Читать книгу Das Licht ist hier viel heller - Mareike Fallwickl - Страница 5

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Es ist 11.23 Uhr, und Wenger versucht, sich zu Sturm der Liebe einen runterzuholen. Er schaut zu der blonden Schauspielerin, sein Schwanz rührt sich nicht. Er wartet, bis die dunkelhaarige Schauspielerin ins Bild kommt, sein Schwanz rührt sich nicht. Aus der Unterhose hängt er, unter dem T-Shirt lugt er hervor, zwischen Bauch und Gummibund, ein schlaffes, häutiges Ding. Kaum zu glauben, dass es ihm so viel Ärger eingebracht hat. Auf dem Bildschirm ist jetzt der Typ zu sehen, der dieses Siegerlächeln mit viel Zahn hat. Ein typischer Macher. Wenger fragt sich, ob er auch so ein Lächeln hatte, als er noch ein Macher war. Damals hat er keine Vorlage gebraucht, um zu wichsen, da stand er unter Strom und griff sich bei jeder Gelegenheit in die Hose. Oder die Frauen nahmen das in die Hand, und da fällt ihm Valerie ein. An sie hat er lange nicht gedacht. Valerie mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen und dem großen Leberfleck auf dem linken Oberschenkel. Sie benutzte immer Babyöl, so viel davon, dass es glitschte und schlatzte, eine Wonne bis rauf ins Hirn.

Das Kopfkino, in das Wenger eingetaucht ist, beeindruckt seinen Penis nicht im Geringsten. Wenger knetet ihn und schnaubt. Er hat keine Kontrolle mehr. Da ist es nur konsequent, dass auch sein Körper ihm nicht gehorcht. Weil nichts, wirklich gar nichts so läuft, wie Wenger es will. Er packt seinen nutzlosen Schwanz ein, lässt den Gummibund der Hose schnalzen und schaltet den Fernseher aus. Im selben Moment klingelt sein Handy. Gedämpft hört sich das Klingeln an, trotzdem nah, er hebt hastig die Kissen hoch, die Jogginghose mit dem großen Saucenfleck, die Zeitungen.

»Ja?«

»Mäx! Alter Freund, was geht?«

»Sebastian«, seufzt Wenger und fragt sich, wieso er rangegangen ist.

Er hat doch gesehen, dass sein Agent anruft, das ist ja kein Festnetz wie damals, als das Abheben russischem Roulette glich und man nie wissen konnte, wessen Stimme einem ins Ohr schießen würde.

»Hast du den Umzug überstanden? Sorry noch mal, dass ich dir nicht helfen konnte, ich war –«

»Lass gut sein«, schneidet Wenger ihm das Wort ab, sagt dann nichts mehr.

»Na, jedenfalls«, setzt Sebastian neu an, »woran arbeitest du? Hast du schon die Short Story geschrieben für die Anthologie zum Thema Frauen und Flucht? Könnte ein vielbeachtetes Ding werden, ich hab auf der Messe in Leipzig einen Termin mit –«

»Ich bitte dich«, unterbricht Wenger ihn erneut, aber im selben Moment geht ihm die Energie verloren, er weiß nicht, wie er weitermachen soll mit diesem Satz. Mit dieser Freundschaft.

»Ich brauche deinen Text bis Ende März. Walser ist vielleicht dabei und eventuell Kehlmann.«

»Frauen und Flucht, hat dir jemand ins Hirn geschissen?«

»Mäx, das ist eine wichtige Sache.«

»Was könnte ich dazu denn schon liefern? Ich kenn mich damit so gut aus wie mit Gebärmutterhalskrebs. Außerdem, was soll der Schmarrn, Frauen und Flucht, und dann schreiben darüber nur Männer? Ich seh die Feministinnen bereits im Quadrat springen und ihre brennenden BHs schwenken.«

Sebastian lacht laut. Wenger stimmt nicht ein, weil er das nicht als Scherz gemeint hat.

»Apropos, hast du die Debatte mitbekommen um Emma Watson?«, fragt Sebastian. »Die macht doch einen auf Feministin, hat aber grad ihre Titten auf einem Magazincover gezeigt.«

»Nein.«

»Bist du am PC? Ich schick dir den Link.«

Wenger lässt den Blick durch sein Wohnzimmer schweifen. Türme aus Kartons, Wäschehaufen, leere Pizzaschachteln, Ginflaschen, eine vertrocknete Pflanze, einzelne Zeitungsblätter. In einer der Kisten muss sein Laptop sein.

