Читать книгу Die Mildtätige - Marcia Rose - Страница 5
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ОглавлениеEinen Augenblick lang starrten sie einander schweigend an, wie zwei Kinder, die wetteiferten, wer als Erster blinzelte. Dann stand er auf und deutete eine Verbeugung an, die schmalen Lippen zu einer Art Lächeln verzogen. »Ich muss mich entschuldigen, aber ich konnte nicht widerstehen. Das ist allem Anschein nach ein alter Stuhl, der sehr geliebt wurde. Kalbsleder. Heute wird so etwas nicht mehr hergestellt. Ein wunderschönes Exemplar. Ein Erbstück?«
»Er hat meinem Vater gehört. Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sie sind –«, wiederholte sie, obwohl sie bereits ahnte, wen sie vor sich hatte.
Er trat hinter dem Schreibtisch hervor und spreizte die Finger, als wollte er sagen: Sehen Sie, ich habe nichts genommen. Er war eher klein, und sein wohl proportionierter Körper steckte in einem gut geschnittenen hellgrauen Anzug mit schmalen Revers. Er hatte kleine Hände mit kurzen Fingern und eisgraues, glatt nach hinten gekämmtes Haar mit einem V-förmig in die Stirn reichenden Ansatz.
»Vielleicht haben Sie mich nicht erwartet, Dr. McKenna. Obwohl Dr. Carlyle mir versichert hat ... wie auch immer. Ich entschuldige mich in aller Form, in Ihre Privatsphäre eingedrungen zu sein. Ich glaube, so drückt man das heutzutage aus.« Wieder verzog sich sein Mund zu diesem eisigen Lächeln. »Ich bin Austin Davey. Eigentlich Doktor Davey, ich habe einen Titel in Wirtschaftswissenschaften, aber in einem Krankenhaus wäre das vermutlich zu verwirrend, glauben Sie nicht auch?« Das Lächeln wurde eine Spur breiter, und seine kleinen Augen glitzerten. »Ich bin hergekommen, um mich vorzustellen, und wenn ich mich auf Ihren Stuhl gesetzt habe, lag es nur daran, dass ich fast eine halbe Stunde auf Sie warten musste. Aber lassen wir das und fangen noch mal von vorn an, okay?« Er streckte die Hand aus. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. McKenna.«
Seine Hand war so kalt und glatt wie sein Benehmen. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Freut mich«, sagte sie, obwohl es nicht stimmte. In seinen zusammengekniffenen Augen lag ein amüsierter Ausdruck, als wüsste er genau, was sie dachte. »Ich konnte nicht pünktlich hier sein, weil ich Sie gar nicht erwartet habe. Hatten Sie einen Termin vereinbart? Ein Memo geschickt? Ich habe nicht –«
»Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr«, meinte er. »Kommen wir zur Sache. Da wir beide neu hier sind, sollten wir uns bei den Händen nehmen und uns gegenseitig zu einer effizienten Zusammenarbeit führen, denken Sie nicht auch?«
Sie starrte ihn an. Bei den Händen nehmen und gegenseitig führen? Hatte er irgendwelche Drogen genommen?
