Читать книгу Die Mildtätige - Marcia Rose - Страница 6
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ОглавлениеAls sie die Eingangshalle durchquert hatten, war sie völlig außer Atem. Mit Luke Schritt zu halten, wenn er es eilig hatte, war nicht ganz einfach. In ihrem Büro fiel ihr auf, dass sie an Sonya vorbeigegangen war, ohne zu ihr hinüber oder sich im Raum umgesehen zu haben, ob alles in Ordnung war. Egal. Der Anruf würde nicht lange dauern. Sie drückte die Kurzwahltaste von Carlyles Haus. Keine Antwort. Kein Anrufbeantworter. »Verquerer und verquerer, wie Alice sagen würde«, bemerkte sie stirnrunzelnd. Luke, der auf einem Stuhl saß und die Füße auf ihren Schreibtisch gelegt hatte, nickte.
Dann fiel ihr Carlyles Wochenendhaus auf Locust Island ein, auf einer kleinen Insel mitten im Fluss, die lediglich per Boot erreichbar war. »Die Insel ist ein Geschenk, das der König zu Beginn des 18. Jahrhunderts der Familie meiner Frau für irgendeinen Gefallen gemacht hat«, hatte Dr. Carlyle ihr einmal mit einem schiefen Grinsen erzählt. »Eine Loyalitätsgabe, die wahrscheinlich eine Menge wert war. Nicht dass heute noch viel von dem Geld in der Familie da wäre, aber zumindest blicken sie auf eine lange Geschichte zurück. Wollen Sie meinen Rat hören, Kate? Heiraten Sie nie in eine Familie mit Geschichte ein. Es kann ziemlich anstrengend sein. Und die Steuern sind verdammt hoch.«
»Wissen Sie den Mädchennamen seiner Frau?«, fragte sie Luke, der sie verblüfft ansah.
»Nein. Wie kommen Sie denn darauf?«
»Vielleicht ist er in ihrem Wochenendhaus ... auf Locust Island, ich glaube, das Haus ist sogar Locust Island. Außer ihrem gibt es keine anderen Häuser dort. Aber ich habe die Nummer nicht, und wahrscheinlich ist es auf den Namen seiner Frau beziehungsweise den ihrer Familie eingetragen. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, wie sie hieß. Eigentlich sollte sollte ich es wissen, schließlich bin ich hier aufgewachsen. Es ist eine alteingesessene Familie. War- nein, irgendetwas mit Ran-. Wieso fällt es mir denn nicht ein? Scheint, als würden mit jeder Minute mehr meiner Gehirnzellen absterben.«
»Es wird Ihnen schon einfallen. Wir finden bestimmt jemanden, der den Namen kennt. Wir finden diese Nummer heraus. Hey, cool bleiben, ja?«, sagte er beim Anblick ihrer frustrierten Miene.
»Verdammt, ich hasse es, wenn mir etwas beim besten Willen nicht einfallen will! Es gibt mir das Gefühl, als wäre ich nicht bei Verstand.«
»Sie sind bei Verstand, also hören Sie auf damit. Sie sind nicht Ihre –« Er unterbrach sich.
»Nicht meine Mutter? Das brauchen Sie mir nicht zu sagen.«
Sie zwang sich zu einem sarkastischen Lachen. Um das Telefon zu bedienen, hatte sie sich über ihren Schreibtisch gebeugt, doch nun holte sie tief Luft, kam um den Tisch herum und ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen.
»Oh, sehen Sie. Eine Nachricht.« Das rote Lämpchen auf ihrem Telefon hatte sie gar nicht bemerkt. Sie drückte die Abspieltaste und wandte sich ab, um auf die regennasse Straße hinauszusehen. Eines Tages, kurz nach ihrer Ankunft, als sie bei einem Bier die Krankenakten durchgegangen waren, hatte sie Luke von Angela erzählt. Na ja ... nicht jedes Detail. Alles über Angela zu erzählen würde ein halbes Leben in Anspruch nehmen. Aber sie hatte erwähnt, dass ihre Mutter Patientin im Hillside gewesen war. Er hatte genickt und für eine Sekunde den Blick abgewandt, damit sie nicht mitbekam, dass er es bereits wusste. Natürlich wusste er es. Anstalten waren ein Eldorado für Klatsch. Und selbst nach all den Jahren war Angie Spector immer noch für eine spannende Geschichte gut.
Mit einem Mal war der Raum erfüllt von einem harschen Flüstern, das sie zusammenfahren ließ und ihren Puls zum Rasen brachte. »Caterina. Pass auf, wo du hintrittst.« Was zum Teufel ... Und dann ertönte ein Summen und der Piepton, der das Ende der Nachricht anzeigte. »10.02 Uhr«, erklärte die mechanische Ansage. Gleich darauf hörten sie die honigsüße Stimme von Sally Delafield, der Sekretärin der Bürgermeisterin, die Kate zu einem Termin am kommenden Donnerstag einlud. Kate streckte die Hand aus und schaltete den Anrufbeantworter ab. Ihr Herz raste.
