Männerjacke aus Tweed.

»Guten Morgen, Gilda. Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und gab Sonya mit einer kurzen Geste zu verstehen, sie sei gleich bei ihr. Als hätte Sonya diesen Hinweis gebraucht.

»Gott sei Dank sind Sie da, Doc. Ich habe solchen Hunger. Ich hab seit Dienstag nichts mehr gegessen.«

»Heute ist Dienstag, Gilda.«

»Dann eben ... seit Sonntag.« Abrupt riss sie den Kopf herum. »Still. Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt!«, zischte sie.

»Wir besorgen Ihnen etwas. Zu wem kommen Sie heute?«

»Zu Shelby, diesem reizenden Mädchen. Ich glaube, sie hat mich gestern nicht gefunden.« Shelby Cohen war ihre Case Managerin. Die Case Manager mussten sich häufig auf die Suche nach ihren Schützlingen machen, dafür sorgen, dass sie ihre Medikamente nahmen und in die Obdachlosenheime gingen, in denen sie angemeldet waren. Die Mehrzahl der Kirchen und Synagogen betrieben Heime, was gut war, da die Krankenhausbetten für Psychiatriepatienten mit alarmierender Geschwindigkeit reduziert wurden. Die Entfernung der Betten an diesem Morgen war lediglich eine andere Art gewesen, den psychisch Kranken »Los, verschwindet« zu sagen. Und was dachten die Politiker, wohin all ihre Wähler verschwanden? Nach Nimmerland mit Peter Pan? Und dann beschwerten sie sich über den »widerlichen Anblick auf unseren Straßen und Gehsteigen«, wie irgendjemand – sprich, Barry – es letzte Woche im Leitartikel des hiesigen Käseblatts bezeichnet hatte. Widerlich. Gäbe es keine privaten Heime, würden die Obdachlosen auf den Straßen sterben. Das wäre ein widerlicher Anblick!

Gilda ging natürlich niemals in ein Obdachlosenheim. Sie war sicher, dass die anderen Frauen dort AIDS oder Läuse oder sogar beides hatten. Shelby zufolge zog Gilda es vor, im Freien zu schlafen, wie schlecht das Wetter auch sein mochte. Es war ein Wunder, dass sie bereit war, überhaupt einen Fuß in die Ambulanzklinik zu setzen. Sie mochte keine, wie sie es nannte, Menschenmassen – für ihre Begriffe alles, was über zwei Personen hinausging.

»Weiß Shelby, dass Sie hier sind?«

»Zehn Uhr, hat sie gesagt. Zehn Uhr.«

»Tja, es ist erst kurz nach neun, Gilda. Warum bitten Sie Sonya nicht, Shelby anzurufen?«

»Sonya? Wer ist Sonya?«

»Die Empfangsdame.«

Gildas Stimme verebbte zu einem Flüstern, und sie sah sich hektisch um. »Mit der rede ich nicht. Sie ist eine russische Spionin, Doc.«

»Das glaube ich nicht. Aber dann lassen Sie mich Shelby anrufen.«

»Nein. Ich komme später noch mal vorbei. Hier drin wird es sowieso zu voll.«

»Nein, Gilda, warten Sie. Ich bringe Ihnen eine Tasse Kaffee und ein Sandwich. Draußen regnet es in Strömen.«

»Ich komme schon klar, ich kann ja zwischen den Regentropfen durchgehen.« Es war erstaunlich, wie schnell Gilda sich trotz ihrer Körperfülle und ihrer Hausschuhe bewegen konnte. Kate überlegte, ob sie einen der Wachmänner rufen sollte, um sie abzufangen, doch aus Erfahrung wusste sie, dass Gilda sich wie ein wildes Tier gebärdete, die Krallen ausfuhr und Gift und Galle spie, wenn sie in die Ecke gedrängt wurde. Genau das brauchten sie noch. Dann könnte Kate den Leitartikel gleich selbst schreiben. Ja, warum eigentlich keinen Leitartikel schreiben? Oder wenigstens einen Brief an den Herausgeber. Warum warten, bis er angriff? Sie würde sich daran setzen, sobald sie ihre Vormittagsarbeit erledigt hatte. Sie fühlte sich sofort besser, als hätte sie etwas ganz Besonderes erreicht.

