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2 Anna und der „Igel“

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ie fühlt sich geborgen in ihrer Kapsel. Seitdem Anna von dem ukrainischen Bewacher geschlagen worden war, hat sie sich in sich selbst zurückgezogen. Es hat sich angefühlt, als wäre sie eine Aufblaspuppe von der sich alle herausragenden Glieder nach innen gezogen hätten und der verbliebene Rest hätte sich eingerollt und bot nach außen nur einen kleinen Teil ihres Rückens.

So kann sie nicht mehr verletzt werden. Nichts kommt an sie heran. Ihre Träume sind schön, weil sie immer wieder in das Mädchenzimmer ihrer Jugend tritt. Es ist wunderbar in strahlendem Rosa tapeziert und auch ihr Himmelbett ist rosa und hat Rüschen und Volants, so wie ihre Mutter meinte, dass ein Mädchenzimmer aussehen sollte.

Sie und Ihre Eltern waren aus Kroatien nach Wien gekommen, ein Umzug, der seit Maria Theresias Zeiten völlig normal war. Kroatien gehört gewissermaßen immer noch zu Österreich. Deshalb war es schnell klar, dass ihre neue Heimat Wien sein würde.

1980 war Tito gestorben und es schien so, als läge plötzlich das Land, das damals Jugoslawien hieß, auf einer riesigen Töpferscheibe, die sich immer schneller drehte. Die einzelnen Provinzen und Ethnien strebten auseinander, wie Tonbrocken auf der sich drehenden Scheibe weil kein Töpfer sie mehr zusammenhielt.

Als Slobodan Miloseviç Serbien anführte, befürchteten alle anderen Ethnien, dass er sie unterjochen würde. Schließlich kam es dann Anfang der 1990er Jahre zum Jugoslawienkrieg mit all seinen schlimmen Geschehnissen, die noch dreißig Jahre danach nicht aufgearbeitet sind. Unsägliches Leid geschah den Menschen in diesem Potpourri der Nationalitäten.

Annas Vater drohte die Einberufung und kurz bevor sie kam, hatten er und seine Frau Jelena-Ana alles, was sie bewegen konnten, zusammengepackt und waren mit der kleinen Anna nach Wien geflüchtet. Gerade noch rechtzeitig!

Es begann eine harte Zeit. Annas Vater hatte studiert und war Lehrer. Er konnte die Sprache der neuen Heimat nicht und seine Abschlüsse wurden nicht anerkannt. In Wien musste er deshalb die Familie mit Gelegenheitsarbeiten durchbringen. Auch Annas Mutter ging Putzen, obwohl sie eigentlich Musik studiert und eine Karriere als Solopianistin angestrebt hatte. Erst spät, als Anna schon ein schönes, junges Mädchen war, hatten die Milisçeks genug Geld beisammen, um ein gebrauchtes Klavier zu kaufen, so dass die Mutter Klavierunterricht geben konnte.

Von dem ganzen Elend hat Anna nie etwas bemerkt. Sie war eine verwöhnte, kleine Prinzessin, für die alles getan wurde, besonders der Vater schirmte sie von der Welt ab, tat alles für sie. Wäre sie nicht zur Schule gegangen, hätte sie nicht gewusst, dass es außer ihrer kleinen Familie eine Außenwelt gab.

In diese wohlbehütete Umgebung, die schon damals gegen die fremde, vermeintlich feindliche Umwelt abgeschottet war, ist Anna nun als erwachsene Frau zurückgekehrt. Es war so schön, sie war wieder Kind und sie ahnt nicht einmal, dass die Welt eigentlich eine ganz andere ist.

Ursprünglich hätte sie Michaela heißen sollen. Ihr Vater war ein Fan des Schlagersängers Bata Illic und der hatte mit einem gleichnamigen Lied einen Nummer 1-Hit in Deutschland. Doch Annas Mutter bestand darauf, ihr den Vornamen ihrer Großmutter zu geben. Jedenfalls wurde Anna die Familiengeschichte so erzählt. Bis zum frühen Tod von Annas Vater erschallte im Hause Milisçek dauernd Musik, gesungen von Bata Illic und meistens lief „Michaela“.