Wortlos ging sie um ihren Schreibtisch herum, zog den Stuhl hervor und setzte sich. Davey musterte sie ausdruckslos. »Ich würde mir gern Ihre Patientenakten ansehen. Diese Klinik braucht dringend Aufsicht.«
»Da Sie ja kein Arzt sind, ist Ihnen vielleicht nicht bewusst, dass Patienteninformationen ein sehr heikles Thema sind, besonders in einer psychiatrischen Klinik. Jedenfalls hat Dr. Carlyle mir versichert, dass wir Ärzte eigenständig arbeiten können.«
»Als ich engagiert wurde, hieß es im Vorstand, man wünsche sich eine Art ... Aufsichtsperson. Nein, nein, das ist ein zu hässliches Wort. Sollte es ein Problem mit der Patientenvertraulichkeit geben, verzichte ich auf die Durchsicht der Akten, zumindest für den Moment. Sie ... Darf ich mich setzen?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, zog er einen Stuhl heran, setzte sich und beugte sich nach vorn, eine Hand auf ihrem Schreibtisch. »Danke, schon besser. Wo war ich? Ach ja, der Vorstand. Ihnen ist im Hinblick auf die beiden ambulanten Einrichtungen, nun ja, nicht ganz wohl.«
»Nicht ganz wohl?«
»Sie müssen verstehen«, fuhr er in einem Tonfall fort, als erkläre er jemandem etwas allseits Bekanntes. »Sie sind nicht vor Ort. Da das Krisenzentrum und Ihre Ambulanzklinik hier unten so weit von der eigentlichen Anstalt entfernt sind, fürchten einige der Vorstände, die beiden Einrichtungen könnten außer Kontrolle geraten.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Kate, die allmählich die Geduld verlor. »Wir reden hier von zwei hochprofessionellen Einrichtungen, die durchaus in der Lage sind, den an sie gestellten Anforderungen gerecht zu werden.«
Davey schürzte seine schmalen Lippen. »Mag sein. Zweifellos, sollte ich wohl sagen. Aber die Wahrnehmung des Vorstands ist, dass die psychiatrische Anstalt in dieser Konstellation von ihren eigenen ambulanten Behandlungsmöglichkeiten ausgeschlossen ist.«
»Diese beiden Ambulanzzentren gibt es seit ... wie lange? Sechs Monate? Das reicht wohl kaum aus, um die Lage objektiv beurteilen zu können. Und Dr. Carlyle glaubte ...«
»Ja. Dr. Carlyle. Ein brillanter Mann mit den besten Absichten – da bin ich ganz sicher. Ein Herz aus Gold. Ein Retter der Welt. Aber vielleicht etwas übereifrig? Ohne Rücksicht auf die Kosten jedem helfen zu wollen – sehr löblich, keine Frage.« Mit einem Mal lag ein stählerner Unterton in seiner Stimme. »Er hat Millionen für die Eröffnung dieser Einrichtungen ausgegeben. Er war bereit, Haus und Hof zu verschenken, meine liebe Dr. McKenna. Und genau das ist der Grund, weshalb man mich geholt und ihn freigestellt hat.«
Kate sah aus dem Fenster und zählte bis zehn. »Verstehe«, sagte sie schließlich. »Geld. Ja, natürlich. Darum geht es ja in der Medizin von heute, hab ich Recht? Das A und O.«
»Ganz genau. Die moderne Medizin ist gezwungen, darauf zu achten, wofür sie ihre Ressourcen verwendet. Deshalb muss ich Sie im Zaum halten. Noch so ein unschöner Ausdruck. Ich entschuldige mich dafür.«
Ja, klar. Sie sah ihn mit – wie sie hoffte – freundlicher Miene an. »Dürfte ich vielleicht erfahren, was genau Sie vorhatten, als Sie heute früh hergekommen sind, um mit mir zu reden? Außer Einblick in die Patientenunterlagen zu nehmen.«
»In erster Linie, Dr. McKenna, wollte ich mich mit Ihnen und Ihren Ärzten und Mitarbeitern – auch den Schwestern, denke ich – zusammensetzen, um über die Patientenstruktur, Eindämmungsmaßnahmen, Kosteneffizienz und derartige Dinge zu reden. Wir sollten über unsere Ziele nachdenken, meinen Sie nicht auch? Und sehen, ob wir uns in die richtige Richtung bewegen. Innerhalb der nächsten Woche ... ist Ihnen das recht? Nächsten Dienstag? Hervorragend. Ich lasse Ihnen ein entsprechendes Memo zukommen – diesmal persönlich zu Ihren Händen.« Wieder bedachte er sie mit einem frostigen Lächeln, stand auf und ging.
Kate blieb sitzen und starrte ins Leere. Da waren sie, die gefürchteten Worte – Patientenstruktur, Eindämmung und Kosteneffizienz. Was nur eines bedeutete: weniger aufgenommene Patienten, weniger Behandlungsstunden und weniger Therapien, die den Kranken halfen, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden. Und – daran bestand kein Zweifel – weniger Patientenbetten. Sie musste doch etwas dagegen tun können! Dieser schreckliche Kerl würde bei jeder Entscheidung das letzte Wort haben. Er würde ihr Ambulanzzentrum zu einem Schatten dessen verblassen lassen, was es sein sollte. Und was würde dann aus diesen desorientierten, zerzausten armen Seelen werden, die das Zentrum als ... nun ja, vielleicht nicht als Heimat betrachteten, aber zumindest als einen Ort, von dem sie sich Schutz und Hilfe erwarteten und der ihnen mit viel Glück zu einem halbwegs normalen Leben verhalf.
