Читать книгу Lenins Sohn - Marco Richter - Страница 9

Оглавление

4. So ein Gesülze…

Ach, wie gerne wäre ich damals ein großer, starker Mann gewesen, dem das alles nichts ausmacht, der das alles erträgt, der das alles wegsteckt, oder der Lokführer, der ich heute bin. Der seinen Kindheitstraum verwirklicht hat, der keine Angst mehr davor hat, dass ihm körperlicher oder seelischer Schmerz zugefügt wird, weil er im Laufe der Jahre gelernt hat damit umzugehen und jedem Gegenüber, egal ob wohlgesonnen oder nicht, ein freundliches Lächeln schenkt. Aber das war ich damals noch nicht. Ich war ein Kind, ein kleiner Junge, der noch Träume hatte, noch unbefangen war, der noch gar nicht wusste was ein schlechter Charakter ist oder was diese Worte bedeuten. Bis dahin lebte ich in den Tag hinein, wie halt Kinder so leben in der DDR. Kindergarten, Spielen und positiv phantasievoll träumen das, dass Gute, genauso wie im Märchen, am Ende immer gewinnt, und dass die Guten immer die Starken sind. Tja, aber das war halt nur im Märchen so, und ab da an erstmal nur in meinen Träumen. Irgendwie schien sich das Schicksal gegen mich gewendet zu haben, nicht nur zu Hause, und das für eine lange Zeit.

Eigentlich mochte ich den Kindergarten. Ich ging ganz gern dahin. Natürlich gab es gute sowie auch schlechte Tage, wer kennt das nicht. Aber wer glaubt, dass Kinder nicht Lügen und dass es keine Folgen hat, wenn jemand anderes lügt, der hatte sich getäuscht. Also, hatte ich mich getäuscht. In unserem Kindergarten, welcher auf den schönen Namen " Druschba" hörte, gab es eigentlich ganz gutes Essen. Druschba ist russisch. Es heißt übersetzt Freundschaft. Aber Von Freundschaft war da nicht immer viel zu spüren. Weder unter uns Kindern, wo es zwar vereinzelt zwischen ein paar Kids so etwas wie Sympathie gab, noch bei den Erziehern. Wobei ich sagen muss meine Erzieherin Frau Tunger, meine

Lieblingserzieherin Frau Herrmann und die Kindergartenleiterin Frau Gläser waren supernett und mit ihnen kam ich ganz gut aus und sie auch mit mir. Naja, ich war halt ein normaler Junge der bestimmt auch ab und zu mal seine nicht so einfachen Phasen hatte. Aber wir kamen mit einander aus. Aber die Vertretungserzieherinnen waren der Horror. Ein Grauen, irgendwie erinnerten sie mich, jetzt im Nachhinein, an die strenge Schuldirektorin "Frau Knüppelkuh" aus dem Film "Matilda". Nicht nur das Aussehen, auch die Art wie sie mit uns umgegangen sind... Hilfe, da bekomm ich noch heute Gänsehaut. Eines Tages gab es zum Mittag mal wieder Bratkartoffeln. Ich liebe Bratkartoffeln. Der Horror nur dabei war, die gab es nicht bloß so. Mit Sülze. Sülze, das klingt schon so grauenvoll. Ich hasse Sülze. Wenn das glibbrige Zeug nur einen Millimeter in meinem Mund berührt hat, hat es mich schon gewürgt. Das quietschende Geräusch beim Zerschneiden dieses gummiartigen Etwas, hatte bei mir schon Schüttelanfälle ausgelöst. So, nun lag das Zeug auf meinem Teller. Alle wussten, ich esse keine Sülze. Auch meine Kindergartenkammeraden. Ich begann vorsichtig ein paar Häppchen von den Bratkartoffeln zu essen ohne die Sülze zu berühren. Neben mir saß Piere K. Wir haben uns zwar nicht gehasst, waren aber auch nicht gerade Freunde. Er sah was ich mit dem Essen veranstaltete. Seinem Blick entnahm ich schon jetzt, was folgen sollte. Ich glaube er wollte mir zwar nichts böses, aber sich auf meine Kosten einen Spaß erlauben. Die Späße von Kindern können echt gemein sein. Er rief diese Frau, ich nenne sie der Einfachheit halber "Knüppelkuh". Ihre Ähnlichkeit mit dem Original aus dem Film, ist jetzt wo ich so drüber nachdenke, verblüffend. Es könnten Zwillinge sein. Piere sagte: " Der Marco will seine Sülze nicht essen." In Sekundenschnelle stand auch schon dieses monströse Wesen von einer Frau neben mir. Es kam mir vor, als würde das Licht ausgehen. So einen Schatten warf ihre Erscheinung. " Aufessen! " fuhr sie mich an " und zwar erst die Sülze!". Ich dachte, das kann sie jetzt nicht ernst gemeint haben. Doch das hatte sie. Alle Versuche ihr zu verklickern, dass ich das nicht esse und das mir das mit Sicherheit nicht bekommen würde, schlugen fehl. Ich musste vor ihren Augen ein großes Stück Sülze in den Mund stopfen. Als sie kurz ihre Augen von mir abwendete, nutzte ich die Gelegenheit um schnell dieses Stück aus dem Mund in meiner Hand verschwinden zu lassen. Doch da war noch dieser Piere. Und Piere wusste was er zu tun hatte, um jetzt seinen Spaß zu haben. Es kam wie es kommen musste. " Der Marco hat seine Sülze ausgespuckt " rief er petzend in den Raum. In dem selben Augenblick stand diese angsterzeugende Erscheinung neben mit. Sie griff mir das abgebissene Stück Sülze aus der Hand und stopfte es mir, mit bloßen Händen in den Mund. " Du isst das jetzt auf und schluckst das runter. Ich gehe hier nicht eher weg, bis ich gesehen habe, dass Du nichts mehr im Mund hast." Das tat sie dann auch. Piere konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Ich begann zu kauen. Mit jedem Biss, bei dem ich auch noch dieses quietschende, knarzende Geräusch erzeugte, wie wenn man Gummi zerschneidet, würgte es mich mehr und mehr.