Als ihr Vater starb, fiel Anna aus ihrem Paradies. Der Vater hatte alles für sie und ihre Mutter gemacht. Auch die Mutter lebte in einer idealen Blase, weil ihr Mann alles von ihr ferngehalten hatte. Sie war dem realen Leben nicht gewachsen. So musste Anna mit fünfzehn Jahren den Sprung ins kalte Wasser tun und sich um alles, außer Klavierunterricht und –spielen, kümmern. Es war ein Schock für den Teenager, aber trotz ihrer behüteten Kindheit, stellte sie sich als stark und intelligent heraus. Sie war genau genommen der Haushaltsvorstand und sorgte ab dann für ihre weltentrückte Mutter und ihr eigenes Wohl.

Der unvorhersehbare Schmerz, der ihr in der Gefangenschaft im Reiche der Dobroshinskaja durch den ukrainischen Gefangenenwärter zugefügt worden war, zerstörte die dünne Schicht der Selbstständigkeit und stieß sie zurück in ihr Puppenhaus.

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Eine der Schwestern im Spital, mit Namen Liesel Schwarmberger hat Anna ins Herz geschlossen. Immer wenn sie Dienst hat, zwackt sie jede Minute für Anna ab und setzt sich zu ihr, liest ihr vor oder erzählt ihr einfach nur, was sie in letzter Zeit erlebt hat, dass der Preis für die Semmeln gestiegen war, sie am Wochenende zur Verlobung ihrer Freundin eingeladen oder dass es draußen bitterkalt war.

Liesel meint, dass sie irgendwann zu ihr durchdringen würde und dann durch den kleinen Spalt, den sie damit geschaffen hätte, Anna Stück für Stück wieder hinausbekäme aus ihrer Kapsel.

Heute bereitet sie Anna auf Besuch vor. Sie hat gemeint, dass Anna allein auf der Welt sei und niemand sie jemals besuchen kommen würde, aber heute hat sich ein Anton Kortner gemeldet. Endlich hat Liesel eine kleine Brechstange, die ins Persönliche von Anna geht und mit der sie vielleicht einen Ansatzpunkt findet, ihre Barriere zu knacken oder wenigstens ein klein wenig anzulüften.

„Heut um vier kommt der Anton zu dir, Anna! Weißt‘ der Anton Kortner aus Deutschland. Er sagte mir, ihr hättet euch im Heurigen getroffen! Habt ihr euch da kennengelernt? Ist er ein schöner Mann, was meinst‘? Ich freu mich so für dich. Gleich werde ich dich hübsch machen, damit du dem Anton gefällst. Komm mit, ich begleite dich in die Dusche. Dann föhn‘ ich dir die Haare und werd‘ dich schminken, dass er sich gleich in dich verliebt oder ist er schon verliebt in dich? Du musst mir alles von ihm erzählen, hast g’hört?“

Und so redet sie dauernd auf Anna ein, auch wenn die kein bisschen darauf reagiert. Steter Tropfen höhlt den Stein, denkt sich die Liesel. Sie hat schon einige Rüffel von ihrer Vorgesetzten der Oberschwester auf der Station bekommen, weil sie sich mehr um die anderen Patienten kümmern soll und nicht nur um Anna. Sie muss sich vorsehen, bevor sie deshalb Ärger bekommt.

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„Guten Tag, Herr Fohrer, Sie sind doch Herr Fohrer oder?“, spricht Anton den untersetzten Grauhaarigen an, der den Mercedes von Dr. Pohrer gerade mit so einem Wedel mit gewachsten Stofffäden von allerletzten Stäubchen befreit. Wo er das Gerät nur her hat, fragt sich Anton. Er hat sowas zuletzt in den siebziger Jahren in der Hand seines Schwagers, der Taxifahrer war, gesehen.

„Grüß Gott, der Herr. Ja, der Fohrer Franz bin i. I nehm‘ an, Sie san im Moment der Cheef?“, er zieht das ‚e‘ in ‚Chef‘ lang, wie man es hier manchmal tut.