Sie wurde wütend. Für wen zum Teufel hielt sich dieser Kerl eigentlich? Offenbar für den Präsidenten des Krankenhauses! Trotzdem konnte er doch nicht ankommen und alles umkrempeln, oder? Natürlich konnte er das. Und das gerade jetzt, wo ihre Anspannung nachgelassen und sie sich ein wenig sicherer mit ihrer Aufgabe, das Zentrum zu leiten, gefühlt hatte. Sie hatte gedacht, wenn sie ihre Sache gut machte, würde es auch kein so großes Problem sein, wieder dorthin zurückgekehrt zu sein, wo all die Geister ihrer Vergangenheit lebten. Und jetzt das. In ihren Gedanken hörte sie sich wieder und wieder darlegen, inwiefern die Pflege von psychisch kranken Menschen komplexer war, als es eine Gewinn- und Verlustdarstellung wiederzugeben vermochte.
Sie griff nach dem Hörer und wählte eine Nummer. »Ich brauche Ihr Gehirn. Können wir uns im Elephant treffen? Jetzt gleich? Okay, um elf.«
Elf Uhr vormittags saßen so gut wie keine Gäste im Elephant. Luke Montour lümmelte auf einer Sitzbank in der hintersten Nische, sodass seine langen Beine mit den Cowboystiefeln in den Gang ragten, und kaute lässig auf einem Zahnstocher herum. Zwei junge Schwestern aus der Anstalt, die auf ihren Kaffee zum Mitnehmen warteten, linsten zu ihm hinüber und kicherten. Luke kam bei Frauen gut an. Doch zu Kates Erstaunen schien er sich dessen nicht bewusst zu sein. Er war so sensibel und behutsam im Umgang mit den Patienten – Eigenschaften, die besonders psychisch Kranke dringend brauchten, aber die ihnen so gut wie nie entgegengebracht wurden. Eigenschaften, die eigentlich jedem gut täten. Er war so empfänglich für die Gefühle anderer Menschen ... Wie konnte ihm entgehen, welche Wirkung er auf Frauen besaß?
Sie setzte sich auf die Bank ihm gegenüber. »Wissen Sie etwas über diesen Nazi, den sie uns auf den Hals gehetzt haben?«
»Ich freue mich auch, Sie zu sehen.«
»Tut mir leid. Hi, Luke, und eines kann ich Ihnen versichern – ich freue mich wirklich, Sie zu sehen. Entschuldigen Sie mein schlechtes Benehmen, aber ich bin stocksauer. Haben Sie ihn schon kennen gelernt? Austin Davey? Was für ein arroganter Fatzke! Ein absoluter Widerling! Wissen Sie irgendetwas über ihn?« Luke schien über alles und jeden Bescheid zu wissen. Die Leute erzählten ihm alles. Auch Kate würde das am liebsten tun, wie sie überrascht feststellte.
»Davey ist Geschäftsmann, und offenbar hat er versprochen, weniger Betten zu belegen und höhere Gewinne zu machen. Die Vorstandsmitglieder müssen glauben, sie seien gestorben und bereits im Himmel.«
»Aber ... wenn er die Betten räumt, tauchen die Patienten doch wieder auf der Straße auf ... oder im Krisenzentrum oder vor unserer Tür.«
»Tja, ich denke nicht, dass er diese Seite erwähnt hat. Dafür glaube ich mich zu erinnern, dass er etwas von Kostendämmung in den Ambulanzzentren gesagt hat.«
»Mit anderen Worten: Man zwingt uns, sie nach sechs Therapiestunden rauszuschmeißen und uns einen Dreck darum zu scheren, was aus ihnen wird.«
»So ist es.«
Sie starrten einander an. »Wir sind am Arsch«, stellte Kate fest.
»Dr. McKenna, was für eine Ausdrucksweise! Aber, ja, er wird uns die Schuld in die Schuhe schieben, wenn sie vor unserer Tür Schlange stehen oder sich im Cambridge Park herumtreiben. Oder wenn sie auf der Straße sterben und dort eine Schweinerei anrichten.«
Die Kellnerin stellte zwei Becher Kaffee auf den Tisch, sie sahen kurz auf und bedankten sich mit einem Murmeln. Kate nippte an ihrem Kaffee, der so lausig schmeckte wie immer. Wäre sie nicht so süchtig nach Koffein, würde sie auf Tee umsteigen.