»Nein.«

»Es sind aber sehr schöne Titten.«

»Nein, ich werde dafür nichts schreiben.«

»Mäx«, Sebastian schlägt jetzt einen wattigen Ton an, weich, verständnisvoll, »hör zu. So eine kleine Kreativpause wirft doch einen wie dich nicht aus der Bahn. Jeder hat das von Zeit zu Zeit, ist völlig in Ordnung. Keine Sorge, okay? Mit der Short Story kannst du wieder durchstarten, ein bisschen die Muskeln lockern, neuen Schwung finden.«

»Hast du dir das Exposé angesehen, das ich dir gemailt hab vor meinem Umzug? Vor über zwei Monaten, Seb. Und die Figurenskizzen?«

»Ja, natürlich! Das könnte was werden. Ist gut, dass du am Ball bleibst. Und es ist ja ein Entstehungsprozess, nicht wahr?«

»Du findest es also scheiße.«

»Das hab ich doch gar nicht gesagt.«

»Ich kenn dich seit fünfundzwanzig Jahren, denkst du, ich könnte nicht jeden Furz von dir deuten?«

Wenger knallt den Frust in seine Stimme. Ihm wird heiß, und vielleicht zittert die Hand, mit der er das Handy hält, ein wenig. Der Zorn legt einen Rahmen um sein Blickfeld, trübt ihm die Sicht. Er ist nicht irgendwer. Er hat es nicht verdient, dass Sebastian ihn monatelang auf eine Rückmeldung warten lässt, die dann nicht einmal eine richtige Rückmeldung ist. Dass er ihn abspeist mit Floskeln und diesem Lachen, das klingt wie Spott.

»Eine Witzfigur bin ich für dich«, zischt er. »Verdammt, Seb, ich schreibe keine Kurzgeschichten! Diesen intellektuellen Meta-Scheiß über flüchtende Frauen kaufen vielleicht dreihundert Leute, und die Hälfte davon sind traurige, ungefickte Sozialarbeitsstudentinnen mit Ökosandalen! Wenn das alles ist, wozu mein Name noch taugt, dann schneid ich mir jetzt gleich die Pulsadern auf, und du kannst live dabei sein.«

»Nun mach doch nicht gleich so ein Drama.«

»Du hast mich hofiert, als ich noch dein Goldesel war, den du melken konntest, und kaum lief es nicht mehr so gut, hast du mich fallengelassen wie ein angeschnäuztes Taschentuch.«

»Das ist doch nicht wahr, ich vertrete dich immer noch. Und streng genommen melkt man einen Goldesel nicht, das Gold kommt aus dem A–«

»Es kommt von da, wo du mich lecken kannst«, sagt Wenger und legt auf.

Er würde das Handy gern an die Wand werfen, es krachen hören, es zersplittern sehen. Er unterdrückt den Impuls, das Scheißding hat siebenhundert Euro gekostet. Als man noch den Hörer auf den Apparat knallen konnte, war der Effekt definitiv befriedigender. Er lässt das Smartphone auf die Umzugskiste plumpsen, die ihm als Couchtisch dient, zwischen Apfelbutzen und Werbeprospekte. Es klingelt erneut, Wenger schaut auf das Foto von sich und Sebastian auf dem Display. Sie haben gerötete Gesichter, von der Sonne oder vom Champagner. Im Hintergrund ein halbes Segelboot und ein Stück vom Meer. Es muss Jahre her sein. Er hat die Jacht verkauft, damit Patrizia sie nicht bekommt nach der Scheidung, und er vermisst sie.

Er drückt den Anruf weg, starrt weiterhin auf das Handy. Ein paar Minuten später denkt er, dass Sebastian es wenigstens einmal noch hätte versuchen können.

Er gibt den Tastencode ein, öffnet die Facebook-App und sucht nach Valerie. Es dauert eine Weile, bis er sie findet, weil sie ihn erstens entfreundet hat und zweitens anders heißt, ihr alter Name steht in Klammern. Auf den drei Fotos, die für ihn zugänglich sind, sieht er auch, warum. Sie hat geheiratet. Einen Glatzkopf mit Brille, der auf den Bildern dreinschaut, als hätte man ihm einen Ferrari geschenkt. Bestimmt, weil Valerie auch ihm den Schaltknüppel einölt. Wenger betrachtet ihre Brüste, die aus dem weißen Kleid quellen, wie zwei verlorene Freunde.

Er weiß ja selbst, dass das nichts taugt, was er Sebastian geschickt hat. Sonst hätte er seinen Laptop längst ausgepackt. Sonst würde er weiterschreiben, diesen pulsierenden Rausch erzeugen, die Wörter fliegen lassen und die Finger. Stattdessen denkt er an das Schreiben wie an eine Party, die ohne ihn stattfindet, die Musik hört er schwach und das Gelächter, aber eingeladen ist er nicht, und aus lauter Trotz tut er so, als hätte er eh keine Lust, hinzugehen.

