Читать книгу Das Licht ist hier viel heller - Mareike Fallwickl - Страница 8

Оглавление

9

Wenger sitzt nackt auf dem Bett und googelt sich selbst. Das Kokain hat sich verwaschen, fadet aus, er ist im Zwischenstadium. Noch beflügelt, berauscht, aber nicht mehr aufgestachelt und heiß wie vor wenigen Stunden, nicht mehr überzeugt von sich und mutig, nicht mehr high. Das Runterkommen hat eingesetzt, das Ächzen der Knochen, das Kratzen im Hirn, die nicht länger unterdrückte Müdigkeit. Neben ihm auf dem Nachtkästchen liegen die Downer, er wird zwei oder drei schlucken, damit er schlafen kann, später. Als er jung war, hat er gekifft, um den Übergang vom Koks sanft zu machen, aber jetzt ist er alt, jetzt weiß er, dass das Kiffen ihn nur hinhält, dass er achtundvierzig Stunden später die Nachwirkungen trotzdem fühlt, heftiger sogar. Sein Körper verzeiht ihm nichts mehr. Tagelang ist er dann träge und unwillig, mit Schmerzen an Stellen, an denen einst Leichtigkeit war.

Wenn Wenger seinen Namen eingibt und auf News klickt, sieht er sich selbst, wie er in die Geburtstagstorte fällt. Er sieht sich Reto schlagen, ein ungeschickter, unpräziser Schlag war das, dessen Wirkung nur von der Wucht ausging und vom Überraschungseffekt. Es gibt Bilder von Reto, der am Boden liegt und sich die Nase hält, aus der Blut läuft, es gibt Bilder von Wenger, der die Augen aufgerissen hat und den Mund. Sein Blick ist grimmig, ein bisschen irr, die Zähne sieht man so deutlich, als hätte er jemanden beißen wollen, und wenn Wenger die Fotos vergrößert, glaubt er sogar Speichel zu erkennen, der in Tropfen um sein Kinn fliegt. Er weiß nicht mehr, was er geschrien hat. In dem Video auf YouTube kann er es nicht verstehen, zu laut ist das Gekreisch der Leute.

Patrizia ist die Mimik entglitten, entsetzt ist sie, schief und verzogen, nicht grad attraktiv. Das hat sie nicht geplant, mit Sicherheit nicht, sie hat auf jedem Foto schön aussehen wollen an diesem Abend, und wahrscheinlich ist sie aus diesem Grund noch wütender auf ihn.

Er hat nicht an die Kameras gedacht. In keinem Moment war ihm bewusst, dass er gefilmt werden würde, dass Dutzende Handys bereits auf Patrizia und Reto gerichtet waren, um festzuhalten, wie die beiden den Kuchen anschnitten, so einträchtig, er sieht das jetzt, als wäre es eine Hochzeitstorte. Er hat gar nicht richtig hingeschaut in diesem Augenblick, der ihm im Nachhinein wie losgelöst erscheint, er hat Zoey stehen gelassen und ist hineingestürmt ins Haus, weißen Zorn im Kopf und die Hand schon zur Faust geballt.

Er kann nicht aufhören zu klicken. Die Schlagzeilen wiederholen sich, eine Plattform kopiert von der anderen, zwei oder drei Zitate von Gästen hat er gelesen, auch immer dieselben.

»Er hat Reto den ganzen Abend belauert«, soll Jacqueline Hermann gesagt haben, eine botoxgespritzte Kackbratze, die nichts kann, außer mit einem Bankdirektor verheiratet zu sein. Belauert, von wegen, er hat sich doch ferngehalten von dem muskelbepackten Hohlhirn, hat nicht ertragen, wie der sich in der Villa bewegt hat, als gehöre sie ihm, und hat deswegen den Blick abgewendet.

»Ein Pulverfass, dieser Mann, gemeingefährlich«, hat sich ein gewisser Emanuel Gissbert empört, ein Schönheitschirurg, auf dessen Tisch Jacqueline vermutlich regelmäßig liegt. Die haben’s nötig, die zwei.

Wenger schnaubt. Er und ein Pulverfass? Lächerlich. Es zündet doch eh nichts mehr bei ihm.