Also. Was stand an? Das schwangere Mädchen saß immer noch da und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Vera anpiepsen, dachte Kate. Und da war noch etwas ... ach ja, Sonya, die ihr mit Blicken zu verstehen gab, dass irgendetwas im Busch war. Eilig ging sie zu ihr hinüber.

»Sonya. Was ist los?«

Die Empfangsdame beugte sich vor. »Er ist vor ein paar Minuten in Ihr Büro gegangen«, sagte sie leise.

»Wer ist in mein Büro gegangen?«

»Der neue... uh-oh.« Das rote Alarmlämpchen begann zu leuchten. Ärger. »Dr. William«, erklärte Sonya knapp. »Darlene ist gerade zu ihm reingegangen.«

»Da drüben sitzt eine Neue«, meinte Kate und schlug den Weg zu ihrem Büro ein. »Nehmen Sie sie auf, ja? Und sorgen Sie dafür, dass Dr. Ilitch sie sich ansieht.« Der neue uh-oh würde warten müssen.

Sowie sie um die Ecke bog, hörte sie Darlenes schrille Stimme. »Scheiß auf Sie, Dr. Bannerman! Ich nehm das Gift nicht! Sie wollen mich nur umbringen, weil ich eine Freundin von Yassir Arafat bin! Aber ich krieg Sie schon!« Kate verfiel in Trab.

William Bannerman war ziemlich gut gebaut, aber Darlene war eine regelrechte Naturgewalt. Sie war auf seinen Schreibtisch geklettert und hatte sich auf ihn gestürzt, während er versuchte, sie von sich zu schieben. Waren das seine Hände, die um ihren Hals lagen?

»Was geht hier vor?«, fragte Kate mit lauter, offizieller Stimme. Erschrocken fuhren die beiden Kontrahenten zusammen und sahen sie an. Darlenes Gesicht war verzerrt, und sie hatte die Zähne gebleckt. Ebenso wie William Bannerman. In derselben Sekunde war der verbissene Ausdruck von ihren Gesichtern verschwunden.

»Ich will nur meine Medizin, Dr. McKenna«, jammerte Darlene. »Die richtige Medizin für mich. Sie wissen doch, dass ich Risperdal kriege. Geben Sie mir einfach das Risperdal, dann ist alles in Ordnung.« Ohne das geringste Anzeichen von Verlegenheit kletterte sie mit dem Hintern voran von Dr. Bannermans Schreibtisch und ließ sich auf den Boden fallen.

»Darlene«, sagte Kate. »Sie wissen doch, dass Sie kein Risperdal bekommen. Das würde Sie nur krank machen.«

»Aber ich brauche es. Ich bin schizophren, alle wissen das. Aber der da«, fuhr sie mit einer knappen Kopfbewegung in Bannermans Richtung fort, »behauptet, ich sei bipolar. Und was das heißt, wissen Sie ja wohl! Manisch-depressiv! Der spinnt doch! Ich bin nicht irre! Ich bin keine durchgeknallte Irre, die den Mond anheult!«

»Vielleicht sollten Sie das mit Ihrem Case Manager besprechen, Darlene. Franca weiß bestimmt genau, was Sie brauchen, oder nicht?«

»Franca! Sie hasst mich! Sie hasst mich, und das wissen Sie ganz genau, Dr. McKenna! Sie ist diejenige, die Ihnen erzählt hat, dass ich nicht schizophren bin.« Ihre Stimme brach, und sie sah sich um, als vermute sie Spione. »Sie verbreitet überall Lügen über mich!«

»Ich glaube, Sie wissen selbst, dass Sie nicht schizophren sind, Darlene. Wenn Sie ehrlich sind, verabscheuen Sie es sogar, schizophren zu sein«, erklärte Kate mit sanfter Stimme.

»Entschuldigen Sie mal, ich werde doch wohl wissen, wer ich bin und was ich bin!«

»Welche Medikation wollte Dr. Bannerman Ihnen geben?«

»Lithium! Können Sie das fassen? Ich will mein Risperdal! Wenn ich es nicht kriege, wende ich mich an die Behörden.«

»Sie haben noch nie Risperdal bekommen, Darlene. Ich habe eine vollständige Übersicht über all Ihre Medikamente. Wollen Sie sie mal sehen?« Bannerman schob ihr eine dicke Akte zu. Seine Stimme war weich wie geschlagene Sahne. Man würde nie darauf kommen, dass seine Hände sich noch vor wenigen Minuten um ihre Kehle geschlossen hatten. So war es doch? Kate war sich nicht ganz sicher. »Sie werden sehen ...«

»Ich werde Sie in der Hölle wiedersehen, Sie so genannter Doktor. Dort und nirgendwo anders! Da werden wir gemeinsam schmoren!« Darlene fuhr herum und machte Anstalten, das Büro zu verlassen, doch Kate vertrat ihr den Weg und streckte die Hand aus. Darlene schlug sie beiseite und drängte sich zur Tür hinaus, wobei sie jedes Schimpfwort hinausschrie, das ihr gerade in den Sinn kam. Und ihr Repertoire war beeindruckend.