Dieses kalte Glibbergefühl...uuaah, grauenhaft. Jetzt kam es wie es kommen musste. Mein Magen wehrte sich. Der wollte das Zeug nicht. Genau wie ich. Ich hatte mich nicht mehr unter Kontrolle. So sehr ich es auch versuchte, schon allein aus Angst vor diesem Knüppelmonster. Aber, ich musste Kotzen. Ich brach alles was im Magen war heraus.

Plötzlich verstummte auch das Lachen von Piere und wich einem heulenden Geschrei. Mein Kotzestrahl hatte ihn erwischt. Zwar nicht mit Absicht, aber zumindest war jetzt das Lachen auf meiner Seite. Alle Kinder sprangen "Iiiih!!!" schreiend und quickend auf, und liefen wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen, um her. Die "Knüppelkuh" sah mein Lachen und "Pfatsch..." hatte ich eine sitzen. Ihre Ohrfeige war fast so heftig wie die von meinem Vater. Mit dem klatschenden Einschlag war sofort Ruhe im Raum. Alle Kinder blieben erschrocken, wie erstarrt, stehen und waren mucksmäuschenstill. Man konnte meine letzten Kotzetropfen auf dem Fußboden aufschlagen hören, welche mir durch die Wucht der Schelle, aus dem

Mund geschleudert wurden. Selbstverständlich gab es eine Meldung an die

Kindergartenleiterin, die ich eigentlich sehr mochte. Die Meldung fiel aber nicht so aus wie ich mir das vorstellte. "Knüppelmonster" packte mich am Arm. Ihre Hände waren vergleichbar mit den Händen eines Metzgers. Ihr Schraubstockgriff umschloss mein kleines Ärmchen, wie eine Würgeschlange, die gerade ein Kaninchen erdrosselt. Ihre Fingernägel bohrten sich in meine Haut, wie eine Reiszwecke in den Arsch, wenn man sich ausversehen drauf gesetzt hat. Es waren regelrechte Einschnitte. So zerrte sie mich zum Rapport. Dort erzählte sie Frau Gläser, das ich absichtlich mit Essen, einen Kindergartenkameraden angespuckt hätte. Mit ihrer Lüge in meinem Beisein, wollte sie mir wohl ihre Macht demonstrieren. Es gelang ihr. Frau Gläser glaubte ihr. Als meine Mutter mich abholte, erzählte sie ihr von dem Vorfall und meinte, dass sich noch so einiges an meinem Verhalten ändern müsse. Ich wurde auch zu meiner Meinung gefragt. Ich versuchte zu erzählen, wie ich es erlebte, also wie es wirklich war. Es war doch klar, dass mir nicht geglaubt wurde. Als Zeichen, das mir meine Mutter keine Lügen durchgehen lässt, und um das der Kindergartenleiterin auch zu zeigen, fing ich mir gleich eine und das noch im Beisein von Frau Gläser. Dann erzählte sie der Leiterin, dass sie das von mir eigentlich gar nicht so kenne und das ich zu Hause immer aufesse und alles esse, auch Sülze. Klar war das nicht die Wahrheit, aber so war das Gespräch relativ unkompliziert beendet. Meine Mutter hasste solche Gespräche und war nach einer augenscheinlichen Scham gegenüber Frau Gläser, nun sichtlich genervt als sie mir beim Anziehen half. Naja und die Schnürsenkel konnte ich mir auch noch nicht binden.... Meine Mutter zerrte mich auf dem Heimweg regelrecht hinter sich her. Mit meinen kurzen Beinchen konnte ich ihren Schritten kaum folgen. Wenn sie mich nicht so fest gehalten hätte wäre ich wahrscheinlich gestürzt. Sie war aber so in ihrer Wut vertieft, dass sie es vermutlich nicht einmal gemerkt hätte und mich bis nach Hause geschliffen hätte. Zu Hause angekommen fing ich mir selbstverständlich erst mal eine von meinem Vater. Das hat mich allerdings nicht so richtig verwundert. Ich war es in so einer Situation schon gewohnt, dass das folgen würde. Was ich aber bei der ganzen Sache nicht verstanden hab, meine Eltern, die Kindergartenleiterin oder sonst wer, hassten Lügen. Aber wenn sie sich untereinander gegenseitig anlügen, glauben sie sich mehr als einen kleinen, fünfjährigen Jungen, der die Wahrheit sagt. Wer glaubt das die Geschichte dieses Tages damit schon geschrieben war, der hatte sich getäuscht und zwar genau wie ich. Denn zu meinem Glück oder besser gesagt Unglück, gab es an diesem Tag auch noch ein Abendessen. Dreimal dürft ihr raten was es wohl an diesem Tag zum Abendbrot gab. Ja genau, richtig geraten. Sülze....

Lenins Sohn

Подняться наверх