»Was war das denn?«, fragte Luke.
»Wenn Sie nicht Sally meinen ... Nein, ich sehe, dass Sie das nicht tun. Keine Ahnung.«
»Haben Sie die Stimme erkannt?«
»Kann jemand ein Flüstern erkennen?«
»Ich meine ja nur ...«
»Tut mir leid. Ich schätze, das Ganze nimmt mich mehr mit, als ich dachte. Es ist mir ziemlich schwergefallen, hierher zurückzukommen. Mir war nicht klar ... aber es war dumm von mir, dass ich es mir nicht klar gemacht hatte. Warum bin ich denn damals so schnell von hier weggegangen?«
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen, Kate. Wir alle wollen nach Hause zurück – was und wo dieses Zuhause auch sein mag. Und dann stellen wir fest ... na ja, dass wir das nicht können. Nichts ist so, wie wir es in Erinnerung haben«, fügte er in einem leicht veränderten Tonfall hinzu. »Und es gibt immer eine oder zwei üble Überraschungen.«
»Wie ein unheimliches Flüstern.« Mittlerweile gelang es ihr zu lächeln. »Ich habe nicht nach diesem Job gesucht. Eines Tages rief mich ein Headhunter an, und alles schien so einfach zu sein. Ich musste nur meinen Lebenslauf hinschicken, und die Sache war perfekt.« Sie schüttelte den Kopf. »Und hier bin ich, in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin! Das schreit doch förmlich nach Problemen, oder?«
Luke lachte auf. »Wahrscheinlich fanden Sie die Idee gut. Sie kehren nach Hause zurück, als erfolgreiche Ärztin. Sie haben ein tolles Haus, sind der Boss hier und führen die Familientradition fort.« Er lachte wieder, diesmal jedoch herzlicher. »Sie wissen gar nicht, wie oft vom Doc gesprochen wurde, als ich noch oben in Hillside gearbeitet habe, über Dinge, die er gesagt und getan hat. Er war verdammt beliebt dort oben.«
Doc. Ihr Daddy. Verdammt beliebt traf es ganz genau. »In der Stadt gab es sogar einen Doc-Spector-Tag, ihm zu Ehren, nachdem er ... Verdammt, ich weiß nicht einmal, wie ich es ausdrücken soll! War es ein Unfall? Hat er Selbstmord begangen? Niemand sagt etwas dazu. Sie haben ihn alle viel zu sehr geliebt. Er ist mit seinem Boot rausgefahren und einfach nicht mehr zurückgekommen. Seine Leiche wurde nie gefunden. Und das bedeutet, dass ich immer noch hoffe ... Ach, natürlich ist er tot. Er würde doch nicht einfach weggehen – davonschwimmen oder was auch immer –, ohne jemandem etwas zu sagen ... ohne mir etwas zu sagen. Das würde er nicht tun!«
»Es ist wirklich hart, wenn man seine Toten nicht begraben kann«, sagte Luke mit ruhiger, besänftigender Stimme. »Man kann sich nicht bewusst machen, dass derjenige fort ist. Ich hatte einmal einen Freund, der in der Wüste umgekommen ist. Sie haben seine Leiche nie gefunden, und noch Jahre danach habe ich ihn immer wieder gesehen, wie er auf der Straße an mir vorbeiging oder vorbeifuhr. Und dann wurde mir klar, hey, verdammt, das kann er nicht sein! Er wäre heute doch viel älter!«
»War das bei Ärzte ohne Grenzen?«
»Nein, damals habe ich in einem Reservat gearbeitet. Natürlich nicht in meinem eigenen, das wäre zu einfach gewesen. In Four Corners, dem Navajo-Reservat.« Er lachte freudlos. »Als ich mich bei MSF gemeldet habe – wie wir die Medecins sans Frontières nennen –, wurde Dritte-Welt-Erfahrung verlangt. Es stellte sich heraus, dass der Kampf gegen Armut, Alkoholismus und Depressionen in einem Indianerreservat genau das Richtige war. Zum Glück haben sie mich genommen.«
Er hielt einen Augenblick inne. »Mein Freund ... hat sich zu Tode getrunken. Er ist in die Wüste hinausgegangen, hat das Bewusstsein verloren und ist in der Hitze an Dehydrierung gestorben. Dann haben ihn schätzungsweise die Kojoten erwischt. Das war der Tag, an dem ich wusste, dass ich gehen muss. Wenn nicht, würde mich dieser Job früher oder später umbringen.«
Wie ruhig er klang, als empfände er nicht die geringste Trauer. Vielleicht konnte Luke ihr diese Technik ja beibringen. In diesem Moment schien plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit zu erregen, denn er richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Hey, sehen Sie mal da. Nelson. Er ist ganz nass. Vielleicht kommt er ja herein.«
Eilig standen sie auf und verließen Kates Büro. »Reynolds«, sagte Kate, als sie die Halle durchquerten. »Dr. Carlyles Frau. Ihr Mädchenname ist Reynolds.« Luke blieb stehen und sah sie fragend an. »Später«, sagte er.