„Ja, so kann man sagen. Ich bin Anton Kortner und vertrete Dr. Pohrer während seiner Krankheit. Die Frau Linzer hat darauf bestanden, dass ich Ihre Dienste in Anspruch nehmen sollte.“

„Selbstverständlich, Herr Diplomingenieur. Wissens, wenn i niemand farn kann, da bin i arbeitslos. Das is nix für mich. I brauch a anständ‘ge Arbeit. Seit i vierzehn war, hab i g’arbeit‘.“

„So habe ich das noch nie gesehen, aber nun sind wir zusammen, Herr Fohrer,“, sagt der Anton. „Fahren Sie mich bitte zum Otto-Wagner-Spital? Ich denke, Sie wissen, wie man da hinkommt?“

„Na klaa, passt scho! Steigen S’ bitte ein, Herr Diplomingenieur!“, und er hält Anton die hintere Tür auf der Beifahrerseite auf. „Aber sag‘n S’ bitte Franz zu mir. Bei ‚Herr Fohrer‘ fühl i mi ned ang’sproch‘n.“

„In Ordnung, aber nur, wenn Sie mit dem dauernden ‚Diplomingenieur‘ aufhören und ‚Herr Kortner‘ zu mir sagen. Ich setz mich vorne neben Sie.“

„Na, Herr Diplo …, äh i moan Herr Kortner, das geht ga ned. Bitte setz‘n S’ Eana hinten rein. Das g’hört sich so. I bin scho lange Chauffeur und i kan mi ned umg’wehne.“

Seufzend steigt Anton hinten ein. Es hat auch sein Gutes. Er hat sich einige der schmalen Hängeordner aus dem Schreibtisch von Dr. Pohrer mitgenommen. In die kann er jetzt während der Fahrt einen ersten Blick werfen. Die Ordner sind mit ‚InterTrans‘ beschriftet und das interessiert Anton sehr. Kurz drauf pfeift er erstaunt. Er hat ein sehr drastisches Schreiben von Kowaljow darin gefunden, in dem er Pohrer mehr oder weniger die Pistole auf die Brust setzt. Er solle an die Intertrans GmbH in Wien 2 % seiner Anteile verkaufen, sonst würden einige Kredite kurzfristig fällig gestellt. Das Schreiben datiert auf die Woche vor der Klausurtagung im Panhans.

‚Eigenartig! Anfangs war Pohrer doch guter Dinge und er hatte ihm nichts anmerken können. Was ist da passiert, das ihm die Sorgen bereitet und seine Stimmung schlagartig verschlechtert hat? Hatte er erfahren, dass Anzgrund verkaufen wollte?‘ Anton erinnert sich an die angespannte Atmosphäre als Anzgrund an den Frühstückstisch kam und sich ans äußerste Ende gesetzt hatte, weit weg von Pohrer. Pohrer war am Abend vorher und danach ständig fahrig und missgestimmt, sobald Anzgrund in der Nähe war. ‚Waren sie unterschiedlicher Meinung, was die Zusammenarbeit mit Kowaljow anging? Der deutete ja an, dass Anzgrunds Anteile ungefähr zu diesem Zeitpunkt an ihn gefallen wären. Hat er die bekommen, weil Anzgrund es selbst wollte oder hat Kowaljow ihn dazu gezwungen?‘

Er muss unbedingt kurzfristig mit Dr. Pohrer darüber sprechen. Anton ist ganz in Gedanken, als das Auto hält. Vor sich sieht er durch die Windschutzscheibe eine Ansammlung von Gebäuden, die um die Jahrhundertwende 1899/1900 so schön wie damals üblich gebaut worden sein müssen. Sogar der Zaun ringsherum ist schön und links in der Einfahrt sieht man eine Art Käfig aus Stahlstreben, die grünspangrün lackiert sind, die Pförtnerloge, die aber nun leer ist. Die Zufahrt wird jetzt mit einer Schranke geregelt. An der Gegensprechanlage meldet Fohrer sich, das Auto und Anton an.

Er hat als Antwort Anweisungen bekommen, wo er das Auto abstellen soll und wie Anton das richtige Gebäude findet, um Anna zu besuchen. Er fährt noch ein großes Stück auf dem eingezäunten Grundstück, bis sie auf einem Parkplatz zum Stehen kommen.