»Er hat mir erzählt, sie hätten beschlossen, die beiden Ambulanzzentren bräuchten ... eine Art Aufsichtsperson. Können Sie sich das vorstellen? Sie wissen, was das bedeutet: regelmäßige Berichte, alles in vierfacher Ausfertigung, keine Entscheidung ohne grünes Licht von oben.« Angespannt fuhr sie sich mit den Fingern durchs Haar. »Er war so was von arrogant, Luke, hat mich ständig höhnisch angegrinst. So hat mich seit ... keine Ahnung, wie lange ... niemand mehr angegrinst. Er war herablassend und ist mir ziemlich auf die Pelle gerückt. Wieso stehen sie im Zweifelsfall nicht erst einmal auf unserer Seite? Es gibt uns doch erst seit kurzem.«
»Tja, Kate, könnte sein, dass er Carlyle nicht mochte oder eigenes Personal hat, das er einschleusen will. Oder er glaubt nicht, dass Ambulanzkliniken funktionieren. Oder er hat Angst vor Verrückten. Vielleicht schüchtert er seine Mitmenschen auch nur gern ein. Ich habe gehört, oben in Hillside hassen sie ihn jetzt schon ... alle außer dem Vorstand, und der Vorstand muss ja auch nicht mit ihm zusammenarbeiten.«
»Von mir kriegt er jedenfalls nur das Allernotwendigste. Und wenn es sein muss, gehe ich selbst zum Vorstand.«
»Kate, seien Sie vorsichtig, ja? Ich weiß, dass Sie Ihre Probleme mit Autoritäten haben und –«
»Das habe ich nicht. Ich will nur mit Respekt behandelt werden.«
»Sie haben ein Autoritätsproblem, meine liebe Frau Doktor. Ja, ja, und viele nennen Sie auch Kate, die Coole, aber ich lasse mich nicht so einfach täuschen. Sie kochen innerlich. Da brauchen Sie mich gar nicht so böse anzusehen.«
»Ich sage Ihnen etwas – ich hatte einen Bruder. Einen älteren. Und wenn Sie glauben, man hätte uns auch nur annähernd gleich behandelt ... Ehrlich gesagt war ich sogar klüger als er, es ist nur niemandem aufgefallen.«
Er musterte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ach ja? Einen älteren Bruder? Ist er auch Psychiater?«
Einen Moment lang bedauerte sie, das Thema zur Sprache gebracht zu haben. »Nein. Er ist von der Schule geflogen und ... hat die Kurve gekratzt. Er ist einfach verschwunden. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört.«
»Meine Güte, Kate, das tut mir leid. Und Sie haben keine Ahnung, wo er ist?«
»Nein, aber er hat sich jeden Cent von mir geborgt, den er kriegen konnte, bevor er sich aus dem Staub gemacht hat. Und meinen Wagen. Ciao Carlo, ciao VW, ciao zweihundert Mäuse!« Sie zwang sich zu einem Lachen, doch es hörte sich gezwungen und fremd an, deshalb täuschte sie einen Hustenanfall vor.
Luke legte eine Hand auf ihre. »Ich habe gehört, unser neuer Präsident hat einen kleinen Minderwertigkeitskomplex, weil er kein Arzt ist. Vielleicht beruhigt er sich ja, wenn Sie ein bisschen mit den Wimpern klimpern und nett zu ihm sind.« Er betrachtete sie. Er hatte graue, tief in den Höhlen liegende Augen, die nie auszuweichen, sondern stets ruhig auf sein Gegenüber gerichtet zu sein schienen.