Kate und Bannerman tauschten einen Blick. »Franca hat mich gewarnt«, sagte er seufzend. »Darlenes letzte... Aktion ist, dass sie behauptet, es ginge ihr bestimmt besser, wenn wir ihr nur ihr Risperdal geben würden. Wie die nur auf diese Ideen kommen –«

»William, ich bitte Sie. Das wissen Sie doch. Sie entstehen in ihren armen kranken Gehirnen.« Sie hielt inne und musterte ihn. Inzwischen schien er nicht mehr im Mindesten aufgebracht zu sein. Vielleicht hatte sie ihr Eindruck getrogen ... Aber sie würde ihn im Auge behalten. »Wir werden Franca davon erzählen müssen«, sagte sie. »Wollen Sie sie anrufen?«

»Von mir aus.« Bannerman hob den Hörer ab und wählte eine Durchwahl. Einen Moment später hatte er Franca L’Arezzo am Apparat. »Ja, das Übliche«, sagte er verärgert. »Irgendwelches Gefasel, dass sie ihre Medikamente nicht nehmen will ... ja, ich weiß, ich weiß. Aber Sie müssen sie aufstöbern. Ich möchte sie heute Nachmittag in einer Gruppensitzung haben, und zwar in einem halbwegs normalen Zustand. Ja, Ihnen auch.« Mit einem bellenden Lachen legte er auf und presste die Lippen aufeinander.

Kate konnte sich durchaus vorstellen, dass Franca kein Blatt vor den Mund genommen hatte. Franca ließ sich »von keinem irgendwelchen Scheiß erzählen«, wie sie es gern ausdrückte. Sie war eine stämmige dunkelhäutige Frau mit dichten, schwarzen Brauen und einem Blick, der Wasser zum Kochen bringen konnte. Alle hier fürchteten sich ein klein wenig vor ihr, denn Franca befand sich auf einer Mission und war wild entschlossen, psychische Erkrankungen auf diesem Planeten auszurotten. Und sie ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie niemand davon abhalten würde. Wäre sie nicht ein solches Arbeitstier und bereit, sämtliche schwierigen Fälle zu übernehmen, wäre sie wahrscheinlich längst gefeuert worden.

Franca war Mutter eines bemerkenswert begabten Sohnes, der mit 14 oder 15 Jahren an schwerer Schizophrenie erkrankt war. Damals hatte Franca all ihre Zeit darauf verwendet, eine geeignete Behandlungsmöglichkeit für ihn zu finden, und war von Arzt zu Arzt gelaufen, von Krankenhaus zu Krankenhaus, von einer Kirche zur nächsten. Anthony hatte sich gegen all ihre Bemühungen gesträubt. Er sei nicht krank, ihm fehle nichts. Sie sei verrückt und in Wahrheit nicht seine Mutter, sondern eine Abgesandte des Teufels. Francas Ehemann zog sich immer mehr zurück. Anfangs gelang es ihm nicht, über seinen Sohn zu reden. Dann konnte er nicht länger mit ihm reden. Schließlich sah er ihn nicht einmal mehr an. Und dann, eines Morgens, verließ er das Haus und kam nie wieder zurück.

Franca hielt durch, selbst als Anthony das Wohnzimmer in Brand steckte, von zu Hause weglief, all ihre Kreditkarten mitnahm und hemmungslos Gebrauch davon machte. Sie hielt durch, bis er sie eines Tages beschuldigte, sie vergifte sein Essen, und ihr an den Kopf warf, was er in die Finger bekam – Töpfe, Pfannen, Silberbesteck, Messer, Teller, Zimmerpflanzen und sogar die Küchenstühle. Er brach ihr zwei Rippen, schnitt sie in die Wange und schlug ihr ein blaues Auge. An diesem Tag, erzählte sie Kate, hatte sie die Hoffnung aufgegeben, dass Anthony wieder gesund werden würde. Sie hatte die Polizei gerufen, die ihn mitgenommen hatte, während er die ganze Zeit gebrüllt und gedroht hatte, zurückzukommen und sie umzubringen. Anthony war noch immer »auf dem Berg«, wie die Leute in Waterfield sagten, in der geschlossenen Abteilung der Anstalt. Mittlerweile war er 32.