„So, bitt’schön Herr Dipl … Kortner. I lern ’s scho no. Mir san da. Sie müss‘n drüben ins rechte Gebäude geh‘n. Das Fräulein Anna liegt dort im zweiten Stock auf der offenen Station. Bitte bestell‘n S’ ihr viele Grüße auch von mia, bitt’schön.“

„Danke Franz! Das mache ich. Alle im Haus Pohrer haben mich gebeten, der Frau Milisçek Grüße auszurichten. Sie ist sehr beliebt, so scheint es mir?“

„Oh, die Anna is an Engel aaf Erd‘n. Des können S’ glaubn. I kannt ja no ihr‘n Papa und als der dann g’sturb‘n is, hat s’ Annerl die Mama und sich duachg‘bracht. Da war ’s no ganz jung.“

„Dann kommen Sie doch mit, Franz! Da wird sich die Anna freuen.“

„Na, des ned, Herr Kortner. B’stelln S‘ nur Grüße, bitt’schön! Dann is scho gut!“, und er läuft ums Auto herum, um Anton die Tür aufzuhalten. Und der steigt seufzend und kopfschüttelnd aus. Er kann sich nur schwer an diese alten Konventionen gewöhnen, aber der Franz Fohrer braucht sie wohl und so lässt er ihn.

Er geht in das Gebäude, das Franz ihm genannt hat und steigt die breite, etwas ausgetretene Treppe in den zweiten Stock hoch. Wer die schon alles beschritten haben mag? Diese Gebäude strahlen eine natürliche Würde und Ruhe aus, für deren Erringung sie über hundert Jahre Zeit gehabt haben.

Anton hatte schon einmal vor einem Jahr eine ähnliche Vision, als er mit seiner Frau Dorothee und seinem damaligen Partner Fred Baldow und dessen Frau Margret auf dem Grundstück Am Steinhof war. Wieder sieht er im Geiste emsig strebende Herren in weißen, taillierten Kitteln mit Stethoskopen und Hemden mit Vatermörderkragen. Fast alle tragen an den Seiten militärisch kurze Haare und würdige Bärte.

Er ist im zweiten Stock und geht durch eine zweiflügelige Glastür. Innen sieht alles aus wie seit über hundert Jahren, aber peinlich sauber und instandgehalten. Ihm kommt eine Schwester entgegen, die ihn schon von weitem anlächelt. Er wird erwartet?

„Sie saan b’stimmt der Anton! … Oh!“ Die junge Frau nimmt erschrocken die Hand vor den Mund und wird rot. „Entschuld’gen S‘, Herr Kortner. I hoab der Anna sovüül von ihr‘m B’such azählt, dass Sie schon der Anton füa mi saan. I bin die Schwester Liesel und hab mi a bisserl um S’ Annerl g‘kümmert.“

„Das kann man wohl sagen. Sie haben die anderen Patienten vernachlässigt und sich nur um die Frau Milisçek gekümmert.

Grüß Gott, Herr Diplomingenieur. Ich bin Schwester Karoline, die Oberschwester hier auf der Station. Aber ehrlich gesagt, ist es ganz gut, was Schwester Liesel für Frau Milisçek getan hat. Nur sollte sie damit aufhören. Es hat bisher nichts genutzt und wird wahrscheinlich auch in Zukunft nichts nutzen. Bitte gehen Sie dort hinten in das zweite Zimmer auf der linken Seite Raum 214. Dort finden Sie Frau Milisçek.“

Woher wissen die alle, dass ich komme und dass ich Diplomingenieur bin? Die Linzer muss mich wohl nochmal extra groß angekündigt haben.‘

Anton geht zur angewiesenen Tür, klopft, wartet ein paar Sekunden und geht rein, obwohl niemand geantwortet hat.

Das Zimmer ist groß und hat eine sehr hohe Decke. Es sind drei Betten im Raum, nur in einem sieht er einen Körper, der sich durch die Bettdecke abzeichnet. Es ist nur ein ganz kleines Häuflein Mensch, in Embryohaltung zusammengekrümmt.

Anton tritt zum Bett an die Seite, wo das Häufchen Mensch ihn sehen können müsste. Er sieht Anna und ihre geschlossenen Augen. Sie wirken, als würde sie sie zusammenkneifen. Er zieht sich einen Stuhl in die Gasse zwischen den beiden Betten, setzt sich und sucht unter der Bettdecke nach Annas Hand. Die findet er mit der anderen um ihre Knie verschränkt. Er kann sie nicht greifen, solange sie sie krampfhaft um die Knie schlingt. So legt er seine Hand auf die Bettdecke an die Stelle, wo er ihre rechte Schulter vermutet.