Eklat auf Trixies Glamourparty – Ex schlägt Nebenbuhler steht auf der einen Seite, Betrunken & brutal – Schriftsteller lässt Fäuste statt Worte sprechen auf einer anderen. Wer schreibt so einen Scheiß? Und überhaupt: mitten in der Nacht? Es ist fünf Uhr morgens, wieso ist das bereits online? Sitzen da nimmermüde zwanzigjährige Praktikanten abrufbereit vor ihren Tablets, mit einem Starbucks-Grande-Karamell-zehn-Euro-Latte in der Hand, alle Kanäle offen, Facebook, Instagram, Twitter, Snapchat, YouTube, und wenn was passiert, macht’s bim, bam! und sie posten? Wenger kann sich das nicht erklären, er weiß nicht, wie sie funktioniert, diese virtuelle Medienwelt. Das ist Patrizias Metier. Sie ist dort zuhause, zwischen Likes und Streams und Grids. Wenger versteht nicht einmal die Ausdrücke, mit denen sie um sich wirft, keiner davon ist deutsch, sie redet von Scrollen und Leadgenerierung, von Metatags, Contentboxen und Benchmarks. Reines Englisch scheint das allerdings auch nicht mehr zu sein, eher eine Zwischensprache, ein Zwitterwesen mit englischen Gliedmaßen, die immer mehr werden, sich dem deutschen Körper anpassen, sich der deutschen Grammatik unterwerfen, ein Wesen mit einem alten indogermanischen Herzen, das in einem neuen Takt schlägt. Einem Beat.

Früher hat Wenger noch eine Pressemeldung abgeben können, eine Erklärung, bevor die Zeitungen gedruckt wurden. Und ja, doch, das war öfter mal nötig, immer wieder war das nötig, wenn er mit Schnee an der Nase erwischt wurde, mit den falschen Leuten im Hinterzimmer eines Clubs oder damals mit der Kleinen, die ihm zum Ruhm verholfen hat mit ihrem Geburtsdatum. Sie, die der Auslöser für so vieles war und die er seit Jahrzehnten zu vergessen versucht. Die Pressemeldung war dann ein Mantel der Lüge, den er der Wahrheit umlegen konnte, reine Schönfärberei, jeder wusste das, aber es klang halt besser. Mit Worten konnte er ja umgehen, mit ihrer Hilfe konnte er sich rauswinden aus jeder Schlinge. Und auch die Schlingen selbst waren aus Worten geknüpft, aus Berichten und Anschuldigungen, nicht, wie heute, aus belastenden Bildern, für die jeder nur sein Handy zücken muss und gegen die man sich kaum wehren kann anschließend.

Und stets haben sie ihm verziehen, die Leute, haben fast schon erwartet von ihm, dem Schelm der Literaturszene, dass er was Durchtriebenes tat, er hatte einen Ruf, dem er gerecht werden musste. »Der Wenger wieder«, hieß es dann, sie schüttelten die Köpfe, aber mit einem Grinsen, was der sich traut, so müsste man leben, das sagten sie nicht, das dachten sie nur. Und dann gingen sie in die Buchhandlung und kauften seinen neuesten Roman.

Heute hat er keine Zeit, Erklärungen zurechtzuflunkern, er wird ja nicht mal mehr gefragt. Alles geht ungefiltert raus. Niemand bringt es in eine Form, die lesbar wäre. Es wird ins Internet geschmissen wie Plastikmüll in einen Fluss, da dümpelt es dann in der Drecksbrühe, jeder kann es sehen.

Es stinkt ihm, dass der Grund für seine Attacke nirgends genannt wird, weil niemand ihn kennt. Alle denken das Offensichtliche, dass die Eifersucht ihn dazu gebracht hat, sich so zu verhalten. Dabei war es in Wahrheit eine ganz andere Art von Liebe. Diese Banausen, wie konnten sie seine Bücher verkaufen? Sein Puls schnellt erneut hoch, wenn er nur daran denkt. Wie kommt dieses Schweizer Arschloch dazu, sich an fremdem Eigentum zu vergreifen? Hat Patrizia Reto dazu angestachelt? Der kann ja nicht wissen, wie viel die Bücher Wenger bedeuten.

Voll geil, wie er dem Müsliheini die Fresse poliert, kommentiert SpeckHans11. Dem rinnt das Blut runter, das ist aber nicht vegan haha!

Ich hab dem seine Bücher mal echt gern gelesen!!!, schreibt SuzyWuzy37 unter einen der Artikel. Aber jetzt ist er ja wohl am Tiefpunkt!!!1!!

Zum Schreiben taugen seine Hände eh nicht mehr, lästert ElliK.

Wenger klappt den Laptop zu.

Ob er Patrizia anrufen soll? Er könnte sich entschuldigen. Die Wogen glätten. Es gab eine Zeit, da ging das gut. Da ließ sie sich besänftigen von seiner Stimme, von seinem Streicheln, seinem Versichern und Beschwören. Da war alles zwischen ihnen wie flüssiger Honig.