»Alles klar. Ich warte eine Weile ab, wie schlimm es mit ihm wird. Aber ich hatte schon früher mit Männern wie ihm zu tun. Ich kenne diesen Typus.«
Er verzog das Gesicht zu einem trägen Lächeln. Luke war Mohikaner und im kanadischen Reservat in Kahnawake zur Welt gekommen. Sein Vater war nach Brooklyn gegangen, als Luke noch ein Baby war, um einen Job als Stahlarbeiter im Hochbau anzunehmen, wie seine Brüder und Cousins. Früher hatten tausende Mohikaner in Brooklyn gelebt, am Bau der Wolkenkratzer mitgearbeitet und sich mühelos in den luftigen Höhen bewegt. Sie war überrascht, als Luke ihr davon erzählte. Trotz seines markanten Gesichts mit den ausgeprägten Wangenknochen sah er in ihren Augen überhaupt nicht wie ein Indianer aus. »Ich sollte ein T-Shirt tragen, auf dem ›So sieht ein Indianer aus‹ steht«, hatte er gesagt. Und obwohl er dabei gelächelt hatte, war sie beschämt über ihre mangelnde Sensibilität gewesen.
»Ich gehe jede Wette ein, dass Sie Davey bändigen und ihn dazu bringen, dass er Ihnen aus der Hand frisst. Soweit ich weiß, lechzt er nach Komplimenten, besonders über seine Kleidung.«
»Luke, woher wissen Sie nur immer all diese Dinge?«
»Wir Indianer haben ständig ein Ohr am Boden und hören allen möglichen Klatsch. Aber jetzt erzählen Sie mir, weshalb Barry Manheim so interessiert zu uns herübersieht.«
Sie wandte sich nicht um. »Ich ... er ist ein alter Freund. Aus meiner düsteren Vergangenheit.«
»Romantisches Interesse?«
»Wie kommen Sie denn darauf?« Ihre Stimme klang schärfer als beabsichtigt.
»Whoa, Lady. Ich wollte nur Konversation machen.«
»Wie es der Zufall so will ... ja, wir haben eine gemeinsame Geschichte. Ich kann ihn nicht leiden.«
»Ich denke nicht, dass er das weiß, denn er kommt mit einem fetten Grinsen im Gesicht auf uns zu.«
»Toll! Nur zu Ihrer Information, Sie haben auch ein fettes Grinsen im Gesicht.«
»Ich hoffe nur darauf, dass die Funken sprühen, das ist alles.«
»Es werden keine F-... oh, hallo, Barry.«
»Kate, Luke. Was sagt ihr zu dem neuen Präsidenten? Was für eine Überraschung, was?«
»Eigentlich nicht«, meinte Kate. »Wir wussten alle, dass ein neuer kommt.«
»Niemand hat sich die Mühe gemacht, die lokale Presse zu informieren, was nicht nett ist. Wir haben uns doch erst gestern Abend unterhalten, und du hast nichts verlauten lassen, Kate. Das finde ich ziemlich unfreundlich.«
»Ich kannte nur seinen Namen. Und jetzt weiß ich auch nicht viel mehr über ihn.«
»Schwer zu glauben. Eine Direktorin, die von nichts weiß?«
»Ganz genau. Man hat uns im Unklaren gelassen. Hast du nicht irgendwelche Schnüffler in deiner Redaktion, die du auf ihn ansetzen kannst? Ich habe nichts für dich, ehrlich.« Selbst in ihren eigenen Ohren klangen die Worte hohl.
»Meine Güte, Kate, all diese Veränderungen. Und noch dazu in einer Einrichtung, der die Bevölkerung sowieso nicht traut! Kannst du den Leuten einen Vorwurf daraus machen, dass sie wissen wollen, was los ist? Insbesondere die hiesige Zeitung, ein anerkanntes, seriöses Presseorgan. Ich bitte dich.«
Sie durfte nicht vergessen, dass er ihr Feind war. Er hatte Briefe und Leitartikel veröffentlicht, in denen die Schließung ihrer Klinik gefordert worden war. Wenn es nach ihm ginge, wäre sie arbeitslos.
»Tut mir leid, Barry«, erklärte sie knapp. »Im Moment ist alles ein wenig chaotisch, und niemand weiß genau, was passieren wird. Ich melde mich bei dir, wenn ich etwas erfahre, und du erzählst mir, wenn du irgendetwas herausfindest, okay?«
»Und ich dachte ... na ja, egal.«
Was? Er dachte, dass ich um der alten Zeiten willen mein Herz auf der Zunge trage und ihm alles erzähle, was er hören will? Konnte es wirklich sein, dass er nicht mehr wusste, wie schändlich er sie verraten hatte? Glaubte er, es zählte nicht mehr, weil es vor so langer Zeit passiert war?
