Читать книгу Das Licht ist hier viel heller - Mareike Fallwickl - Страница 10
Оглавление#22UhrNonMention
Jonathan trägt ein rotes Shirt, Jeans und weiße Chucks. Die militärgrüne Jacke hat er über seine Schulter gelegt, er lehnt am Zaun, der den Schulparkplatz umgibt, und tippt auf seinem Handy. Die Sonne scheint, der Schnee schmilzt, es gluckert hinter den Bäumen. Ich sehe mich um, fast alle sind schon weg. Freitags haben sie es eilig, sie wollen eintauchen in den zwei Tage breiten Streifen Freizeit, zum Tanzen und Saufen und Kiffen. Ich muss heute zu Papa, deswegen hab ich mir Zeit gelassen. Für mich ist das Wochenende sowieso gelaufen.
»Hi«, sage ich.
Jonathan schaut auf. Er lächelt und schiebt das Handy in die Hosentasche.
»Hi, Miley«, sagt er.
Auf meinen fragenden Blick hin zeigt er auf meine Haare.
»Ach so«, entgegne ich und bin ein bisschen enttäuscht.
Miley Cyrus hat auch einen Undercut. Oder hatte einen, ich bin bei Promifrisuren nicht auf dem aktuellen Stand. Vielleicht denkt er, ich hätte das ihretwegen gemacht.
»Sieht gut aus«, sagt er.
Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Das ist das erste Mal seit letztem Jahr vor den Sommerferien, dass ich mit Jonathan allein bin. Damals war er noch mein bester Freund, zumindest dachte ich das. Ich dachte auch, dass wir in den Ferien wieder jeden Tag zusammen abhängen würden, im Freibad und am Stausee, abends in der Stadt, am Salzachkai vor dem rauschenden Fluss, um »magische Gewürzmischung« zu rauchen, wie Jonathan es nannte, und zu reden. Dass ich vielleicht sagen könnte, lass uns mehr sein als Freunde, dass ich ihm eine Hand auf den Oberarm legen könnte, anders als sonst, verbindlicher, mit klopfendem Herzen und Hoffnung im Bauch, und, wenn er die Hand nicht abschütteln würde, mich hinüberlehnen könnte zu ihm. Aber dann hat Jonathan auf dem Schulabschlussfest von Simon mit Maja geknutscht, und ab da war alles anders. Er hat den Sommer mit ihr verbracht, im Freibad hab ich ihn nicht gesehen und am Stausee auch nicht. Liv meinte im August, die beiden seien zum Campen nach Slowenien gefahren. Als die Schule wieder anfing, waren sie ein Paar und wir keine Freunde mehr.
»Danke«, murmle ich.
Seit September habe ich mir eine Begegnung wie diese gewünscht. Seit September sehne ich den Tag herbei, einen einzigen Tag, an dem Maja nicht da ist. An dem es zwischen Jonathan und mir wie früher ist. Damit er sich erinnert, wie gut das war.
»Wo ist Maja?«, frage ich und würde mir die Worte am liebsten zurück in den Mund stopfen. Warum rede ich in diesen kostbaren Minuten ausgerechnet von ihr?
»Krank«, sagt Jonathan und zuckt mit den Achseln.
»Mhm«, mache ich.
»Hat sich wohl erkältet«, sagt er.
Mein Körper kribbelt so, ich kann mich nicht konzentrieren. Das Herz slammt sich weg in meiner Brust, springt auf und ab, in meinem Magen winden sich einhunderttausend Zitteraale. Schmetterlinge sind ein Scheiß dagegen.
»Und das bei dem schönen Wetter«, sage ich, und Jonathan fängt an zu lachen.
Es ist ein liebes Lachen, kein fieses, es verletzt mich trotzdem. Er könnte mir doch auch helfen hier. Er mit seinen sauberen Chucks und diesem Grinsen, das mir die Gedanken aus dem Hirn brennt. Es ist das beschissenste aller Gefühle, wenn man unbedingt etwas sagen, etwas loswerden möchte und die Angst sich zu entblößen einem gleichzeitig alle Worte aus dem Mund schneidet. Ich will so sehr zu Jonathan hingehen und so sehr von ihm weglaufen, dass mein Körper in Hilflosigkeit erstarrt. Ich spüre, wie das Handy in meiner Jackentasche vibriert. Das ist bestimmt Spin, der an der Bushaltestelle auf mich wartet.