Nelson hatte sich in seine Lieblingsnische zurückgezogen. Er war nass bis auf die Haut und schien nicht überrascht über ihr Auftauchen zu sein. »Sie haben mir gesagt, dass Sie kommen, und da sind Sie.«
»Da sind wir«, bestätigte Luke. »Haben sie Ihnen auch gesagt, dass wir Sie bitten würden hereinzukommen, um sich aufzuwärmen und trockene Sachen anzuziehen?«
Nelson blickte unter seinen dichten Augenbrauen zu ihm hoch. »Sie sind kein Gedankenleser, Doktor. Nicht wie sie –« Er nickte in Kates Richtung.
»Nelson, ich kann keine Gedanken lesen, sondern bin nur –«
»Ich nehme an, Sie erkennen Ironie, wenn Sie ihr begegnen, Dr. Kate. Ich weiß, dass Sie nur eine gewöhnliche Psychiaterin sind, wie alle hier, die darauf warten, die Leute mit Pillen vollstopfen zu dürfen ...« Er lachte. »Oh, der Wein mit der Pille ist in dem Kelch mit dem Elch, der Becher mit dem Fächer hat den Wein gut und rein«, rezitierte er.
Kate starrte ihn an, während sie spürte, wie ein eisiger Schauder von ihrem Schädel abwärts über ihr Rückgrat kroch. Nelson gab nicht nur eine perfekte Imitation von Danny Kaye aus Der Hofnarr zum Besten, sondern klang genauso wie ihr Bruder Carlo, wenn er Danny Kaye imitierte. Angela hatte eine ganze Sammlung von Kaye-Aufnahmen besessen, alte Vinylplatten, keine CDs oder Kassetten, die es damals noch nicht gegeben hatte. Die kleine Katie und Carlito waren begeistert von den Späßen des Komikers gewesen, hatten alle Lieder auswendig gekonnt und sie ständig gesungen – selbst beim Abendessen, wo Singen strengstens verboten war. Doc war Danny Kayes clevere Wortspiele recht schnell leid gewesen, doch Angela hatte die Imitationen der Kinder klug und reizend gefunden.
Es gab nicht allzu viele Menschen ihres Alters, die so viele Gedichte von Sylvia Fine, Danny Kayes Frau und Autorin vieler seiner Werke, auswendig konnten. Sie stammten aus der Ära ihrer Mutter. Doch sie kannte jedes shtick von Kaye, einschließlich all seiner Filme, und Nelson beherrschte das Wortspiel perfekt – bis hin zu den abrupten Wechseln vom Bariton zum Sopran und den hohen schrillen Trillertönen. Bildete sie es sich ein, oder lächelte Nelson ihr tatsächlich kaum merklich zu? Ein unsichtbares Lächeln, korrigierte sie. Nelson lächelte nie, sondern war stets todernst. Deshalb war es wohl reines Wunschdenken, dass sich unter diesem Bart, den zerlumpten Kleidern und der Krankheit vielleicht ihr großer Bruder verbarg.
Andererseits – wo zum Teufel war Carlo? Menschen verschwanden doch nicht einfach vom Erdboden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Das Problem war nur, dass genau das die ganze Zeit passierte. Warum sonst waren all die verschwommenen Fotos von Vermissten, von lächelnden Kindern, auf den Milchkartons aufgedruckt? Vielleicht war es ihr Schicksal, dass Menschen um sie herum sich einfach in Luft auflösten. Ihr Bruder, ihr Vater, ihr Boss – ganz zu schweigen von ihrer Mutter, die in gewisser Weise immer fort gewesen war.
»Nelson, bitte, kommen Sie herein. Luke sorgt dafür, dass Sie eine schöne warme Dusche bekommen. Wir besorgen Ihnen trockene Kleider und vielleicht einen Regenmantel ... ja, in der Kleiderkiste habe ich einen wasserdichten Poncho gesehen. Wie wäre es damit?«
Zu ihrer Überraschung stimmte er widerspruchslos zu. Nelson war gern sauber ... nun ja, in gewisser Weise. Offenbar gab es einen Menschen in der Stadt, dem er traute, ein Kunstprofessor am College, der unweit der Klinik in der Water Sreet lebte. In unregelmäßigen Abständen tauchte Nelson dort auf und bat darum, die Dusche benutzen zu dürfen. Der Professor war Bildhauer. Carlo hatte sich in seiner Freizeit ebenfalls mit Bildhauerei beschäftigt.