»Aber du weißt, dass am Donnerstag ein Termin ...«
Wann wurde sie endlich in den Kreis der Erlauchten aufgenommen? »Was für ein Termin?«
»Ich schätze, Gail hat noch nicht bei dir angerufen. Unsere Frau Bürgermeister möchte darüber sprechen, wie wir dafür sorgen können, dass sich die Lage in der Innenstadt entspannt ... dass die Verr-... die psychisch gestörten Patienten nicht länger in unseren Straßen und im Park –«
»Verrückte, wolltest du sagen, hab ich Recht? Oh ja, das wolltest du. Mein Gott, Barry, ich glaube es nicht! Dir ist schon klar, dass die Ambulanzklinik keine Erlaubnis hat, die Patienten von den Straßen und aus dem Park zu holen, oder? Wir dürfen niemanden beherbergen, nicht einmal für eine Nacht. Wir sind eine Ambulanzklinik. Ich kann nicht glauben, dass Gail das nicht weiß! Ich ... ach, vergiss es!« Sie hätte schwören können, dass beide Männer grinsten, beschloss jedoch, es zu ignorieren. Sie holte tief Luft. »Ich werde ganz bestimmt zu dem Termin am Donnerstag kommen. Mit dem größten Vergnügen.«
Sie nahm an, dass Barry sich verabschieden würde – was gab es schon noch zu sagen? –, aber nein. Er sah sie an. »Kate, es tut mir leid, dass mir um ein Haar etwas herausgerutscht ist. Aber ich hoffe, du gehst sehr behutsam mit der Bürgermeisterin um. Sie kann ziemlich feindselig sein.«
»Das weiß ich noch aus der Schule. Sie würde alles tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen, soweit ich mich erinnere.«
»Sei einfach vorsichtig. Es ist nicht gut, sie auf dem falschen Fuß zu erwischen.«
»Ich werde takt- und respektvoll sein, keine Angst.«
»Okay, sei ruhig sarkastisch. Das konntest du schon immer gut. Aber vergiss nicht, was ich gesagt habe.« Er machte auf dem Absatz kehrt, ging hinaus und schlug die Tür des Elephant hinter sich zu. Es hatte eine Zeit gegeben, wo sie verrückt nach ihm war, aber damals war sie noch ein junges Mädchen gewesen, deshalb zählte es vielleicht nicht. Vielleicht zählte nichts von diesen alten College-Geschichten. Aber ihr war klar, dass das Unsinn war. Alles zählte.
Jeder in der Stadt hatte gewusst, dass sie damals mehr als beste Freunde waren. Niemand hatte je versucht, sich zwischen sie zu drängen, nicht einmal Angela, die die meisten Freundschaften erfolgreich gesprengt hatte. Katie und Barry, Barry und Katie. Sie hatten einander alles erzählt, absolut alles. Mit sieben oder acht hatten sie Blutsbrüderschaft geschlossen. Wessen Idee war das eigentlich? Vermutlich seine. Waren Blutsbrüderschaften nicht das ganz große Ding in Jungenbüchern? Jedenfalls hatten sie es beide damals für eine tolle Idee gehalten. Sie hatte mit einer Nadel zuerst in ihre eigene und dann in Barrys Fingerspitze gestochen. Dann hatten sie ihre Finger aneinandergehalten und den feierlichen Schwur geleistet. Der stammte von Barry – er hatte schon immer besser mit Worten umgehen können als sie. Er hatte die Nase kraus gezogen und die Augen zusammengekniffen, wie immer, wenn er intensiv über etwas nachdachte. Und dann waren die Worte über seine Lippen gekommen: »Wir schwören feierlich – schwören bei unserer Ehre, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben, keine Lügen erzählen, keinen Kameraden verraten, solange wir leben. Amen.« Es war so schön, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Keine Geheimnisse, keine Lügen, kein Verrat. Niemand würde einen solchen Schwur jemals brechen, hatte sie damals gedacht.
Doch er hatte es getan, als sie auf dem College waren. Er hatte ihre Freundschaft auf die schlimmste Weise verraten, indem er eine dumme Lüge wiederholt und sich geweigert hatte, sie zurückzunehmen.