»Glaub mir doch, ich hatte nix mit der«, hat er dann gesagt, »warum sollt ich? Komm schon, Patzerl. Hast du dir die mal angeschaut? Ich steig doch nicht in die U-Bahn, wenn ich daheim in der Garage einen Lamborghini hab.«

Und dann ihr Blick. Wenn der so von unten kam, aus den tränenverhangenen Wimpern, wusste Wenger, die hab ich wieder rumgekriegt, die schmollt nur mehr wegen der Show. Ein, zwei geschickt platzierte Komplimente noch, und sie schnurrt wie ein kleiner Vibrator.

»Und wieso warst du dann in Frankfurt essen mit ihr?«

»Baby, wichtige Besprechung fürs Verlagsmarketing. Ich mein, essen muss der Mensch, oder? Und es waren ja noch andere Leute dabei, der Seb, die Judith, der Atzwanger, kennst sie eh. Die Fotografen haben nur zufällig in dem Moment abgedrückt, als der Seb schon weg war und der Atzi auf dem Klo.«

»Lügst du mich nicht an?«

»Würd ich doch nie. Mit den anderen red ich und ess ich, aber dich, dich lieb ich.«

Und das floss ihm über die Lippen wie geschmolzene Butter. Ein kleines Lächeln zuckte in ihren Mundwinkeln, gegen das sie ankämpfte, allerdings nur noch halbherzig. Wie im Bett, wenn sie sich wand unter ihm, als wollte sie sich entziehen, obwohl sie sich doch eigentlich nur nach seinen Berührungen sehnte.

»Zu dir komm ich nachhaus«, flüsterte er in ihr Ohr und streifte ihre Wange mit den Lippen, da spürte er, wie ihr Körper nachgab. Wie die Spannung wich und alles weich wurde, die Muskeln, der Widerstand, das Herz, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Ihr Körper konnte ihm nichts vormachen, der strebte bereits zum Wenger hin.

»Und bleibst du diesmal?«, fragte sie mit einer Stimme, die noch weinerlich klang, aber mit einem Hauch Versöhnlichkeit, und Wenger kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie ihm nicht mehr böse war. Dass sie lieber ihm glaubte als den Gazetten. Er sagte nichts von der Lesung in Hamburg die Woche drauf und auch nichts vom Recherchestipendium für Indien im Mai.

Er hob ihr Kinn an, sah ihr in die Augen und küsste sie sanft. Dann drängender. Und dieser Seufzer, der ihr entschlüpfte, sagte ihm eh alles. Er öffnete den Reißverschluss ihres Kleides, ließ die Träger von ihren Schultern gleiten, drückte sie an die Wand. Sie zerrann unter seinen Händen.

Es war so einfach.

Und wer, Herr im Himmel, hätte das nicht ausgenutzt?

Wenger schluckt die Valium-Tabletten mit Wasser und legt sich unter die Decke, die sich kühl anfühlt auf seiner nackten Haut. Jetzt kann er Patrizia sowieso nicht anrufen, sie schläft bestimmt. In Löffelchenstellung mit dem Schweizer. Das ist so einer, der erträgt das die ganze Nacht. Dem wird nie der Arm taub, auf dem Patrizias Kopf liegt, der fängt nie an zu schwitzen so Körper an Körper, der will sich nie umdrehen und seine Ruhe haben.

Wenger hat die Jalousien nicht ordentlich geschlossen, schmale Streifen Straßenlaternenlicht fallen herein. Irgendwo bellt ein Hund. Er hasst die neue Wohnung. Er hasst Hallein, diese Kleinstadt mit ihren mittelalterlich engen Gassen, in denen die Leute früher ihre Scheiße einfach aus dem Fenster gekippt haben. Das machen sie eh immer noch, nur halt verbal. Und das Fenster ist das Internet. Er will nicht hier sein, aber wo er stattdessen sein will, kann er auch nicht sagen. Es wäre nur schön, wenn jemand neben ihm läge.

Als er aufwacht, prüft er als Erstes, ob er eine Morgenlatte hat. Hat er nicht. Sein Handy klingelt in der Hose, die er in der Nacht zu Boden hat fallen lassen. Wenger dreht sich stöhnend auf die andere Seite. Dass die Matratze billig war, macht sich bemerkbar, seine Schultern sind verkrampft und schmerzen. Er wollte nicht viel Geld ausgeben für das Bett, wozu auch, er würde es ja doch nur wegschmeißen, sobald er wieder zuhause eingezogen wäre, also hat er ein günstiges schmuckloses Metallgestell gewählt, das auch noch quietscht, wenn er sich schlaflos hin und her wälzt. Eine Hässlichkeit von einem Bett, aber es bekommt ohnehin niemand zu sehen.