Doch sobald sie die Halle betraten, wurde ihre Aufmerksamkeit auf eine schlanke, bis auf die Knochen nasse Frau gelenkt, die sich über den Empfangstresen beugte und Sonya anschrie. »Ich bin eine kranke Frau! Was ist nur mit euch allen los? Sie haben mir das Herz herausgeschnitten, solange ich geschlafen habe, und jetzt haben sie es aufgegessen! Sehen Sie doch! Sehen Sie doch hin, verdammt noch mal! Deshalb bin ich hier! Ich brauche einen Arzt! Sie werden mir meinen Körper wegnehmen, Stück für Stück, sodass bald nichts mehr von mir üüüübrig iiiiist!« Bei den letzten Worten war sie in Geheul ausgebrochen.
Als Kate zum Tresen stürzte, sah sie, dass die Leute im Warteraum, Patienten und Familienangehörige, von ihren Stühlen aufgestanden waren und das Ganze mit der faszinierten Neugier einer Horde Schaulustiger beim Anblick einer Naturkatastrophe beobachteten. Sonya war vollkommen ruhig. Sie ließ sich nie aus der Ruhe bringen, weshalb sie so perfekt für diesen Job geeignet war. Und die Frau – ein junges Mädchen, wie sich herausstellte, deren Haar klatschnass an ihren Schläfen klebte – weinte. Ihre Augen waren gerötet, die Lider geschwollen, und ihre Nase lief, sodass sie sie alle paar Minuten mit dem Jackenärmel abwischen musste.
Als sie innehielt, um Atem zu schöpfen, sah sie sich hektisch um. Kate erstarrte. Angela!, schoss ihr durch den Kopf, und ihr Herz schlug schneller. Dann blinzelte sie und sah noch einmal hin. Natürlich war es nicht Angela, aber die Ähnlichkeit war frappierend. Die Frau sah wunderschön aus, das heißt, sie hätte wunderschön ausgesehen, wären da nicht dieses hysterisch verzerrte Gesicht und ihre unübersehbare Verwirrung gewesen. Sie hatte dasselbe dicke, gelockte Haar, dieselben hohen Wangenknochen und dieselben großen Augen mit dem trägen Blick. Aber sie sah nicht wie Angela aus, zumindest nicht, wenn man ein zweites Mal hinsah.
In diesem Moment bemerkte sie Kate. Sie hielt inne und musterte sie eingehender.
»Sind Sie Ärztin? Bitte sagen Sie mir, dass Sie Ärztin sind.«
»Ja, ich bin Ärztin. Wie kann ich helfen?«
Zu ihrem Erstaunen trat die Frau auf sie zu und ließ sich gegen sie sinken, sodass Kate unter dem Gewicht ihres Körpers ins Straucheln geriet. »Helfen Sie mir, helfen Sie mir«, stammelte sie.
»Bitte, Miss ...« Es nützte nichts. Sie musste warten, bis der emotionale Ausbruch abgeebbt war. Doch obwohl die junge Frau halb verhungert aussah, war sie unglaublich schwer. Luke war mit Nelson verschwunden, um zu verhindern, dass sie zwei hysterische Patienten am Hals hatten. »Bitte«, bat Kate. »Setzen wir uns hin, sonst fallen wir noch beide um.«
Die Frau hob ihr gerötetes, tränennasses Gesicht. »Es tut mir leid«, sagte sie mit ziemlich normal klingender Stimme, während sie sich die Tränen abwischte. »Sie ... Sie müssen mir zuhören. Sie müssen einfach. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«
Dieses Phänomen kam immer wieder vor – dieses Schwanken zwischen geistiger Klarheit und völliger Verwirrung innerhalb weniger Sekunden. »Das werde ich. Versprochen. Aber wir sollten irgendwo hingehen, wo es etwas ruhiger ist.« Eugene, einer der stämmigen Wachmänner, war unbemerkt neben sie getreten. Kate warf ihm einen Blick zu, worauf er sich zurückzog, aber trotzdem in greifbarer Nähe blieb.
»Dann helfen Sie mir also?« Die Züge der jungen Frau erhellten sich. Sie schniefte und wischte sich über die Augen, wobei sie die Tränen- und Schmutzspuren noch mehr verschmierte. Sie ist noch ein Kind, bemerkte Kate. Keine Frau, sondern noch ein richtiges Kind.
»Ja, natürlich helfe ich dir, so gut ich kann. Hier ...« Sie griff in die Schachtel mit den Papiertaschentüchern auf Sonyas Schreibtisch und zog eines heraus. »Wisch dir die Augen ab und putz dir die Nase. Wie heißt du?«
»Prinzessin Linda. Prinzessin Linda Cathcart.«
»Tja, Prinzessin Linda ... Darf ich dich Linda nennen?« Das Mädchen neigte majestätisch den Kopf.