»Was Gutes vor am Wochenende?«, fragt Jonathan, und ich denke daran, wie vertraut wir einmal waren. Wir haben nie Small Talk gemacht, und wenn ein Schweigen zwischen uns aufkam, war das nicht peinlich. So eine Art Freunde waren wir. Seit der Unterstufe, seit wir zwölf waren, eine arschlange Zeit. Wir haben über alles geredet, nicht übers Wetter.
Dass ich zu Papa muss, sage ich nicht. Vielleicht bietet er mir ja an, was gemeinsam zu unternehmen.
»Du?«
»Ich werd wohl Maja besuchen«, sagt er und lächelt, »hab gerade gegoogelt, wie man Hühnersuppe macht.«
»Du bist ein guter Freund«, sage ich, mühsam schiebe ich die Worte vorbei an der Sperre in meinem Hals, auf Höhe meiner Kehle. Die Zitteraale in meinem Bauch ballen sich zusammen.
»Das stimmt«, sagt er und grinst. »Einen besseren Freund kannst du dir nicht wünschen.«
Die Sonne lässt seine Locken schimmern. Seine Augen sind braun. Ich will ihn fragen, ob wir gemeinsam zur Bushaltestelle gehen oder vielleicht in ein Café, und im selben Moment klingelt sein Handy.
Er hebt einfach ab. Er schaut mich nicht an, lächelt nicht entschuldigend, sagt nicht »Sorry, da muss ich rangehen«. Zack, hat er das Handy am Ohr. Er macht ein paar Schritte weg von mir, hört ihr zu, der anderen, es gibt eine andere, eine andere als mich.
Ich warte.
Jonathan wendet sich ab, er lacht. Und da weiß ich, dass ich gehen muss. Ich darf nicht hier stehen bleiben, es ist unmöglich, hier stehen zu bleiben. Es verrät mich, es sagt alles, auch wenn ich selbst nichts sage.
Schnell drehe ich mich um und laufe die Stufen zur Hauptstraße hinunter.
Wo bist du??, hat Spin geschrieben.
Bin nicht in den Bus eingestiegen.
Warte auf dich.
Ich fahre nicht allein zum Alten!!
Ich schaue auf die Uhr, der nächste Bus kommt in fünfzehn Minuten, das schaffe ich.
Sry, antworte ich.
Coming!
Ich sehe nicht zu Jonathan zurück, und doch habe ich das Rot seines Shirts noch vor Augen.
Ich war fünfzehn bei meinem ersten Kuss, und niemand darf das wissen. Es passierte im Urlaub, sein Name war Torben, er kam aus Duisburg. Er war jünger als ich, ein halbes Jahr nur, auch das kann ich niemals jemandem erzählen. Ich wollte es hinter mich bringen, ich wollte es nicht tun, sondern getan haben, um es abhaken zu können auf dieser Liste, die immer länger wurde, für die ich beinahe schon zu alt war und auf der alle anderen mich längst überholt hatten. Er war mit seiner Familie im selben Hotel, er trug morgens ein Shirt mit dem Aufdruck Whatever bye, das fand ich cool. Seinen Namen weniger und seinen deutschen Akzent sowieso nicht, aber er war da, und er war gelangweilt. Wir haben uns am Strand geküsst, wo sonst, beim Spazierengehen haben wir sehr angestrengt vermieden, Händchen zu halten, und als die Sonne untergegangen ist, habe ich vor lauter Klischeekitsch kaum hinsehen können. Ich hab an Jonathan gedacht, immer an Jonathan, und ich war voller Trotz, ich war voller Wut, weil ich das hier nicht mit ihm tun konnte, weil er mich in diese unmögliche Situation gebracht hatte, die sich anfühlte wie ein Neunzigerjahre-Poster, nur in echt. Ich war kurz davor zu kneifen, doch dann hat Torben gesagt: »Du riechst gut«, und ich wollte mir beweisen, dass ich das kann, gleichgültig sein. Er hat nach Minze geschmeckt und nach Fremdheit. Mein Herz hat nicht schneller geschlagen, nicht einmal ein bisschen, vielleicht war das die größte Enttäuschung. Beim Zurückgehen war es dunkel, und als Torben meine Hand nehmen wollte, hab ich sie in meine Hosentasche geschoben. Ich wollte erleichtert sein, es hinter mich gebracht zu haben, doch angefühlt hat es sich nicht, als sei ich um eine Erfahrung reicher, sondern als hätte ich etwas verschenkt. Und ich würde es nie mehr zurückbekommen.