Ihm zuckt ein Bild durch den Kopf, eines, das er vor vielen Jahren im beginnenden Winter gesehen hat, als er ein mageres Igelchen auf einer Straße gefunden hatte. Der kleine Kerl hatte sich zu einer fast perfekten Kugel zusammengerollt und seine Stacheln zeigten nach außen.

Anna hat keine sichtbaren Stacheln, aber alles was sie ausstrahlt, ist Angst, Ablehnung und die Suche nach Schutz, was auf ihn emotional schlimmer als Stacheln wirkt. Da liegt die Frau, die er liebt und die durch seine Schuld gefangen und entführt worden ist.

„Anna! Anna, ich bin es Anton, Anton Kortner. Ich tu dir nichts. Ich besuche dich nur und würde so gern mit dir reden.

Ich soll dich von allen grüßen, vom Dr. Pohrer, von der Grit, dem Peter, dem Herrn Sedlasçek und auch vom Franz Fohrer, der im Moment mein Chauffeur ist, solange der Dr. Pohrer noch im Spital sein muss.“ Als er den Namen vom Franz sagt, scheint sich die Anna ein wenig zu entspannen. Den mag sie wohl. Warum reagiert sie nicht auf seinen Namen, der müsste ihr doch auch vertraut wirken?

Anton meint, es wäre am besten, wenn er ihr alles erzählt, ohne zu aufregende oder bestürzende Details.

„Anna, weiß du noch, wir waren beim Heurigen „Schmidt“, und sind von dort losgestürzt, weil ich das Gefühl hatte, es wäre etwas mit Dr. Pohrer. Ach übrigens, wir müssen da nochmal hin, das haben wir der Frau Schmidt versprochen. Du musst da noch deinen Wein bezahlen und ich will endlich mit dir dort essen gehen.“ Hat sie sich bewegt? Entspannt sie sich? Erreicht Anton sie oder ist das Wunschdenken? Egal! Er macht weiter.

„Den Dr. Pohrer hat einer auf den Kopf geschlagen und als ich die Rettung gerufen hatte und zu deinem Auto zurückgeeilt bin, war es leer. Ich wusste sofort, dass du entführt worden warst. Ich schäme mich so, dass ich dich damals allein gelassen hatte. Der Sohn von der Grit, der Leon war auch entführt worden.“ Anton spürt, dass Anna sich zusammenzieht. Er meint zu spüren, dass sie zittert. „Ich weiß, dass ihr wenigstens eine Zeit lang im selben Raum gefangen gehalten wurdet. Ich war dort und habe mit Leon durch die Tür gesprochen. Er meinte da, dass es dir nicht gut ginge.“ Wieder krampft sie sich zusammen. Sie scheint Angst zu haben. Er sollte das Thema wechseln.

„Ja und dann war da wieder so ein Adamitentreffen, wie es sie auch im Hotel Panhans jeden Abend gab. Ich meinte, du wärst da immer hingegangen oder habe ich das nur geträumt? …“ Anna hat sich ein wenig gestreckt, meint Anton feststellen zu können. Wenn er sie früher auf diese Treffen angesprochen hatte, reagierte sie immer sehr widersprüchlich. Mal sagte sie, dass sie die Treffen genießen würde und dann ein andermal wieder, dass sie davon nichts wüsste und schon gar nicht, dass sie daran teilgenommen hätte. Hat er gerade wieder ihren Widerspruch provoziert?

„Na ist ja auch egal! Jedenfalls kam diesmal die Polizei und hat alle, die dich und Leon gefangen gehalten und dieses Treffen organisiert hatten, festgenommen. Du und Leon wurdet dann befreit und die Schuldigen sind im Gefängnis. Du brauchst keine Angst mehr haben. Dir tut niemand mehr weh.

Ach so, das muss ich dir ja auch noch sagen. Ich bin jetzt an Stelle von Dr. Pohrer der vorübergehende Vorstand, bis er wieder auf den Beinen ist. Alle haben sie mir erzählt, dass du nicht nur die Disposition gemacht hättest sondern, dass du die heimliche Logistikleiterin bist.

Bitte werde schnell gesund! Ich brauche dich und dein Wissen, um bei Pohrer alles richtig zu machen.“

War da wieder eine Bewegung? Die Augen sind immer noch geschlossen, aber er meint, sie wären nicht mehr so krampfhaft zusammengekniffen.