Als Anthony für immer ins Hillside Hospital gebracht worden war, hatte Franca einen Schwur vor Gott geleistet: Sie würde ihren Abschluss machen und alles daran setzen, dass die psychisch Kranken wieder gesund wurden. Und sie wollte verdammt sein, wenn irgendjemand sie davon abhielt. Sie war die beste Case Managerin von allen. Aber selbst der ineffizienteste von ihnen arbeitete wie ein Pferd und fühlte sich für das Wohl der ihm anvertrauten Patienten verantwortlich. Eines stand fest: Franca würde ihre Patientin finden, und Darlene würde ihre Medikamente bekommen. Wie alle anderen hatte auch Darlene ein klein wenig Angst vor Franca. Ganz so verrückt ist sie doch nicht, dachte Kate und gestattete sich ein Lächeln.

»Ja, Franca ist ... schwierig«, sagte sie zu Bannerman. »Manchmal ist sie unmöglich. Aber sie ist unglaublich gut.«

»Ja, ja, schon okay. Sie kann sagen, was sie will, mir macht das nichts aus.« Schulterzucken. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich habe eine Gruppensitzung. Konfliktlösung.« Er lachte auf. »Auch wenn ich nicht weiß, warum wir uns die Mühe überhaupt machen.«

»Wir machen uns die Mühe, weil wir Ärzte sind und sie Patienten«, erklärte Kate zuckersüß.

»Natürlich. Aber meinten Sie nicht Konsumenten

»Ich ertrage dieses Wort nicht. Es nimmt ihnen ihre Menschlichkeit. Mein Gott, sind sie mit ihrer Krankheit nicht schon genug gestraft?«

»Wir haben sie schließlich nicht krank gemacht.« Eine typische Dr.-Will-Antwort. Es gab nichts, was in seinen Verantwortungsbereich fiel oder seine Schuld war. Vor ein paar Wochen hatte sie ihn zu sich gerufen und ihn gebeten, ihr seine kryptischen Anweisungen an die Schwestern ein wenig genauer zu erläutern. Wie üblich hatte er sie mit seinen blauen Augen angestarrt. »Wenn Sie sie nicht verstehen, wieso kommen Sie dann nicht zu mir und fragen mich«, hatte er erwidert. Nein, Doktor, hätte sie am liebsten erwidert. Wenn andere ständig Schwierigkeiten haben, Sie zu verstehen, sollten Sie sich deutlicher ausdrücken. Warum hatte sie das nicht gesagt? Warum hatte sie überhaupt nichts gesagt? Irgendetwas? Sonst war sie doch auch nicht auf den Mund gefallen. Andererseits war sie noch nie irgendwo der Boss gewesen. Deshalb war es wohl klüger, den Ball ein wenig flach zu halten.

»Tun Sie einfach Ihr Bestes, Doktor. Und legen Sie mir eine Aufnahmekopie der Sitzung so schnell wie möglich auf den Tisch, okay?« Das war ein weiterer wunder Punkt. Alles im Ambulanzzentrum wurde aufgezeichnet. Die Patienten wussten das, es war absolut legal, aber Kate gefiel es trotzdem nicht. Auf diese Weise lagen die Worte stets auf der Lauer, bereit, über die Lippen zu kommen und zuzubeißen, wenn man am wenigsten damit rechnete.

Sie durchquerte den Eingangsbereich und ließ ihren Blick über die Sitzgelegenheiten schweifen. Mitch Washington, einer der Case Manager, saß neben dem schwangeren Mädchen und redete mit ihr. Sie sah immer noch ziemlich mitgenommen aus, hörte aber zu und nickte von Zeit zu Zeit, wenn er etwas sagte. Der schlafende junge Mann hatte sich nicht gerührt ... er konnte warten. Sie würde ihn schlafen lassen. Vielleicht war er die ganze Nacht durch die Straßen gewandert. Zwei oder drei weitere Personen saßen zusammengesunken auf den Stühlen. Wahrscheinlich warteten sie auf den Beginn einer Gruppentherapie oder Kursstunde.