Im Bus ist es laut und muffig und es stinkt. Spin und ich haben einen Platz ergattert, wir sitzen nebeneinander, ich starre aus dem Fenster und höre ihm nicht zu. Ich spule das Gespräch mit Jonathan ab, wieder und wieder spule ich es ab, mir ist heiß, mein Gesicht brennt. Diese Lässigkeit, die er hat. Steht da im Shirt, im März, in der Sonne und sieht aus, als hätte die Welt immer die richtige Temperatur für ihn. Wollte er mich mit dem Miley-Vergleich verarschen oder war das ein Kompliment? Hat er das ernst gemeint, dass die Frisur gut aussieht? Und was hat er wohl gedacht, als er gesehen hat, dass ich gehe? Er hat mir nicht hinterhergerufen.
Ich hab’s verkackt, und zwar so richtig. Monatelang hab ich gewartet, so viele graue Montage und Dienstage, nicht enden wollende Donnerstage, nicht ein einziges Mal hat Maja geschwänzt, nie war er allein, und dann das. Ich fühle mich, wie wenn man eigentlich weinen muss, es aber nicht geht.
»Was ist los?«, fragt Spin und stößt mir seinen Ellbogen in die Rippen.
»Nichts.«
»Bist du grantig, weil wir zum Alten müssen?«
Ich zucke mit den Achseln und gebe keine Antwort. Ich kann nichts sagen, sonst kommen die Tränen wirklich. Mitten im Bus, zwischen den anderen Schülern. Wahrscheinlich würden mich gleich drei Leute filmen und ein Meme aus mir machen. When you want to enjoy your weekend but you have no fresh underwear, und darunter ich, wie ich heule.
Spin wendet sich wieder seinem Handy zu. Ich könnte schauen, mit wem er chattet, könnte alles lesen, er sitzt direkt neben mir, aber ich hab keinen Platz dafür in meinem Kopf. Außerdem geht es mich nichts an.
Vielleicht mag Jonathan mich doch noch.
Vielleicht hätte ich nicht weglaufen sollen.
Ich lege meinen Kopf an die Scheibe, draußen zieht der Wochenendverkehr vorbei. Am Montag ist Maja bestimmt wieder da.
Als Reto bei uns einzog, bekam Mama dieses Glitzern in den Augen. In den ersten Tagen dachte ich ständig, sie weint gleich. Mein Körper spannte sich an, wegen des Pflichtgefühls, sie in den Arm zu nehmen, aber da waren gar keine Tränen. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass ich sie nur noch nie verliebt gesehen hatte.
Sie fing mich an der Badezimmertür ab, zwei Wochen nachdem er mit Sack und Pack vor unserer Tür gestanden hatte, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.
»Weißt du, Chloé«, raunte sie, »ich muss das jetzt einfach tun, für mich.«
»Wovon redest du?«, fragte ich, ich wollte ins Bett.
Ich hatte nicht gewusst, dass man nicht nur von körperlicher Anstrengung, sondern auch vor lauter Gefühlen müde sein kann.
»Er ist gut zu mir, und ich …«
»Der Fitnessfuzzi?«
»Reto. Er heißt Reto.«
»Ich weiß doch, wie er heißt. Auch wenn ich sonst so gut wie nichts über ihn weiß.«
»Ihr werdet euch sicher noch besser kennenlernen. Er mag euch ja total gern und ist da auch sehr offen.«
»Ja, schön, Mama.«
Sie schaute mich an, sie war noch geschminkt, obwohl es fast Mitternacht war. Vielleicht ging sie mit Mascara und Rouge schlafen, seit Reto neben ihr im Bett lag, wie die Frauen in den Filmen, die man nie so sieht, wie echte Frauen nachts nun mal ausschauen, nämlich scheiße. Ich wich ihrem Blick aus und starrte auf meine Zehen.
»Ich weiß, ich hab euch ein bisschen überrumpelt«, sagte sie, »das war auch alles nicht so geplant. Manchmal muss man eben … also wenn einen die Liebe …«
Sie hob mein Kinn an, sodass ich ihr in die Augen sehen musste. Sie lächelte, und das mit dem Glitzern wurde schlimmer. Aber da hatte mein Körper schon gelernt, dass sie nicht traurig war und keine Zuwendung brauchte.