Wenger tastet nach dem Wasserglas, öffnet halb die verklebten Augen, trinkt und fällt zurück ins Kissen. Er sollte die Bettwäsche wechseln, das hat er nicht gemacht, seit er hier eingezogen ist. Immerhin klebt kein Sperma drauf. Nicht wie bei Spin, als er dreizehn wurde und Patrizia nichts Besseres eingefallen war, als ihm schwarze Bettwäsche mit Totenköpfen zu kaufen. Sie wollte ihm demonstrieren, dass sie wusste, was cool war. Aber schwarze Bettwäsche für einen Dreizehnjährigen! Barbara hat nie etwas gesagt. Barbara hat alle Sachen gewaschen, gebügelt, gefaltet und zurück in die Schränke gelegt, für Wenger, Patrizia, Zoey und Spin, und wer weiß, was sie dabei alles gefunden und gesehen hat. In den Jackentaschen, auf den Hemdkragen und den Laken. Vielleicht erklärt sich dadurch das Unbehagen, das er ihr gegenüber stets verspürt. Es fällt ihm schwer, Barbara in die Augen zu schauen.

Wenger steht auf, wankt ins Bad und pisst in die Muschel. Er gähnt sich selbst im Spiegel an und zuckt bei seinem Mundgeruch zusammen. Statt sich die Zähne zu putzen, gurgelt er mit dem Whiskey, der auf der Waschmaschine steht, spuckt ihn ins Becken. Er tastet die Tränensäcke unter seinen Augen ab. Da war mal zarte, von winzigen Falten durchzogene Haut, empfindlich, ja, aber nicht aufgebläht wie kleine Taschen. Er drückt mit dem Zeigefinger drauf, es entsteht eine Mulde, die nun langsam wieder ausbeult. Bläulich ist die Haut, ungesund schaut das aus. Schlimmer ist allerdings der Bluterguss neben dem linken Auge, der schillert, da drückt er lieber nicht drauf. Das war ein guter Schlag vom Fitnessfuzzi, eh klar, das ist eine trainierte Sau, eine Kantn, der hebt Patrizia in die Luft und setzt sie auf seinen Schwanz, im Stehen, ohne sich anzulehnen. Wenger hat das mal in einem Porno gesehen und sich gedacht, dass kein Mann das kann, aber wetten, der Schweizerarsch, der kann das.

Nur sagen darf er halt nichts dabei, es ist nicht sexy, dieses Schwyzerdütsch. »Reit mein Schwänzli«, lachhaft, »ich lutsch an deinem Brüstli«, nein. Vielleicht kann der Grasfresser seine Patrizia hochheben, er hat die Kraft, er hat den Körper, aber wenigstens kann er ihr nichts Anregendes ins Ohr flüstern. Wenigstens hat er die Worte nicht.

Wenger seufzt und zieht die Nase hoch. Scheiß Koks, das hat ihm auch nicht geholfen gestern Abend. Keiner wollte mit ihm reden, alle haben ihn gemieden. Ein paar angedeutete Kopfnicker hat er kassiert, als Zeichen des Wiedererkennens, die meisten sind dem Blickkontakt ausgewichen. Dabei hat er sich extra rasiert und die Haare gewaschen. Gut hat er ausgesehen in seinem dunkelblauen italienischen Anzug, der den Bauch kaschiert und ihn jünger macht. Er hat gedacht, er hat das im Griff. Er zeigt allen, dass er drübersteht. Dass er sich nicht versteckt und seine Wunden leckt, nein, weil er gar keine Wunden hat! Aber von wegen Griff, entglitten ist es ihm. Und der Anzug ist auch hinüber, wegen der klebrigen veganen Torte. Wobei es um die eh nicht schade war, die hat bestimmt geschmeckt wie aufgeweichtes Altpapier.

Vorsichtig leckt Wenger mit der Zunge über das Blut auf seinen Lippen. Irgendwas ist da aufgeplatzt, und die Zähne tun ihm weh. Aber eigentlich, wenn er es nüchtern betrachtet, hat er gar nicht so viel eingesteckt. Er hat sich wacker geschlagen dafür, dass der Pflanzenfresser fünfundzwanzig Jahre jünger ist als er und als Fitnesstrainer arbeitet.

Die Prügelei war gleich vorbei, zwei Schläge hat er abbekommen, dann haben ein paar Gäste ihn und Reto auseinandergezerrt und festgehalten. Patrizia hat ihn beschimpft, er kann sich nicht erinnern, was sie gesagt hat. Dass er ein Arschloch ist, wahrscheinlich. Dass er ihren Geburtstag ruiniert hat, ziemlich sicher. Und dass er sich schleichen soll. Was er dann auch gemacht hat. Ein unschöner Abgang, die Meute hat sich geteilt, um ihn durchzulassen, er war voll mit Schlagobersersatz und Blut, alle haben ihn angestarrt. Und gefilmt, offensichtlich.

