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5 Leon ist verliebt
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ein Rennrad läuft fantastisch. Er hatte es gestern auseinander genommen, gesäubert, die Kette gereinigt und geölt. Es ist fast wie Fliegen. Die paar Kilometer von der Taborstraße bis nach Hause schafft Leon schnell. Sein Rekord liegt bei dreizehn Minuten.
Nicht nur das Radfahren stimmt ihn euphorisch. Er kommt von Tabea und Tabea ist der Mensch, den er gesucht hatte, ohne es zu wissen. Sowas weiß man immer erst, wenn man gefunden hat, was zu einem gehört. Ihre dunkelbraunen Augen blitzen, wenn sie verschmitzt lächelt und ihre wilde Lockenpracht, es sind ganz kleine Löckchen und ihr Haar umgibt ihre kleines Köpfchen wie ein Riesenball, wackelt lustig, wenn sie neben ihm geht und versucht gleichgroße Schritte wie er zu machen.
Er wird bald sechzehn und Tabea ist es schon. Kann man da schon heiraten? Er würde es am liebsten tun.
Aber was ist das … Leon bremst so scharf er kann. Er schafft es nicht mehr. Er sieht nur noch diesen protzigen, schwarzen SUV mit dem eigenartigen Kennzeichen und dessen plötzlich geöffnete Tür. Er kann nicht ausweichen, neben ihm fährt in geringem Abstand ein Lkw, dessen Fahrer auch schon wütend hupt. Hätte er doch einen Helm aufgesetzt, wie es ihm seine Mutter und auch Tabea immer wieder ans Herz gelegt hatten.
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Es schellt! Das wird Anton sein. Karl tun die Knie weh, wenn er länger gesessen hat und aufstehen will. Sein Arzt, der noch ein wenig älter ist, als er, sagte mal zu ihm ‚Karl, wenn du morgens aufwachst und dir tut nichts weh … dann bist du tot.‘ Ist ‘s also eine Gnade, dass seine Knie schmerzen?
Langsam kann er geradeaus gehen, ohne dass ihm schwindlig wird. „Ich komme schon!“, ruft er, bevor sein Besuch wieder geht.
„Grüß dich, Anton. Wo hast‘ denn die Grit gelassen?“ Leider steht Anton allein im Flur vor Karl. Die Grit mag er sehr. So hätte seine Mizzi heute sein können und er hätte einen Enkel, aber so … Karl ist der letzte seines Namens.
„Die Grit ist in heller Aufregung. Leon ist weg und hätte schon längst zuhause sein müssen. Sie wollte nicht weg, sondern will auf ihn warten. Vielleicht kommt sie nach, wenn Leon wohlauf zu ihr zurückgekommen ist.“
„Meinst denn, dass die Ukrainer wieder dahinterstecken?“
„Ich weiß es nicht … Grit befürchtet es jedenfalls“, und Anton seufzt tief.
„Na, komm rein. Ich hab‘ aan Zweigelt da. Willst‘ a Vesper dazu? Es gibt noch frisches Brot, Käse und Liptauer. Ach was frag‘ ich, ich stell ‘s einfach hin und du bedienst dich.“
Anton ist von Franz Fohrer erst zur Würtzlerstraße gefahren worden, wo er die verzweifelte Grit vorfand und nun ist er in Penzing. Den Franz hat er in den Feierabend geschickt.
Sie sitzen sich gegenüber im Erkerzimmer, das mal wieder ein wenig vibriert, während draußen unter ihnen die 10er Bim mit quietschenden Eisenrädern um die Kurve schrammt. Der Liptauer ist scharf und das Brot schön frisch. Schweigend isst Anton eine Schnitte mit einer dicken Schicht Liptauer. Er hat Hunger, das merkt er erst jetzt.
„Dir schmeckt’s, Buah. Das freut mich!“, sagt Karl Prokopeç mit lächelndem Gesicht. „Weißt, es gibt nichts Besseres als ein schönes frisches Brot vom Bauern und eine dicke Schicht Liptauer drauf. In meinem Alter hat man manchmal keine Lust zu essen, aber so ein Liptauerbrot, darauf habe sogar ich immer Appetit.“, sagt er mit vollem Mund und man sieht ihm an, wie gut es ihm tut, sein Brot nicht allein essen zu müssen.
Anton schluckt gerade den letzten Bissen runter. „Du Karl, ich muss dir was gestehen.“ Man sieht, dass es ihm unangenehm ist, was er nun sagen will. „Es gibt da eine Sache und ich weiß nicht, wie ich damit fertigwerden soll: Heute kam einer der Ukrainer ins Büro vom Pohrer, äh ich meine in mein Büro. Kowaljow heißt er und der hat sich aufgespielt, als gehörte ihm dort alles. Ich hätte ihn rausschmeißen müssen, stattdessen habe ich mich von dem bedrohen lassen und klein beigegeben. Der will illegale Geschäfte mit dem Betrieb vom Pohrer abwickeln und ich soll mitmachen. Ehrlich, ich schäm mich dafür, dass ich wohl mitmachen werde, obwohl ich muss.“
Nun hat auch Karl sein Brot gegessen. „Nun mal langsam, Buah. Ein bissel mehr musst‘ mir scho no sag‘n, wenn ich das verstehen soll. Hat er a Recht d‘rauf, so zu tun, als wenn eam da Laden g’hör’n tät?“
„Es scheint so zu sein. Ich habe noch den Pohrer im Krankenhaus besucht und ihn zur Rede gestellt. Der hat mir bestätigt, dass dieser Kowaljow einen großen Anteil an seiner Firma besitzt und wohl seit Kurzem eine Mehrheit haben könnte.