Nur meinen Segen, den brauchte sie, das begriff ich.
»Ihr seid sowieso bald fort, ihr seid ja jetzt schon kaum zuhause«, sagte sie, »und wenn ihr auszieht, bin ich …«
Sie hob die Schultern, ließ sie wieder sinken. Sie trug eins dieser seidenen, schimmernden Ensembles in hellrosa mit weißer Spitze, darüber einen kurzen Kimono in derselben Farbe. Ich hatte ein ausgewaschenes Nirvana-Shirt an und Boxershorts. Sie ließ mein Kinn los, ich hielt still.
»Ist doch gut, Mama«, sagte ich, und sie sah tatsächlich erleichtert aus.
»Ach, Chloé, ich bin total verli–«
»Wenigstens trinkst du jetzt abends nicht mehr so viel«, sagte ich, duckte mich unter ihrem Arm hindurch und ging ins Bett.
Papas Wohnung ist ein Saustall. Das kann nicht einmal Tante Lisi ändern. Er macht alles schneller dreckig, als sie ihm hinterherputzen kann. Und ich glaube, er macht das absichtlich. Früher war Papa nämlich nicht so eine Sau. Er war auf Sauberkeit und Ordnung bedacht, manchmal hat er mich wahnsinnig gemacht mit seinen ständigen Befehlen, mein Zimmer aufzuräumen, den leer gegessenen Teller in den Geschirrspüler zu stellen, die Couchkissen aufzuschütteln.
»Das hat mit Respekt zu tun«, sagte er stets, »Respekt vor dir selbst. Wie in deinem Umfeld sieht es auch in dir drin aus.«
Nice, Papa. In dir drin ist also pure Verwahrlosung.
»Was wollt ihr essen?«, fragt Papa und zieht die beschrifteten Tupperdosen von Tante Lisi aus dem Kühlschrank.
Für jedes zweite Wochenende bereitet sie Gerichte vor, die Spin und ich mögen. Fleisch! Knödel mit Speck, Rindsrouladen, Schnitzel. Gebraten in Butter. Alles, was es zuhause nicht mehr gibt, seit Reto bei uns wohnt. Mama hat auch vorher auf die Ernährung geachtet, auf ihre und unsere, es gab wenig Fett und Zucker, dafür Vollkornbrot und Dinkelnudeln, viel Gemüse. Aber Reto hat die Eier von unserem Speiseplan gestrichen, Spiegelei, Rührei, die Milch für mein Müsli, die Butter von meinem Brot, Palatschinken, Topfencreme, Schafskäse. Mama ist selig, dass sie jetzt zur Community gehört, dass sie den Hashtag #vegan benutzen kann auf Instragram, zusammen mit #foodporn #ohsoyummy #eathealthy. Der einzige Hashtag, der mir dazu einfällt, ist #fuckyou.
Es ist schlimm genug, dass meine Freunde diesen Social-Media-Limbo mitmachen. Aber bei der eigenen Mutter ist es eine virtuelle Apokalypse. Sie ist mit meinen Schulkameradinnen connected, die finden Mama cool. Die folgen ihr und liken jeden Schmarrn, den Mama postet. Dadurch wissen alle in meiner Klasse Bescheid. Dass sie einen Avocado-Toast gegessen hat. Wo sie trainiert. Was sie dabei anhat.
Und zuhause essen wir Tofu. Sojajoghurt, Zucchinispiralen, Salat mit Blumen, pürierte Himbeeren mit Reissirup. Mama und Reto kochen gemeinsam, wenn man das Raspeln von Gemüse kochen nennen kann, kichern dabei und greifen sich gegenseitig an den Hintern. Dann stellen sie das Grünzeug auf den Tisch, inszenieren und fotografieren es. Sie posten die Bilder und kauen betont genießerisch, mit lautem »Mmmh« bei jedem Bissen. Das hat was mit Achtsamkeit zu tun, man muss sich dabei benehmen, als hätte man noch nie was im Mund gehabt, als hätte man die Fähigkeit zu essen und zu schmecken gerade erst entdeckt, was den Mandelmilchpudding auf der Zunge zum Höhepunkt des Tages macht, zu einem Orgasmus der Geschmacksknospen. Kaum sind sie fertig, schnappen sie ihre Handys, checken Retos Fitness-Page und Mamas Lifegoals-Achieved-Account, ob es schon Likes gibt und wie viele, sie tragen die Kalorien in ihre Apps ein und verziehen sich nach oben. Kurze Zeit später hört man Poltern und Stöhnen. Bei uns zuhause sind die Erwachsenen die smartphonesüchtigen, triebgesteuerten Teenager. Spin und ich räumen die Teller ab, sehen zu, dass wir außer Hörweite kommen, und ich fantasiere von einem saftigen Cordon Bleu, aus dem dicker Käse quillt.