Er hat sich gefühlt wie ein Wilder, aufgeputscht vom Adrenalin, sein Herz hat gewummert, ein bisschen schwindlig war ihm. Und der Drang, weiter zuzuschlagen, der war gar nicht weg. Den hat er nur mithilfe seiner Vernunft unterdrückt. Eine rationale, erzwungene Entscheidung war das, sein Instinkt hätte ihm befohlen, noch mal draufzuhauen und noch mal. Bis in seine Finger hat es pulsiert, das Gewaltsame. Der Mensch ist, das hat er in dem Moment gemerkt, im Innersten triebgesteuert, impulsiv, zügellos. Er unterdrückt seine wahre Natur, was ihn viel Mühe kostet, er benimmt sich nach ausgedachten Regeln, hängt sich Krawatten um den Hals und lächelt, während er Hände schüttelt, die er lieber brechen würde, und dann reicht ein Satz, ein Blick, ein einziger Gedanke, und der Jähzorn schießt ihm ins Hirn, löscht jahrtausendealte Kultivierungsversuche, er biegt die Gitterstäbe der Zivilisation auf, heraus schießt das Raubtier.

Wenger schaut an sich hinab. Alles hängt. Alles strebt nach unten. Der Bauch, der Penis, die Haut. Die Schwerkraft zieht an ihm, zieht ihn runter, bis er in der Erde liegt irgendwann, dann erst ist sie zufrieden. Tiefer kann man nicht mehr sinken als ins Grab. Wie ein Raubtier sieht er nicht aus. Oder nur wie ein gealtertes, mit kahlen Stellen im Pelz, das nicht mehr richtig fressen kann, weil ihm die Zähne ausgefallen sind, das vom Rudel verstoßen wurde, damit es sich bitte einen Platz zum Sterben sucht.

Er hebt den Bademantel auf und zieht ihn an. Das Badezimmer ist klassisch weiß gefliest, hat ein Waschbecken, eine Duschkabine und den Charme eines Einbauschranks. Dass diese Neubauten auch immer so funktionell seelenlos sein müssen, man könnte glatt die Lebensfreude verlieren darin.

Im Schlafzimmer wühlt Wenger in der ruinierten Hose nach seinem Handy. Es ist 13.27 Uhr, er hat sieben Anrufe von Sebastian, sechs Nachrichten von Patrizia, zwei von Zoey. Er entsperrt das Handy nicht, lässt es aufs Bett fallen. Das wird er sich später anschauen und anhören oder vielleicht auch nicht, er weiß eh, was sie wollen von ihm. Seb hat ihm sicher Schimpftiraden auf die Mailbox gesprochen und gefragt, was da los war letzte Nacht. Zoey hat garantiert einen Screenshot geschickt von einem der Internetartikel und was Verarschendes dazugeschrieben, in dem das Wort peinlich vorkommt. Und Patrizia brüllt ihn bestimmt auf WhatsApp in Versalien an, dass er alles, wirklich ALLES VERSAUT HAT und sie froh ist, dass sie nicht mehr mit ihm verheiratet sein muss. Aber eingeladen hat sie ihn trotzdem. Wahrscheinlich aus Höflichkeit. Oder um ihm zu demonstrieren, wie gut es ihr geht ohne ihn.

Als er auszog, kurz nach diesem unsäglichen Weihnachtsfest, das sie noch zu viert verbrachten, wechselweise in eisigem Schweigen oder hitzigem Gekeife, untermalt von Last Christmas und Eierlikör, half sie ihm sogar, die Umzugskartons zum Auto zu tragen. So dringend wollte sie ihn loswerden.

»Wie oft musst du noch hin und her fahren?«, fragte sie genervt, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Ich würd lieber hierbleiben«, sagte Wenger.

»Am Arsch.«

»Du weißt, dass ich das ernst mein.«

Sie wischte seine Bemerkung mit einer ungeduldigen Bewegung weg.

»Du hast bloß keinen Umzugswagen gemietet, damit alles länger dauert. Damit du es rauszögern kannst.«

»Kannst du es mir verdenken?«

»Und damit du doppelt bemitleidenswert wirkst. Weil du so viel schleppen musst. Und von deiner fiesen Frau rausgeschmissen wirst.«

»Ist ja auch so!«

»Oder du hast aus Geiz keinen gemietet.«

»Ich bin nicht geizig, ich hab dir grad Diamantohrringe zu Weihnachten geschenkt.«

»Die kannst du dir sonst wo hinschieben, deine scheiß Ohrringe«, zischte sie, »die will ich sowieso nicht, ich geb sie dir zurück, dann hast ein Geschenk für die Susi und die Tatjana oder wie deine Miezen heißen.«

»Ich hab keine Miezen!«

»Verdammt, jetzt schleich dich endlich. Die Nachbarn haben schon genug gesehen.«

»Was interessieren mich die Nachbarn!«

»War dir doch immer wichtig, was die anderen über dich denken.«

»Wichtig warst mir nur du.«

Sie sah ihn so abschätzig an, der Blick ging Wenger durch und durch. Da war keine Zuneigung mehr darin, nicht einmal ein Fünkchen.