»Gut. Wieso kommst du nicht mit mir, damit wir uns unterhalten können.«
Linda Cathcart sah sich argwöhnisch um. »Ich glaube ... ich will lieber hierbleiben. Wo Leute sind.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Falls sie kommen.«
»Sie?« Dumme Frage – ihr war klar, wer »sie« waren. Die unsichtbaren Stimmen, die im Kopf dieses armen Geschöpfs herumgeisterten und sie mit boshaften Vorschlägen, Beleidigungen und hässlichen Botschaften quälten. Wir haben dein Herz genommen, Linda, und es gegessen. Kein Herz mehr für dich, Mädchen! Wahrscheinlich gemeines Gelächter. Wie gut sie sich noch an Angela erinnern konnte, die sich über die bösen Späße der Stimmen in ihrem Kopf beschwert hatte. »Schmutzige Huren!«, hatte sie geschimpft. »Behaltet eure widerlichen Bosheiten und Fiesheiten für euch!« Sie hatte zahlreiche neue Worte erfunden.
»Sie müssen sie doch sehen!«, erklärte Linda Cathcart mit leiser Stimme, während ihr Blick nervös umherschweifte. »Sie sind Psychiaterin. Ich kann sie nicht sehen, weil ich krank bin«, fuhr sie ernst fort. »Vielleicht haben sie auch meine Augen genommen, einen Teil davon, glaube ich. Weil sie da sind. Ganz ehrlich. Ich drehe mich um, so schnell ich kann, aber sie sind zu schnell für mich. Oder sie sind unsichtbar.«
»Sie sind sehr schwer auszumachen. Ich verstehe. Setzen wir uns doch.« Kate sah sich nach einer ruhigen Ecke um. »Da drüben. Auf diese beiden blauen Stühle.« Behutsam legte sie den Arm um Lindas Schultern und führte sie zu den Stühlen.
»Und Sie helfen mir?«
»Natürlich.«
»Ich brauche ein Bett. Ich muss in die Anstalt.« Das war ein Fortschritt gegenüber vielen anderen Patienten hier, die leugneten, überhaupt krank zu sein, und sich vehement weigerten, einen Fuß in eine Klinik zu setzen, selbst wenn sie es bereits getan hatten.
»Welche Anstalt, Linda?«
»Wieso? Hillside, wohin sonst.«
»Du warst also schon mal dort?«
»Oh ja, schon oft. Oft. Und im New Garfield und im Harmony House und ... es fällt mir gerade nicht mehr ein. Aber in vielen. Sogar in sehr, sehr vielen.« Sie wandte abrupt den Kopf ab, während sich ihr Körper versteifte und sich ihre Lippen bewegten, ohne dass ein Laut über sie drang. Die Stimmen.
»Komm, setzen wir uns, Linda. Ich kann mir deine Krankenunterlagen aus Hillside kommen lassen. Wer war dein Arzt dort?«
Linda gab keine Antwort. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, die Dämonen in Schach zu halten, die sie quälten. Kate dachte fieberhaft nach. Sie würde in Hillside anrufen und fragen, welche Medikamente Linda nehmen sollte. Außerdem war es wichtig, dass sie herausfand, in welcher Anstalt sie zuletzt behandelt worden war. In der Zwischenzeit würde sie Bannerman anrufen und dafür sorgen, dass er sich um den Papierkram kümmerte. Diese Prinzessin musste dringend therapiert werden und brauchte ihre Medikamente und die Unterstützung durch eine Gruppe. Es sei denn ... Wieso nahm sie Linda nicht selbst als Patientin? Sie sollte zumindest eine Hand voll eigene Patienten haben, und dieses Mädchen hier hatte sich an sie gewandt.
»Dr. Sheila Carpenter«, erklärte Linda Cathcart in diesem Moment bockig. »Sie hat mich rausgeschmissen. Hat gemeint, ich sei ein böses Mädchen, und meine Zeit sei um! Ich bin heute hingegangen – oder gestern, vielleicht war es auch letzte Woche. Aber sie haben mich nicht reingelassen, diese Mistkerle!«
»Linda, ich bin sicher, du hast etwas missverstanden –«
»Sie etwa auch, Sie Miststück? Ich brauche Hilfe, und Sie widersprechen mir? Geben Sie mir ein Bett. Ich brauche ein Bett, verdammt noch mal!«
Kate beugte sich vor. »Linda, das hier ist eine Ambulanzklinik. Wir haben keine Betten.« Wieso gibst du ihr nicht ein Sedativum und lässt sie in einem der Notbetten schlafen, solange du ihre Akten zusammensuchst?, schoss es ihr durch den Kopf. »Aber warte hier. Geh nicht weg. Ich denke, ich kann ein Bett für dich finden. Versprichst du mir, dass du mit einem der Ärzte redest? Man wird dir etwas geben, damit du schlafen kannst. Machst du das?« Mit ihrer freien Hand piepte sie Bannerman an. Er würde genügen müssen, solange sie die Unterlagen des Mädchens aus der Klinik besorgte, in der sie zuletzt behandelt worden war.
Wieder Tränen. »Ich tue alles. Ich habe solche Angst –«
»Angst? Wovor denn, Linda?«
»Vor nichts. Ich weiß nicht. Meine Lippen sind versiegelt.« Sie presste die Lippen aufeinander.
In diesem Moment kam William Bannerman auf sie zugeeilt.