»Doc war in seinem Arbeitszimmer, bei verschlossener Tür, nach der Sprechstunde. Mit einer Frau. Jemand, der dort war, hat es mir erzählt«, hatte er starrsinnig erklärt. »Jemand, der niemals lügen würde. Deshalb weiß ich, dass es wahr ist.«
»Du hättest es nicht herumerzählen dürfen!«
»Woher willst du wissen, dass ich es war? Ich sage ja nur, wenn es stimmt, dann stimmt es auch.«
Aber es konnte einfach nicht stimmen! Nicht Doc! Er würde niemals seine Frau betrügen, nicht einmal Angela. »Wer war sie?«, hatte sie gefragt. »Und wer hat es dir erzählt? Du musst es mir sagen!«
Aber er wollte es ihr nicht verraten. »Du machst eine Dummheit.«
»Nein, tue ich nicht.«
»Oh, Kate, du weißt doch, dass du es tun würdest. Du solltest mal dein Gesicht sehen. Du bist außer dir vor Wut und würdest keine Sekunde zögern, jemanden fertigzumachen. Ich kenne dich.«
»Das würde ich nicht! Und jetzt sag es, verdammt noch mal!«
»Ich kann nicht, Katie. Ich bin es dieser Person schuldig, die strengste Vertraulichkeit von mir verlangt. Wer würde mir sonst jemals wieder vertrauen und etwas erzählen?«
Aber wir reden hier von meiner Mutter... und von meinem Daddy! Wen kümmert es, ob dir andere Leute irgendwelche schmutzigen Lügen anvertrauen? Sie hatte die Worte nie ausgesprochen. Auf seinem Gesicht hatte ein Ausdruck gelegen, der sagte: Ich habe Recht, du nicht, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Nichts würde ihn von seinem Entschluss abbringen. Dieser verdammte Barry! Das Vertrauen eines anderen konnte er nicht verraten, ihre Freundschaft hingegen schon.
Seltsam, dass es ihr noch nie aufgefallen war, aber war das nicht oft der Grund, weshalb Journalisten sogar ins Gefängnis gingen? Ihre Quellen durften auf keinen Fall preisgegeben werden, sie waren heilig. Als bestünde so etwas wie ärztliche Schweigepflicht für sie.
»Einen Dollar für Ihre Gedanken.«
Die Stimme riss sie ins Hier und Jetzt zurück. Ihr schwaches Lachen klang nicht allzu überzeugend. »Ich habe an Barry Manheim und mich gedacht und an die Zeit, als wir noch Kinder waren. Wir waren beste Freunde und haben sogar Blutsbrüderschaft geschlossen ... können Sie sich das vorstellen? Gott, wie lange all das her ist!«
»So ist es – Kindheit. Sehr lange.« Sie wartete, dass er fortfuhr, etwas von sich erzählte. Niemand wusste viel über Luke, nur dass er gut mit kranken Menschen umgehen konnte, besonders mit Kindern, und dass er zu den Mitarbeitern von Hillside gehörte, die versetzt worden waren. Und dass er mit Ärzte ohne Grenzen in Afrika oder Bosnien oder sonst einem vom Krieg gebeutelten Gebiet gewesen war. Aber er sagte nichts, sondern lächelte nur. »Ich weiß gar nicht, wie er auf die Idee kommt, dass Sie sarkastisch sind. Mir ist das noch nie aufgefallen.« Sie lachten beide, dann legte er das Geld für den Kaffee auf den Tisch. »Dr. Carlyle ist sehr schnell verschwunden. Er hat sich noch nicht einmal verabschiedet. Ich will ja nicht melodramatisch sein, aber hat irgendjemand mit ihm gesprochen? Weiß jemand, wo er ist? Ich würde ihn gern anrufen.«
Ein Schauder lief ihr über den Rücken. »Sie wollen doch nicht sagen ... glauben Sie etwa, dass ihm etwas zugestoßen ist?«
»Wer zum Teufel kann das schon wissen, Kate. Das hier ist eine private Institution, und sie können machen, was ihnen verdammt noch mal in den Sinn kommt. Aber wieso hat er sich nicht von uns verabschiedet? Das kommt mir seltsam vor.«
»Lassen Sie uns zurück in mein Büro gehen und ein paar Leute anrufen. Ich hasse Unklarheiten. Obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass es eine vernünftige Erklärung für sein Verschwinden gibt«, sagte sie. Doch so sicher war sie sich gar nicht, und es erschien ihr mit einem Mal schrecklich wichtig, der Sache auf den Grund zu gehen.