»Wär ich dir wirklich wichtig gewesen, Maximilian«, sagte sie, »stündest du jetzt nicht hier.«

Sie deutete auf das vollgepackte Auto und die Kisten daneben.

Dann ging sie zum Haus zurück, die Strickjacke eng um den Körper geschlungen.

»Du willst mich doch nur nicht mehr, weil mein Ruhm weg ist! Du warst bloß geil auf das Geld!«, rief er ihr hinterher.

Sie drehte sich nicht einmal um, hob nur die Hand und zeigte ihm über die Schulter den Mittelfinger.

Wenger seufzt. Die klebrige Hose und das Jackett stopft er in der Küche in den Müllsack, zu den Eierschalen und Tschickstummeln. Elisabeth wird das entsorgen, und wie er sie kennt, wird sie sich nicht dazu äußern. Bestimmt ist sie schon auf seine jüngste Eskapade angesprochen worden, beim Metzger und nach dem Gottesdienst, die sind alle gierig nach Informationen über ihren Bruder, wahrscheinlich hat sie gelächelt und etwas Diplomatisches gesagt oder gar nichts. Er sieht sich in der stillen Wohnung um. Er bräuchte ein Radio, irgendwas, das die Geräuschlosigkeit durchbricht, und sei es nur mit pseudofröhlichem Gerede und Hitparadengedudel. Er schaltet den Fernseher ein, sieht aber gar nicht hin, er will bloß Stimmen hören, damit das Leise ihn nicht niederdrückt.

Er schaut in den Kühlschrank. Elisabeth hat Frittaten gebracht und Rindssuppe, aufgeschnittene Semmelknödel, Geschnetzeltes mit Schwammerln und Grießkoch mit Kirschkompott. Die Wohnung hat sie auch geputzt, sogar die Fenster, aber bis die Kinder nächstes Wochenende zu ihm kommen, wird es nicht sauber bleiben. Wenger hofft, dass seine Schwester vorher noch mal den Wischer in die Hand nimmt. Die Mitleidsblicke von Spin und Zoey hat er nämlich satt. Und dass sie bei ihm herumhocken, auch. Weil sie sich sowieso nur langweilen. Weil sie auf seine freundlichen Fragen mit genervten Schnaufern antworten, untrennbar verbunden mit ihren leuchtenden Smartphones, und die Minuten zählen, bis sie wieder wegkönnen. Er versteht nicht, wieso sie überhaupt kommen, er hätte seinen Vater nicht besucht in dem Alter, ums Verrecken nicht. Er hätte sich ferngehalten von diesem geistig vertrockneten Fossil, wenn es noch gelebt hätte, und manchmal ist er fast ein wenig sauer auf den Alten, weil er ihm weggestorben ist, bevor er sich hat abwenden können von ihm.

Die Jungen haben Partys und Gras und Knutschen im Kopf, und sollen sie, es ist ihr gutes Recht, es ist ihre Zeit. Die Zeit, in der es noch nicht gilt. In der sie ausprobieren können, experimentieren, alles kennenlernen, in erster Linie sich selbst, weil sie noch keine Rechnungen bezahlen müssen, keine Verantwortung haben, sich nicht entscheiden müssen für ein Studium, ein Lebensziel, einen Partner. Weil sie keine Kinder haben, die ihnen die Kraft aus den Knochen ziehen und die Lebensfreude und das Geld. Ihm wär es auch lieber, Zoey und Spin würden nicht jedes zweite Wochenende bei ihm rumlungern und ihm zu verstehen geben, wie scheiße sie es bei ihm finden.

Finnegan, was für ein beschissener Name. Sie haben ihn selbst schnell verballhornt, Spinnigan haben sie ihn genannt, als er zwei Jahre alt war und ein spinnertes Trotzkind. Später, mit dreizehn, hat Finnegan sich diesen Spitznamen zu eigen gemacht, von dem Patrizia bei jeder Gelegenheit erzählte, lachend und ohne Rücksicht auf die Demütigung, die das für ihn bedeutete. Er nannte sich Spin, allerdings englisch ausgesprochen, mit s, nicht mit sch. Wenger fand das gut, Patrizia nicht. Finnegan ist gestraft mit seinem Namen. Und mit seiner Mutter.