Papa dagegen wird immer fetter. Er hat sich gehen lassen, seit er ausgezogen ist, und das Essen von Tante Lisi tut das Übrige. Er macht keinen Sport mehr, er achtet nicht auf sein Äußeres, dabei war es ihm früher so wichtig. Papa war einer, der lachsfarbene und türkisfarbene Hosen anzog und diese ledernen Slipper, dazu Polohemden, die Haare trug er einen Tick zu lang, in fedrigen Wellen, die Haut stets leicht gebräunt. Typ Segler und Golfer, gediegen, fesch. Und es sah gut aus an ihm. Sonntagmorgen ging er laufen, egal, bei welchem Wetter, und egal, ob wir gern einen Familienausflug gemacht hätten. Er aß ein weiches Ei zum Frühstück, danach zog er sich die Turnschuhe an.
»Das ist wichtig für mich«, sagte er, als müssten wir das verstehen, wenn wir doch in Wahrheit nur verstanden, dass es wichtiger war für ihn als wir.
»Ich stehe im Licht der Öffentlichkeit«, sagte er auch, und es gab viele Sonntage, an denen ich mir wünschte, Papa würde in gar keinem Licht stehen, sondern zuhause bleiben und mit uns Schwarzer Peter spielen.
Jetzt ist er blass, hat Augenringe und tiefere Falten, die Speckrollen wuzeln sich unter seinem Shirt. An seinem linken Auge hat er noch grüngelbe Flecken von der Prügelei mit Reto. Spin und ich haben das ignoriert, nicht einmal einen heimlichen Blick haben wir uns zugeworfen. Daran merkt man, dass wir ein schlechtes Gewissen haben. Was ich mit Papas Büchern unter meinem Bett machen soll, weiß ich nicht. Die Sache war nicht so richtig durchdacht, schon klar. Vielleicht sollte ich sie wirklich verkaufen. Ich kann sie ja schließlich nicht wieder zurückstellen.
Papa schiebt den Rostbraten und die Nockerl in die Mikrowelle. Dass Spin und ich eine Stunde später gekommen sind als sonst, ist ihm nicht aufgefallen. Es ist Freitagnachmittag, vor uns liegen zwei Nächte und ein ganzer Tag in dieser Geiselhaft. Am Sonntag bringt er uns hoffentlich früh nachhause, ich werde sagen, dass ich für die Matura lernen muss, das klappt immer. In Wahrheit wissen wir alle, dass wir es einfach nicht länger miteinander aushalten.
Es ist lächerlich, dass Mama und Papa diese klassische Scheidungsregelung durchsetzen. Jedes zweite Wochenende beim Vater, wozu? Wir essen schweigend mit ihm an seinem klapprigen Tisch, gehen auf Partys, zu denen wir nicht wollen, bleiben dort länger, als es uns Spaß macht, und liegen nach Möglichkeit den halben Samstag im Bett, um nicht mit ihm reden zu müssen. Ich bin fast achtzehn, Spin wird bald siebzehn, wir sind keine Scheidungskleinkinder, die Betreuung brauchen. An den anderen Wochenenden hängen wir auch nicht mit Mama und Reto ab.
Da er nicht einmal ein zweites Schlafzimmer hat, schläft Papa auf der Couch, während Spin und ich uns sein Bett teilen. Papa könnte sich locker eine größere Wohnung leisten. Diese Nummer hier mit dem beengten Platz, der lahmen Gegend am Rand von Hallein, den leeren Flaschen, dem Schmutz, das macht er doch nur, um zu demonstrieren, dass es ihm schlecht geht. Aber wer zur Hölle soll das sehen! Mama kommt nie hierher. Die Einzigen, die seine Misere miterleben müssen, sind Spin und ich.
Meistens sitzt er, wenn wir nachts mit dem Taxi zurückkommen, im Unterhemd vor dem Fernseher und trinkt Bier. Er sieht aus wie ein alter Arbeitsloser, der sein letztes Geld versäuft und bei dem die einzige Veränderung darin besteht, dass seine Augen immer gelber werden.