»Siehst du, Linda, hier kommt Dr. Bannerman. Er wird mit dir reden und dir helfen ... Wir alle werden dir helfen.« Sie versuchte, dem Mädchen in die Augen zu sehen, doch die wandte den Kopf ab. »Dr. Bannerman, das ist Linda Cathcart, Prinzessin Linda Cathcart. Sie fühlt sich nicht gut und braucht ein Bett.«
»Aber wir –«
»Linda war in Hillside und einigen anderen Einrichtungen, Will. Ich muss ihre Unterlagen zusammensuchen, damit wir einen Therapieplan und die notwendigen Medikamente für sie zusammenstellen können. Sie wird meine Patientin. Aber vielleicht könnten Sie ihr etwas geben, damit sie sich beruhigt und ein wenig schlafen kann. Sie kann eines der Notbetten haben.« Kate warf ihm einen eindringlichen Blick zu.
»Halten Sie das für klug? Die Betten zu benutzen?« Es hätte sie nicht überrascht, wenn er besorgt die Hände geknetet hätte.
»Dr. Bannerman, diese Frau braucht unsere Hilfe. Sobald ich weiß, welche Medikamente –«
»Stelazine«, warf Linda mit klarer und geschäftsmäßiger Stimme ein. »Manchmal auch Haldol, aber mir ist Stelazine lieber.« Stelazine war eines der älteren Antipsychotika. Bestimmt hatte man ihr etwas Besseres als dieses Medikament gegeben.
»Du bekommst, was auch immer du brauchst, Linda. Aber jetzt bringen wir dich erst einmal ins Bett, okay?« Das Mädchen nickte. »Also, bitte geh mit Dr. Bannerman. Ich rufe in Hillside an und sehe zu, was ich in Erfahrung bringen kann. Nein, nein, ich sage das nicht nur, sondern helfe dir wirklich.« Kate sprach die letzten Worte betont langsam aus, während sie versuchte, mit Linda Blickkontakt herzustellen, doch die Augen des Mädchens huschten bereits wieder ängstlich durch den Raum.
Bannerman rührte sich nicht vom Fleck. Er hatte die Lippen zu einer festen Linie zusammengepresst.
»Dr. Bannerman, bringen Sie Linda nach hinten und geben ihr 15 Milligramm Ambien, damit sie einschlafen kann.«
»Dr. McKenna, sie werden der Sache nachgehen. Über kurz oder lang werden sie fragen, wieso diese Betten immer noch hier stehen. Wenn sie uns erwischen –«
»Tun Sie einfach, was ich sage, okay?«
»Die Regeln sind eindeutig. Eine Ambulanzklinik darf keine Patienten über Nacht aufnehmen und –«
»Ich versuche, anderswo ein Bett für sie zu besorgen, aber wenn es mir nicht gelingt ... Ich will auch nicht, dass sie über Nacht hierbleibt.« Sie wartete, doch er stand noch immer reglos vor ihr. »Ich will nicht den Boss heraushängen, aber mir bleibt keine andere Wahl. Sie tun jetzt, was ich sage – ohne Widerrede.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, gehorchte aber. Er nahm sogar Lindas Arm und redete leise mit ihr. Er mochte halsstarrig sein, aber am Ende hatte sie sich trotzdem durchgesetzt.
In ihrem Büro wählte sie die Nummer der Aufnahme in Hillside und redete mit der stellvertretenden Leiterin. »Oh ja, ihre königliche Hoheit«, sagte die Frau. »Linda ist von Zeit zu Zeit bei uns. Wieso?«
»Sie ist zu uns gekommen und hat um Hilfe gebeten. Sie scheint dekompensiert zu sein. Und zwar beträchtlich.«
»Erzählen Sie mir etwas Neues. Sie lässt nie ihre Rezepte verlängern.«
»Glauben Sie ernsthaft, sie ist in der Lage, irgendetwas im Auge zu behalten? Regelmäßig in eine Apotheke zu gehen?«
»Sie ist ja auch von allein in die Klinik gekommen, oder?« Tiefer Seufzer. »Die Sache ist die, ihre Krankenversicherung gewährte ihr einen sechstägigen Aufenthalt hier, das war’s.«
»Aber sechs Tage reichen nicht –«
»Natürlich nicht, aber wir haben keine andere Wahl, Dr. McKenna.«
»Was, wenn ich sie mit einer Empfehlung zu Ihnen nach oben schicke, ihr ein Bett für sechs Wochen zur Verfügung zu stellen?«
»Entschuldigen Sie, wenn ich lache«, erklärte die stellvertretende Leiterin, obwohl nicht einmal ein Hauch von Belustigung in ihrer Stimme lag. »Wir haben hier eine Warteliste von ... Moment ... genau, 768 Patienten. Für 150 Betten.«
»Was schlagen Sie also vor?« Was für ein System, das die Patienten an die letzte Stelle setzte.