Sie wussten, dass es ein Junge werden würde, Wenger konnte sich nicht wehren gegen den archaischen Stolz beim Blick auf das Ultraschallfoto, auf den schwarz-weiß verpixelten Minipenis. Ein Sohn. Und dann mitten in diese Glückseligkeit hinein Patrizias Namensvorschlag. Er lachte sie aus, sie war beleidigt, der Streit zog sich über Tage.

»Wer das Kind rauspresst«, schrie sie schließlich, »entscheidet über den Namen!«

Wie sie dastand, mit ungewaschenen Haaren, der brüllenden Chloé auf dem Arm und dem sich wölbenden Bauch, gab Wenger sich geschlagen und dachte, man könnte ja Finn draus machen, das würde schon nicht so schlimm werden. Es war ihm, das würde er aber nie zugeben, einfach nicht wichtig genug. Und wer anerkennend lächelnd hinter dem Namen des Schriftstellersprösslings eine Anspielung auf Finnegans Wake vermutet, den lässt er in dem Glauben. Dabei hat Patrizia das Buch nicht einmal gelesen.

Dennoch bemitleidet Wenger Chloé noch mehr. Sie wurde gleich im Kindergarten Klo genannt. Wie denn auch sonst, man braucht nicht mal Fantasie für diesen Spitznamen, er liegt auf dem Silbertablett. Später, in der Schule, lernte sie, dem Spott mit Gleichgültigkeit zu begegnen. Noch vor ihrem Bruder kam sie auf die Idee, sich umzutaufen, stellte sich überall als Zoey vor, übte wochenlang ihre neue Unterschrift. Wenger griff das mit Erleichterung auf, sehr zum Unwillen von Patrizia. Aber er hat das Gefühl, als könnte er etwas wiedergutmachen, jedes Mal, wenn er seine Kinder Spin und Zoey nennt.

Und eigentlich ist es doch eine schöne Idee, sich neu zu erfinden, sich selbst zu definieren. Nicht zu warten, bis man erwachsen ist und Psychopharmaka braucht, sondern schon als Teenie zu sagen, sorry, Leute, mein Name ist Dreck, den will ich nicht, ich denk mir einen anderen aus. Hätte man ja nicht durchgebracht in Wengers Jugend, als Horst oder Friedrich-Edgar, ausgelacht wär man worden, wahrscheinlich verdroschen. Aber heute geht das, jeder hat Nicknames, Usernames, ein formerly known as hier und ein Pseudonym dort. Be who you want to be.

Die Presse gab Patrizia, als sie und Wenger zusammenkamen, den Namen Trixie, eine Abkürzung, eine Verballhornung, über die sie sich freute. Es klang märchenhaft in ihren Ohren, ein bisschen verrucht, vor allem war es besser als Manu oder Christl oder Gabi. Wenger fand, dass es sich tussig anhörte und kindisch, sehr nuttig. In seinen Augen passte das nicht zur Ehefrau eines angesehenen Schriftstellers. Doch als sie heirateten, liebten die Journalisten ihre Trixie bereits, und sie verkaufte ihre Hochzeitsfotos für einen Haufen Geld an die Kronen Zeitung.

Interessant, dass sie eine Familie sind, in der niemand so heißen will, wie er nun mal heißt. Als wären sie alle lieber jemand anderes. Nur er nicht, Wenger. Und ausgerechnet seinen Namen kennt keiner mehr.

Er nimmt die Tupperdose mit dem Grießkoch und einen großen Löffel, schaufelt alles in sich hinein, ohne sich an den Tisch zu setzen, verzieht das Gesicht, weil es so süß ist. Den leeren Behälter schiebt er zurück in den Kühlschrank, zündet sich eine Zigarette an und schaut beim Rauchen aus dem Fenster. Nichts als Wiese, auf der anderen Seite die hässliche evangelische Kirche. Wenger wohnt im Erdgeschoss, vor der Verandatür sind ein paar große Steinfliesen im Garten ausgelegt, die ihm der Vermieter als Sonnenterrasse angepriesen hat.

»Da können Sie im Sommer sitzen und schreiben, Herr Wenger«, hat er gesagt, »mit Blick in die Berge, und ruhig ist es hier, gut zum Nachdenken.«

Ja, wie schön, zum Nachdenken hat er jetzt genug Zeit.

Wenger drückt den Zigarettenstummel in den übervollen Aschenbecher. Er wird noch eine Valium nehmen und sich wieder ins Bett legen. Er weiß nicht, wohin er sonst soll, draußen scheint die Sonne so grausig, und es gibt niemanden, mit dem er sich treffen könnte, ohne pikiert-neugierige Blicke aushalten zu müssen und Fragen, die er nicht beantworten will, nein, da bleibt er lieber drin, da bleibt er lieber allein. Das Bett ist ein guter Ort, da kann ihm nicht viel passieren, da passiert nämlich sowieso nichts.