„Mensch! Jetzt hätte ich fast vergessen, dir mein Mitbringsel zu geben. Ich hab dir Manner Schnitten gekauft, nein, nicht ich, die Frau Linzer hat sie für mich besorgt. Von ihr soll ich dich auch grüßen. Pass auf, ich lege sie dir auf deinen Nachttisch und dann gehe ich für heute. Morgen komme ich zur gleichen Zeit wieder. Dann bringe ich ein Buch mit und les dir daraus vor. Kannst du mir sagen, welches Buch ich dir vorlesen soll … bitte?“

Er erhält keine Antwort, aber das war ihm schon vorher klar. Er wird ein Buch für sie aussuchen und morgen schaut er nach, ob sie die Manner Schnitten angebrochen hat. Hoffentlich nehmen sie sie ihr nicht weg. Er muss noch Schwester Liesel darauf hinweisen.

Anton steht auf, stellt den Stuhl wieder an seinen Platz und küsst Anna sanft auf das kleine Stückchen Stirn, das aus dem Bett herausschaut. Waren da nicht eben noch Falten, die sich nun geglättet haben? Ach, er wünscht sich so sehr, dass von ihr ein Lebenszeichen käme, dass sie auf ihn reagierte und er Hoffnung schöpfen könnte.

„Baba, Anna, bis morgen. Ich freu mich schon. Schlaf gut und genieße die Waffeln!“

Er schleicht wie auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, so als würde sie schlafen und er wollte sie nicht wecken.

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Was passiert da? Anna hört eine Stimme. Ein Mann! Er spricht zu ihr. Sie will mit niemandem reden. Sie sollen sie alle in Ruhe lassen. Da, wo sie ist, ist es gut. Es genügt ihr, sie fühlt sich wohl, so in sich gekehrt. Er legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie will, dass er sie wegnimmt, am Anfang jedenfalls, aber jetzt ist es ihr, als würde Wärme von der Hand ausgehen.

Er spricht von anderen, nennt Namen. Bei manchen von denen regt sich was in ihrer Erinnerung, nur ein ganz klein wenig, so als wäre da was, was sie mal gewusst hätte, als wären da Namen dabei, die sie mal gekannt hat.

Was meint er mit Schmidt? Doch Frau Schmidt hat er gesagt. Sie muss noch einen Wein bezahlen, meint er. Ja, wenn sie aufwacht, wird sie den Wein bezahlen, aber jetzt will sie ihre Ruhe!

Der Name Leon macht sie traurig und ängstlich. War da nicht ein Junge, der mit ihr gesprochen hat? Der ist bestraft worden und danach sie auch. Das hat wehgetan. Sie will nicht, dass man ihr wehtut. Er soll aufhören!

Als er dann von Manner Schnitten spricht, hat sie den Geschmack im Mund – ja, ihre heißgeliebten Neapolitaner, an die erinnert sie sich. Die Wände in ihrem Zimmer hatten damals dasselbe Rosa wie die Verpackung. Die hatte ihr schon der Papa mitgebracht, wenn er Lohn bekommen hatte. Sie meint das Knacken der knusprigen Waffeln zu hören und dann die weiche Creme darin auf der Zunge zu spüren. Alles sieht sie im Geiste in Rosa. Er hat ihr Neapolitaner mitgebracht? Wie der Papa! Er muss ihr gut sein. Ihr Papa war ihr auch immer gut.

Und vorlesen will er ihr. Das hat der Papa auch gemacht, wenn er sie abends ins Bett gebracht hat. Am liebsten war ihr Der kleine Prinz. Wird er ihr aus dem Buch vorlesen? Das wäre schön. Sie muss es ihm sagen, aber sie kann nicht. Sie strengt sich an und versucht zu sprechen. Ihr Mund will sich nicht öffnen. Und nun geht er. Aber dass er sie an den kleinen Prinz erinnert hat und an ihren Papa, das hat ihr gefallen. Er muss ihr gut sein. Vielleicht lässt sie ihn in ihr Prinzessinnenzimmer ein. Hoffentlich weiß er, dass er aus dem kleinen Prinz vorlesen soll.

Ausgeschämt!

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