»Sie ist von allein gekommen. Geben Sie ihr Medikamente und ein Rezept und beten Sie.«
Zähl bist zehn, Kate. Auf Italienisch. Uno, due, tre... »Aber sie muss doch eine Mutter und einen Vater haben. Sie ist noch ein halbes Kind. Wo wohnen sie?«
»Oh, viel Glück mit denen. Die wollen Sie nicht ernsthaft kennen lernen. Die Mutter glaubt, Linda sei von einem Dämon besessen ... Sie wissen schon, wie in Der Exorzist.«
Lindas Eltern waren der Wahrheit ziemlich nahe, nur dass ihre Dämonen nicht metaphysischer Herkunft waren. »Geben Sie mir trotzdem ihre Adresse. Mal sehen, ob ich sie dazu bringen kann herzukommen.« Sie notierte sich Adresse und Telefonnummer, legte auf und wählte erneut.
Die Mutter, Lydia Cathcart, meldete sich.
Kate stellte sich vor. »Ihre Tochter Linda ist hier bei uns in der Ambulanzklinik und –«
»Ambulanzklinik? Was will sie denn dort?«
»Wir sind das ambulante Betreuungszentrum für psychische Erkrankungen und Teil des Hillside Hospital. Linda ist vor ein paar Minuten hier aufgetaucht und hat um Hilfe gebeten.«
»Phh! Der können Sie nicht helfen. Nur Gott, unser Herr kann sie läutern. Sie ist unrein, dieses Mädchen. Sie trägt den Teufel in sich. Und sie redet mit ihm!«
»Mrs. Cathcart, Linda leidet unter einer Krankheit, einem chemischen Ungleichgewicht im Gehirn. Mit den richtigen Medikamenten kann sie –«
»Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Linda ist die Hure des Teufels. Seit sie eine Frau geworden ist. Luzifer ist gekommen und hat –«, ihre Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern, »– hat sie genommen. Ich habe gehört, wie sie mit ihm geflüstert hat, wie sie sich im Bett gewälzt hat. Widerlich!«
Toll! »Mrs. Cathcart, Linda hört Stimmen –«
»Dann wissen Sie ja schon alles. Wieso kommen Sie damit auch noch zu mir?«
Geduld, Geduld. »Ihre Tochter leidet an einer psychischen Erkrankung, Mrs. Cathcart. Sie braucht sie, uns alle, damit es ihr bald wieder besser geht.«
»Meine Tochter ist besessen, Doktor. Ihr wird es nicht bald besser gehen! Ich habe sie aus dem Haus geworfen, bevor sie uns alle zerstören kann, und wenn ich Ihnen einen Rat geben soll, Doktor, dann sollten Sie dasselbe tun!« Klick. Freizeichen. Die arme Linda.
Kate wählte Bannermans Kurzwahl. Sein Telefon läutete und läutete und läutete. Verdammt, allmählich ging er ihr auf die Nerven. Sie ging jede Wette ein, dass er mit Absicht nicht abhob. Doch bevor sie in sein Büro gehen konnte, kam er ihr auf halbem Weg durch die Eingangshalle mit einem Regenmantel in der Hand entgegen und steuerte auf die Tür zu. Er machte keine Anstalten, seine Schritte zu verlangsamen, also vertrat sie ihm den Weg.
»Und, wie kommen wir voran, Doktor?«, fragte sie.
Seine Miene war wie immer ausdruckslos. »Vorankommen? Inwiefern?«
»Mit Linda Cathcart. Die Prinzessin.«
»Oh, ich habe ihr eine Einheit Haldol und ein Rezept gegeben.«
»Sie haben was??? Habe ich nicht ausdrücklich angeordnet, dass Sie ihr Ambien geben und sie in eines der Notbetten legen sollen? Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?«
»Wir haben die Patientin doch noch nie gesehen, und sie kam ohne Überweisung zu uns«, erklärte er ihr, ohne Anstalten zu machen, ihre Frage zu beantworten.
»Ich habe versprochen, ihr zu helfen. Sie haben sie von Pontius zu Pilatus geschickt, und ich wollte mich darum kümmern, dass sie in einem Therapieprogramm aufgenommen wird.« Zu ihrem Leidwesen spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und blinzelte hastig dagegen an. »Sie haben sie gehen lassen, ohne dass ihr geholfen wird ... wieder. Und Sie haben sich meinen ausdrücklichen Anordnungen widersetzt. Bei Gott, ich sollte – ich sollte –«
»Sie schreien, und alle sehen schon her.«
Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Die anderen interessieren mich nicht. Mich interessiert nur eines – ihr unprofessionelles Benehmen. Wie konnten Sie nur? Dieses Mädchen ist zu uns gekommen, weil sie Hilfe braucht. Sie ist in einer entsetzlichen Verfassung. Sie könnte weiß Gott was dort draußen anstellen. Was haben Sie sich nur dabei gedacht?«
»Ihre Einstellung gefällt mir nicht, Dr. McKenna.«
»Jetzt hören Sie mir mal zu – Sie haben meine Anweisungen ignoriert. Sie haben eine verwirrte und aufgebrachte Patientin weggeschickt. Wissen Sie was? Eigentlich sollte ich Sie feuern!«
»Versuchen Sie’s doch«, gab er mit hochrotem Gesicht zurück.