Aber so oder so, eigentlich hätte ich alle seine Vorschläge und Anweisungen ablehnen müssen. Der will ein Geldwäschesystem aufbauen und ich müsste dann mitmachen. Pohrer hat mich angefleht, noch als Übergangsgeschäftsführer weiterzumachen, aber ich kann das nicht mit meinem Gewissen ausmachen. Das ist eine Zwickmühle, in der ich da stecke.“
„Musst‘ jetzt scho was Illegales mach‘n oder ist ‘s nur a Ankündigung?“
„Noch ist nichts passiert und es steht auch noch nichts an, soweit ich weiß. Grit muss da auch mitmachen und die weiß noch gar nichts davon. Ich wollte sie damit nicht auch noch aufregen.
Sag‘ – ich glaube zwar immer noch nicht dran – aber hat Mizzi irgendwas von einem Kowaljow gesagt, wenn du dich mit ihr unterhalten hast?“
Man sieht ihm an, dass es ihm unangenehm ist, dass er den alten Herrn nach Informationen fragt, die er von seiner toten Tochter erhalten haben könnte. Doch in anderen Fällen gab es erstaunliche Parallelen zwischen dem, was ihm in der Realität widerfahren ist und was ihm Karl aus Gesprächen mit der toten Mizzi berichtet hat.
„Na, der Name sagt ma nix, aber i werd‘ ‘s Mizzerl frag‘n. Wann sie ‘n Nam‘n scho amal g‘hört hat, wird ‘s mir des sag‘n, wirst schon sehn.
Aber ich merk, dass du immer noch zweifelst. Grad erst hat mir ‘s Mizzerl g‘sagt, dass ihr die Sissi erzählt hätt‘, dass sie mit dir g‘redt hätt‘, stimmt das?“
Anton verschluckt sich an dem Schluck Wein, den er gerade im Mund hat. Was soll er antworten? Er hat Glück, sein Handy läutet. Er entschuldigt sich mit einem Blick bei Karl, räuspert sich und geht ran.
„Anton? Ich bin ‘s die Grit. Leon ist nach Hause gekommen. Er hatte einen Unfall oder nein, es sieht aus, als wäre er absichtlich darin verwickelt worden. Kannst du kommen?“
„Wie geht es ihm? Ist er gesund?“
„Er hat ein paar Schrammen und sein Rad ist kaputt, aber sonst ist er in Ordnung. Er hat allerdings eine Botschaft mitgebracht und er wirkt auf mich, als hätte er einen Schock oder große Angst.“
„Pass auf, ich fahr jetzt los. Es wird aber dauern. Ich bin beim Karl, wie du weißt und ich habe den Fohrer nach Hause geschickt. Mit der Bim und U-Bahn werde ich sicher eine halbe Stunde brauchen.“
„Egal! Komm so schnell du kannst. Ich hab Angst.“
Karl hat ihn die ganze Zeit nervös betrachtet. Er spürt, dass etwas passiert ist. Auch er ist aufgeregt, ohne zu wissen warum.
„Karl, ich muss weg. Dem Leon ist was passiert. Er ist zwar scheinbar gesund, aber Grits Beschreibung hörte sich drohend an. Schade, aber ich komme bald wieder. Schönen Dank für ‘s Brot. Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß. Baba und Tschüss.“ Mit diesen Worten ist Anton schon aufgestanden und zur Tür gegangen.
„Ja, ja, beeil dich. Ich drücke euch die Daumen. Und ruf mich wirklich an, hörst!“
Die letzten Worte hat Anton schon nicht mehr gehört. Er stürzt durch das unwirtliche halbdunkle Treppenhaus und muss aufpassen, dass er nicht stolpert. Die Stufen haben ein sehr ungewöhnliches Maß und sind sehr hoch. Er hat Angst zu stürzen.
Glücklicherweise steht eine Straßenbahn der Linie 10 in der Reinlgasse und er erwischt sie gerade, bevor die Türen schließen.
Er setzt sich nicht, obwohl etliche Sitze frei sind. Irgendwie hat er den Eindruck, dass es schneller ginge, wenn er stehenbleibt.
Es sind nur zwei Haltestellen, dann ist er an der U-Bahnstation Hütteldorfer Straße und auch da läuft gerade eine Bahn ein, als er unten am Bahnsteig ankommt. Er muss sich auf dem Streckenplan erst einmal kundig machen, wo er aussteigen muss. Schlachthausgasse ist richtig, das sind noch viele Stationen. Er setzt sich trotzdem nicht. Ihm scheint, dass die U-Bahnfahrt endlos dauert. Er fährt schließlich ein Riesenstück.
Als er an seiner Station ausgestiegen ist, muss er sich erst orientieren, in welche Richtung er gehen muss. In der U-Bahn verliert er immer die Orientierung.
Doch fünfunddreißig Minuten nach ihrem Telefongespräch schellt er an Grits Haustür. Er stürmt die Stufen zum ersten Stock hoch und eilt an ihr vorbei in den engen Flur. Er sieht einen Jungen am Küchentisch sitzen. Er hat einen Verband über der Stirn und auch welche an den Handgelenken wo sie in die Hände übergehen. Oben schauen Haarsträhnen aus dem Kopfverband heraus, was lustig aussähe, wenn der Junge nicht so schrecklich blass wäre. Anton hat Leon einmal gesehen, ohne dass der sich daran erinnern kann. Es war in dem Separee bei dem Geheimbundtreffen, als Leon unter dem Einfluss von KO-Tropfen stand und eine geheimnisvolle Frau ihn …