Im Vorbeigehen fällt sein Blick auf den Poststapel und den Brief, den er vor ein paar Tagen gelesen hat. Seither liegt er da, und Wenger schaut ihn manchmal an und findet ihn unheimlich. Er weiß nicht, was er davon halten soll, wer ihn geschrieben hat und warum. Wartet sein Vormieter darauf? Sollte er versuchen, ihn ausfindig zu machen? Aber was geht es ihn an, wenn der Kerl zu deppert ist, einen Nachsendeauftrag einzurichten?

Irgendwas an dem Brief ist in ihn gefahren wie ein Stromschlag. Die Wut in den fremden Zeilen hat ihn elektrisiert, er hat sich angesprochen gefühlt und erkannt. Er hat Verständnis empfunden, aber auch Abscheu, Verwirrung, eine diffuse Angst. Und Erregung. Weil diese Energie, die durch die Sprache in den Briefen flirrt, ihn erinnert an die Macht, die er selbst einmal besessen hat. Er hat gespürt, was Worte auslösen können, was auch er einmal auslösen konnte mit Worten, alles eigentlich, Worte waren sein Stoff, sein Atem, sein Wesen. Er konnte sie herumwirbeln, aufeinanderstapeln, Löcher lassen dort, wo es still sein musste. Und die Worte, die auf die Stille folgten, waren noch viel lauter.

Sehr scharf atmet Wenger ein, dann wühlt er in der erstbesten Kiste nach Papier und Stift, findet nichts, reißt die nächste auf. Bücher, Kalender, alte Fotoalben, da, endlich, die Box mit den Bleistiften, alle noch gespitzt, weil unbenutzt, er zieht einen heraus und kniet sich auf den Boden, aus dem Kalender von 2014 reißt er die drei Seiten von hinten raus, wo man sich Notizen machen kann, er setzt an, nicht nachdenken.

Nur nicht nachdenken.

Er lässt sie, schreibt er, mit Schwung, der ihm sofort wieder ausgeht.

Er braucht doch nur, fügt er hinzu, zögerlicher, dann nichts mehr.

Er starrt die Worte an, schief auf den vorgedruckten Zeilen, und da tun sie ihm so weh, dass er sie durchstreichen muss, mit aller Kraft, bis das Papier reißt und die Mine bricht, mit einem Knurren springt er auf, schleudert den Stift gegen die Wand, tritt gegen die Kiste. Der Fuß schmerzt augenblicklich, fast so sehr wie das Herz und die Rippen und alle anderen Knochen. Und das Schreien geht von selbst, er muss sich nicht überwinden, er brüllt und stampft und boxt in die Luft, die Bücher rutschen aus den umgekippten Umzugskartons, er kickt sie durch das Zimmer, eins nach dem anderen. Wertlose, mit Scheiße bedruckte Seiten, alt und vergessen und bedeutungslos, sollen sie durch die Gegend fliegen, sollen sie kaputtgehen dabei. Die Fallhöhe der Menschen bekommt einen extrafesten Tritt, das war das Buch, mit dem der Abstieg begonnen hat, 2008, als der Verlegersohn das Ruder übernommen und Wenger zu diesem langen, pseudophilosophischen Titel gezwungen hat, nachdem alle zehn Romane zuvor nur ein einziges Wort als Titel gehabt hatten. Blut. Siebenstadt. Lichthof. Schößling. Gezeiten. Er hätte sich nie drauf einlassen dürfen. Er pfeffert das hellblaue Buch gegen die Couch, es klappt auf und bleibt liegen, die Buchstaben grinsen ihn an. In seinen Ohren dröhnt plötzlich der Satz aus dem Internet, zum Schreiben taugen seine Hände eh nicht mehr, Wenger hört ihn, als bekäme er ihn ins Gesicht gesagt. Er schaut auf das Chaos und empfindet keine Erleichterung, sein Zorn ist nicht verpufft. Wie kann man so wütend sein, so unglaublich und allumfassend wütend sein, mit dieser eisigen Enttäuschung in jeder einzelnen Faser?

Er zieht den Wohnungsschlüssel aus dem Schloss, öffnet die Tür und stürmt mit offenem Bademantel und wirren Haaren in den Vorraum. Vier Parteien hat das Haus, aber außer ihm ist niemand daheim, die sind alle bei der Arbeit, die werden erwartet und gebraucht. Ohne Schuhe und unter dem Frottee nackt, flitzt Wenger hinaus zum Briefkasten. Ein einzelner Brief liegt darin, sonst nichts, und Wenger weiß sofort, das ist wieder so einer.

Das Licht ist hier viel heller

Подняться наверх