Eine Bewegung neben Sonyas Schreibtisch zog ihre Aufmerksamkeit an. Paulie DeSanto, ein ziemlich neuer Patient im Teenageralter, ging sichtlich erregt im Raum auf und ab, während sein Vater versuchte, ihn zum Hinsetzen zu bewegen.

»Langsam, Paulie. Weißt du noch, worüber wir vorhin geredet haben? Langsam, wie John Paine.«

»Nicht John Paine, du Scheißer. Kriegst du überhaupt nichts richtig hin? John WAYNE.« Die Stimme des Jungen war hoch und schrill, und Kate sah, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte. Eilig ging sie zu den beiden hinüber, um den Jungen zu beruhigen. Zwei rechnen miteinander ab, murmelte sie vor sich hin, bemüht, der Situation etwas Erheiterndes abzugewinnen, obwohl sie eigentlich ein wenig nervös war. Sie berührte ihre Wange an der Stelle, wo sie ein zorniger Patient vergangene Woche mit seinem Handrücken verletzt hatte, der einen Ring mit einem riesigen Totenkopf am Finger trug. Der Kratzer war fast vollständig verblasst, die Erinnerung jedoch nicht.

»Paulie«, rief sie, als begrüßte sie einen alten Freund. »Wie schön, dich heute Morgen hier zu sehen.«

Erschrocken unterbrach der Junge sein Gezeter und drehte sich um. »Ich bin nicht verrückt«, sagte er. »Ich bin krank, das ist alles.«

»Stimmt. Also, was ist das Problem, erzähl’s mir.«

»Das PROBLEM«, erklärte er, wobei seine Stimme erneut anschwoll, »ist, dass mein verrückter alter Herr mich ständig in dieses IRRENHAUS schleppt.«

»Das hier ist keine Anstalt, Paulie, sondern eine ambulante Klinik. Das ist ein großer Unterschied. Bist du wegen einer Gruppentherapie hier? Oder zum Kunstunterricht?«

Er dachte nach. »Pop, soll ich –«, fuhr er in völlig verändertem Tonfall fort.

Ein breites Lächeln erhellte seine verkniffenen Züge. »Hey, sieh mal, wer da ist.«

Luke Montour, der medizinische Assistent, kam auf sie zu und begrüßte sie lächelnd. »Morgen, Paulie«, meinte er gedehnt und schlug mit dem Jungen ab. »Mr. DeSanto, Dr. McKenna«, sagte er knapp. »Ich dachte doch, ich hätte deine Stimme gehört, Mann. Du bist hier, weil du deine Medikamente gecheckt haben willst, hab ich Recht? Klar. Ich kümmere mich darum. Lass mal sehen, ich glaube, du bist heute bei der Gruppe in Raum B ... cool. Tja, du kommst genau richtig, Paulie. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden.« Er sprach in einem weichen, cowboyartigen Tonfall, den er bei ganz bestimmten Patienten einsetzte, um sie zu beruhigen. Bei Paulie DeSanto funktionierte er jedenfalls ganz hervorragend. Der ließ sich widerstandslos von Luke in Raum B bringen, wo das Seminar zur Aggressionsbewältigung stattfand – das konnte er gut gebrauchen.

Kate sah den beiden nach. Sie war unendlich dankbar für Luke Montours Anwesenheit. Er war umgänglich und ließ sich nie aus der Ruhe bringen. Seine Lässigkeit rief manchmal den Anschein hervor, als schlafe er halb. Aber das täuschte. Er war hellwach und bekam alles mit. Sie ertappte sich dabei, dass sie immer wieder den Kontakt zu ihm suchte, manchmal auch nur, um ein wenig zu plaudern. Aber sie sollte vorsichtiger sein. Mitunter gingen sie auf einen Drink ins The Elephant, die Lieblingskneipe vieler Krankenhausmitarbeiter ein Stück den Block hinunter. Die neugierigen Blicke und das Flüstern hinter vorgehaltener Hand waren ihr nicht entgangen. Kleinstadt!