Das hier führte zu nichts. Sie sollte damit aufhören, außerdem – wem wäre damit schon geholfen? Er hatte es sowieso vermasselt. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen.
»Dr. Bannerman. Will. Wir sind in erster Linie für unsere Patienten hier – die sehr verwirrt und verletzlich sind. Glauben Sie nicht auch –«
»Hast du zufällig eine Minute Zeit für mich?«, hörte sie eine vertraute Stimme hinter sich.
Barry Manheim. Sie fuhr herum. »Was für eine Art, sich einfach anzuschleichen«, sagte sie.
»Ich habe mich nicht angeschlichen. Ich wollte dich besuchen und habe deine Stimme gehört, also bin ich herübergekommen.« Er sah sie mit Unschuldsmiene an.
»Wir haben hier eine private Unterredung.«
Barry hob die Hände. »Tut mir leid, aber für einen Reporter wie mich sah es nach einem Streitgespräch aus. Und habe ich da nicht gerade gehört, dass Dr. Bannerman, ich zitiere, eine verwirrte, aufgebrachte Patientin weggeschickt hat, ohne ihr zu helfen?«
»Man hat ihr geholfen«, blaffte Bannerman ihn an. »Ich habe ihr Medikamente gegeben. Und ein Rezept. Ich habe ihr geholfen! Und wissen Sie was? Es kümmert sie noch nicht mal, was wir für sie tun. Soll ich Ihnen sagen, was ich denke? Ich denke, die meisten von denen wollen nicht einmal, dass ihnen geholfen wird.
»Dr. Bannerman«, sagte Kate ruhig, aber mit unüberhörbarer Schärfe in der Stimme. »Sie wissen, dass wir es mit kranken Menschen zu tun haben, nicht mit unartigen Kindern. Unsere Aufgabe ist es, uns um sie zu kümmern. Das ist der Grund, weshalb wir hier sind.«
»Wir sind hier, weil Hillside einen Ort braucht, wo sie ihre Probleme abladen können. Die da oben kümmert es doch genauso wenig!«
»Barry«, sagte Kate knapp. »Ich will nichts von all dem in deiner Zeitung lesen. Bitte. Es ist eine Bagatelle, wirklich, und ich möchte nicht erleben, dass es unnötig aufgebauscht wird.«
»Ich werde nichts darüber schreiben«, versprach er. »Aber falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, du hattest in den letzten zehn Minuten Publikum. Der Vorfall wird sich herumsprechen – auch ohne mein Zutun.«
»Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich habe eine Klinik zu leiten.« Sie wandte sich um und deutete auf die anderen Patienten und Familienangehörigen, die sich in der Halle herumdrückten und so taten, als hätten sie nichts mitbekommen. »Okay, Leute. Hier gibt es nichts zu sehen. Bitte setzen Sie sich alle wieder.«
»Kate, lass mich –«, fing Barry an.
»Still«, sagte sie im Flüsterton. »Kein Wort mehr.« Sie durchquerte die Lobby und schlug den Weg zu ihrem Büro ein. Ihre Gedanken überschlugen sich. Als Erstes galt es, Linda Cathcart zu finden und sie zurückzubringen ... falls sie überhaupt jemanden in ihre Nähe ließ. Sie konnte überall sein, auch am Fluss. Es würde nicht einfach werden, und Kate wollte die Polizei nicht rufen. Noch nicht. Wenn sie Linda bis zum Abend nicht gefunden hätte, würde sie sie einschalten, in der Zwischenzeit würde sie herausfinden, welcher Sozialarbeiter frei war, um mit der Suche zu beginnen. In – sie sah auf ihre Uhr – zwölf Minuten hatte sie einen Termin mit einem Patienten und dessen Familie. Als sie in ihr Büro eilte und die Tür hinter sich schloss, fragte sie sich, ob sie Linda Cathcart tatsächlich als Patientin nehmen sollte – falls sie sie aufstöberten und sie bereit war, zurückzukommen und sich behandeln zu lassen. Und falls ihr auf der Straße nichts zugestoßen war. Wie viel von ihrer Sorge um das Mädchen war beruflicher Natur und wie viel die Sehnsucht, sich der Person anzunehmen, die sie so lebhaft an ihre Mutter erinnerte? Das war eindeutig nicht professionell. Sie wünschte, Luke wäre hier, um mit ihm darüber zu reden.
Sonya rief sie an, um ihr zu sagen, dass der Patient mit seinen Eltern hier sei, und ob sie sie hereinschicken dürfe.
»Ich hole sie gleich ab, Sonya«, sagte sie und schob die Gedanken an Linda Cathcart – und an Angela – beiseite.