Hätte ich tote Angehörige, ich würde mich nicht um deren Gräber kümmern. Was schert es die Toten, ob Blumen auf ihren Knochen blühen? Ich würde alles verwildern lassen, die Pflanzen, die Rituale, die Erinnerung. In Prag habe ich verfallene Grabsteine gesehen in hüfthohem Gras, kreuz und quer, schief. Es kam mir vor wie das Natürlichste der Welt. Keine Scheinheiligkeit mehr, kein So-tun-als-ob, kein Fake. Wir konnten den jüdischen Friedhof nicht besichtigen, weil Sabbat war und wir das vergessen hatten. Wir standen vor verschlossener Tür, doch gegenüber, in einer unscheinbaren Mauer, entdeckte ich ein kleines, quadratisches Loch, ein Fenster. Ich starrte lange auf die Gräber, sie waren nicht gepflegt und dabei so schön, die Sonne malte Flecken in das wuchernde Gras. Es war ruhig. So ist es ehrlich, dachte ich, so ist es gut. Ich hätte mich gern hineingeschlichen und zwischen die Steine gelegt, ins Gras wie in mein grünes Bett, ein Ohr auf der Erde, die Augen geschlossen. Nicht mehr so tun, als ob.
»Und?«, fragt Papa. »Was gibt’s Neues?«
Meine Gabel zieht eine Spur durch die Butternockerl, essen kann ich sie nicht. Mein Magen ist voll von der Enttäuschung wegen Jonathan, es passt nichts hinein.
Niemand antwortet Papa.
»Was ist los?«, fragt er zwischen zwei Bissen, ich kann das halbzerkaute Zeug in seinem Mund sehen. »Hast du keinen Hunger?«
Ich schüttle den Kopf.
»Sonst freust dich doch so, wenn’s Fleisch gibt.«
Ich nicke.
»Hast du Ärger mit den Lehrern?«
Ich schüttle wieder den Kopf.
»Probleme mit deinem Freund?«
Ich stehe auf und gehe rüber zur Couch.
»Schön, dass man so tiefgehende, ausführliche Gespräche mit dir führen kann!«, ruft Papa mir nach.
»Du mich auch!«, rufe ich.
Ich hole mein Handy aus der Hosentasche und checke meine Nachrichten. Neben mir gerät der unordentliche Stapel Post ins Rutschen, ein paar Werbezuschriften fallen zu Boden. Das passiert jedes Mal, wenn man sich hinsetzt, weil Papa das Zeug nicht wegschmeißt. Ich hebe sie auf und wundere mich, dass ein Brief dabei ist, ein handgeschriebener Brief. Aber okay, Papa ist alt und seine Freunde sind es auch, die denken vermutlich regelmäßig mit nostalgischen Gefühlen an ihre Faxgeräte. Ich lege alles zurück auf den restlichen Haufen und sehe, dass der Brief gar nicht an Papa adressiert, aber trotzdem aufgerissen ist. Ich schiebe ihn schnell in meinen Pulloverärmel, um ihn später heimlich auf dem Klo zu lesen.
Partysieren heute?, hat Liv geschrieben.
Auf jeden, antworte ich, muss hier weg. Wann und wo?
Netflix bei mir?, hat Stefan geschrieben.
Ich wundere mich für einen Moment. Manchmal vergesse ich, dass er ja denkt, dass wir zusammen sind.
Im selben Augenblick bekomme ich eine neue Message.
Jonathan schickt ein Bild von Miley Cyrus, auf dem sie mit aufgerissenen Augen in die Kamera schaut und ihre spitze Zunge aus dem Mundwinkel nach oben streckt. Es sieht auf merkwürdige Art sexy und teuflisch zugleich aus.
Ich warte mit klopfendem Herzen.
Jonathan.
Seine letzte Nachricht ist vom 11. Juli im Vorjahr.
Nachher bei Simon? Freu mich!
Ich hab den Chat nicht gelöscht, obwohl wir seither nichts geschrieben haben. Nicht ein einziges Wort.
Es kommt nichts mehr, Jonathan ist wieder offline.
Ich frage mich, ob er den Chat auch noch in seinem WhatsApp gespeichert hatte oder ob er mich neu suchen musste in seinen Kontakten.
Papa und Spin klappern mit ihrem Besteck. Ansonsten ist es sehr still.