Читать книгу Das Licht ist hier viel heller - Mareike Fallwickl - Страница 6
ОглавлениеMärz 2017
Erinnerst du dich, dass Worte scharf sein können wie Messer? Weißt du noch um ihre Macht, um diese Schlingen, die sich auf dich legen, mit Eisenspitzen, die dir die Haut aufbrechen und die Knochen? Ich will eine Schlinge sein, ich will ein Messer sein, in Eisen gegossene Unbarmherzigkeit. Ich will dich aufbrechen, ich habe zu lange geschwiegen. Öffne deine Augen. Schau her. Schau nicht mehr weg. Jetzt ist die Stunde für meine Worte. Jetzt ist die Stunde für meine Rache.
Inzwischen bist du alt. Du hast mehr als die Hälfte der Zeit verlebt, die dir gegeben ist. Du hast manche Chancen genutzt, andere übersehen. Du hast Kinder bekommen, ein Haus gebaut, gearbeitet, geschlafen, gegessen, selten getanzt, ins Leere gestarrt mit dem Zweifel im Kopf, ob das alles war. Bin ich dir jemals nah genug gekommen, um einen Abdruck zu hinterlassen? Denkst du noch an mich, plagt dich das Gewissen, fragst du dich, was mit mir geschehen ist?
Ich hab dich geliebt, lass mich das einmal aufschreiben. Lass mich alles einmal aufschreiben. Ich schreibe es weg von mir, raus aus mir, runter von mir. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder sauber. Vielleicht fühle ich mich dann endlich wieder.
Ich habe Angst vor dem Moment, in dem ich abends den Kopf niederlege. Ich fürchte mich nicht vor dem Aufwachen, auch nicht vor dem Tag mit all den Stunden, die sich vor mir auftürmen. Sie lassen sich füllen, und solange ich mich bewege, mich mit Menschen umgebe und ihnen zuschaue, gelangt keine Empfindung zu mir. Ich kann durch die Gassen schlendern, ich kann in einem Café sitzen und leise lächeln, ich kann aufs Meer schauen und mir vorstellen, wie salziges Wasser in meine Lunge dringt. Aber nachts bin ich verloren, mein Segel zerreißt. Sobald mein Kopf das Kissen berührt, fließt alles aus ihm heraus. Wie silbernes, mit einer Flüssigkeit verrührtes Pulver, Blut ist es nicht, oder vielleicht doch. Es rinnt an mir herunter, es ist kalt, und wo es mit meiner Haut in Kontakt kommt, hinterlässt es Wunden, wie Gefrierbrand. Jeden Abend atme ich voller Furcht in dieser Stadt, in der ich nicht zuhause bin, und wage nicht, mich zu rühren, denn dann würde ich das Silberne verteilen, immer weiter verteilen. Ich habe keinen Einfluss auf die Bilder, die mein Kopf hineinprojiziert in die Dunkelheit.
Ich sehe, was sie getan haben.
Ich warte auf den Schlaf. Er ist nicht mein Gegner, aber auch nicht mein Freund, und mit den Menschen ist es nicht anders. Ich habe nie zu den Frauen gehört, die sich Sprachlernkalender in die Küche hängen und glauben, eines Tages müssten sie nicht mehr dort stehen und Rindfleisch schneiden, eines Tages würde das wahre Leben kommen und sie abholen. Jetzt ist es eine ganz andere Art von Frauen, zu denen ich gehöre.
Was bleibt von einem Menschen, wenn man ihm alles nimmt, seine Sprache, seine Umgebung, seine Gewohnheiten, sein Selbstverständnis, wer ist er dann, zurückgeworfen auf sich selbst? Das Licht ist hier viel heller, obwohl das Meer es gierig verschluckt.
Bis zu meinen Zähnen ist mein Mund angefüllt mit Wut.