Sie spürte eine Hand auf ihrem Arm und wandte sich um. »Was ist mit ihm passiert, Doc? Was ist mit meinem Sohn? Vor zwei Jahren war er noch ein Einserkandidat in der Schule und hatte das Stipendium für die Wesleyan so gut wie in der Tasche. Die Wesleyan, Dr. McKenna! Und sehen Sie ihn sich heute an!«, sagte Mr. DeSanto.

»Es ist sehr schmerzlich, mit anzusehen, wie jemand, den man liebt, psychisch erkrankt. Glauben Sie mir, Mr. DeSanto, ich weiß es nur zu gut. Es frisst das Leben dieses kranken Menschen auf, und es frisst auch das Leben der Angehörigen auf.«

«Wird es ihm denn irgendwann wieder besser gehen – das ist es, was ich wissen will. Wird er jemals wieder so werden wie vorher?«

»Wenn Sie dafür sorgen, dass er seine Medikamente regelmäßig nimmt, Mr. DeSanto, kann er ein ganz normales Leben führen.« Sie wusste, dass das nicht die Antwort auf seine Frage war, doch mehr konnte sie nicht für ihn tun.

»So wie er vorher war? Wird mein Junge jemals aufs College gehen können?«

»Könnte sein. Es gibt hervorragende neue Medikamente ...«

»Sie weichen mir aus, Doktor. Wie alle Ärzte.«

»Wir weichen Ihnen nicht aus, Mr. DeSanto. Die Wahrheit ist, dass wir bei psychischen Erkrankungen keine hundertprozentigen Voraussagen machen können. Wir können nur unser Bestes geben.«

»Was ist Ihr Bestes, Doktor? Wieso sagen Sie mir nicht einfach die Wahrheit? Es gibt kein Bestes, es gibt überhaupt nichts. Er ist verloren. Wieso können Sie es nicht einfach aussprechen?« Die Stimme des Mannes brach. Er wandte den Kopf und ging mit einer wegwerfenden Handbewegung eilig davon.

Sie wünschte, sie könnte ein Wunder für ihn tun. Sie würde mit Paulies Betreuer und mit Luke sprechen, und vielleicht ließ sich sein Vater überreden, an einem Gruppenseminar teilzunehmen. Vielleicht war Wenn der Geist eines geliebten Menschen erkrankt das Richtige für ihn. Manchmal half es, sein Leid mit anderen zu teilen. Das Traurige war, dass er Recht hatte. Den Sohn, den er gekannt hatte und auf den er so stolz gewesen war, gab es nicht mehr. Die Psychose hatte ihn für immer entfernt.

In diesem Augenblick fiel ihr Sonyas Bemerkung ein, jemand sei in ihr Büro gegangen. Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch rief ihr die Empfangsdame noch etwas zu, doch Kate winkte nur zurück, ohne stehen zu bleiben. »Ich weiß, ich weiß.«

Die Tür war geschlossen. Seltsam. Sie riss sie auf und erstarrte. Ein Mann saß mit gesenktem Kopf an ihrem Schreibtisch und blätterte in den Akten. Einen Augenblick lang betrachtete sie fassungslos das Szenario. Gerade griff er nach einem der gerahmten Fotos und starrte es an.

»Entschuldigung!«, sagte sie laut. Der Mann hob langsam den Kopf, und sie sah in ein zusammengekniffenes unergründliches Augenpaar.

»Ah, Dr. McKenna. Endlich.« Er machte keine Anstalten, von ihrem abgenutzten Lederschreibtischstuhl, der früher in Docs Arbeitszimmer gestanden hatte, aufzustehen. Dieser Stuhl hatte eine ganz besondere Bedeutung für sie.

»Wieso sind Sie in meinem Büro, sitzen an meinem Schreibtisch und wühlen in meinen persönlichen Unterlagen? Ich kenne Sie nicht einmal!«

»Bitte, Doktor, kein Grund, gleich theatralisch zu werden«, konterte er sachlich. »Ich habe nicht in Ihren Unterlagen gewühlt, sondern mir nur ein Foto angesehen. Sie? Und Ihr Bruder? Ihr Freund? Ehemann? Jedenfalls ein gut aussehender junger Mann.«

»Mein Bruder«, erwiderte sie steif. »Und jetzt sagen Sie mir bitte, wer Sie sind und was Sie wollen.« Und dann verschwinden Sie, fügte sie im Stillen hinzu. Sie ahnte, dass ihr nichts von dem, was dieser Mann zu sagen hatte, gefallen würde.

Die Mildtätige

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