Mit knackenden Knien steht er auf, um sich einen Drink zu mixen. Er sucht nach einer Lobsters-Flasche Tonic Water, er ist ja ein Genießer, ein Kenner, er weiß um die Wichtigkeit eines guten Fillers, gießt aber mehr Gin ein, als er sollte, Aeijst Styrian Pale Gin aus der Südsteiermark, benannt nach dem Dialektwort für Äste, auf denen die Botanicals wachsen. Nach dem ersten Schluck muss er husten. Er wischt sich die Flüssigkeit vom Kinn und spürt die Bartstoppeln. Es amüsiert ihn, ungepflegt zu sein. Er hat beschlossen, dass das dazugehört, dass er das jetzt darf. Keine Selbstbeherrschung mehr, keine Selbstoptimierung, sondern gutes altes Sich-Aufgeben, wie es kaum noch gemacht wird. Man darf sich ja nicht bemitleiden heutzutage. Weil man eh alles erreichen kann, wenn man nur will. Erreicht man es nicht, dann nur, weil man halt nicht genug will. Was Wenger will, ist seine Ruhe. Von den ganzen depperten Ratschlägen, von den Fragen nach seinen Plänen und von den Menschen sowieso.

Für den Cocktail mit den Schlaftabletten würde er nicht Gin nehmen, sondern Whiskey. Ein Klassiker, und auf jeden Fall ohne Blut. Ein leiser Rücktritt, eine stumme Anklage, die in ihrer Stummheit umso lauter wäre. Es besteht die Gefahr, dass man sich von diesem speziellen Mix nur übergibt und gar nicht stirbt, der ist ja nicht blöd, der Körper, aber Wenger würde einfach nach dem Speiben noch mehr trinken, bis er zu schwach wäre zum Kotzen. Das müsste doch funktionieren. Ausgefeilt war der Plan nicht, nur vorhanden, irgendwo in ihm. Er dachte daran, wie man an das vage Vorhaben denkt, nach Schweden zu fahren, »da will ich unbedingt mal hin, irgendwann werd ich das machen«, sagt man zu sich und zu anderen, bei Dinnerpartys zum Beispiel, wenn einer erzählt, dass er dort war. Und dann macht man es nie, oder vielleicht auf einmal doch.

Finden würde ihn Elisabeth, wenn sie mit den Einkäufen käme, und bis dahin hätte noch nicht einmal jemand bemerkt, dass er gestorben ist. Das würde die Leute recht schockieren.

»Als die Schwester gekommen ist, hat er schon gestunken«, würden sie raunen, »so lang hat ihn keiner vermisst. Dabei war er mal berühmt, weißt du, richtig berühmt war der. Und dann so ein Ende.«

Elisabeth würde die Polizei anrufen und weinen dabei. Die Einkaufstaschen wären ihr aus den Händen gerutscht im ersten Schreck, und zum Leichengeruch würde sich etwas Saures mischen, vom geborstenen Glas mit Essiggurkerln. Die Vorstellung gefällt ihm. Es wäre ja nicht das erste Mal, dass einer sich umbringt nur aus Trotz.

Und das Begräbnis! Leidtun würde es ihnen, dass sie ihn fallengelassen haben, mit Scham würden sie zu Boden schauen, den Blicken der anderen ausweichen, jeder für sich geplagt von Gewissensbissen. Die Frauen bleich und mit wasserfester Wimperntusche, einander aus den Augenwinkeln begutachtend, mit der Frage im Kopf: Hat er die auch? Und die da drüben, hat er mit der? Die Männer verschämt wegen der Gefühlsduseleien, überfordert von der Situation, heimlich auf der Suche nach einer besonders Trostbedürftigen, mit der nach dem Leichenschmaus noch was geht. Wenger sieht sie vor sich, die Trauergemeinde, die Reporter und Kameras. Die früheren Freunde und die Möchtegerns, die ihn nicht persönlich gekannt haben, die sich bloß im Glanz seines Namens sonnen wollen. Die Menschen lieben es, wenn einer stirbt, auf den sie neidisch waren.

Wenger denkt über die Musik nach, die gespielt werden soll, während sein Sarg in die Erde rumpelt, das würde nicht leise gehen, nein, mit einem ratschenden, vorwurfsvollen Geräusch würde er ins Grab fallen. Vielleicht Hateful von The Clash. Oder Electric Funeral von Black Sabbath. Patrizia würde sich ärgern über derart Pietätloses, aber sie könnte es ihm nicht mehr reinwürgen. Das letzte Wort hätte er.

Mit besonderem Genuss stellt er sich die Schlagzeilen vor. Einsam und vergessen: Starautor schreibt sein eigenes Ende! Fette schwarze Lettern, daneben das Foto, auf dem er Mitte dreißig war, diesen Wahnsinnserfolg hatte und noch alle Haare. In seiner Fantasie schafft er es auf die Titelseiten der großen Zeitungen, im Internet wird sein Name in jede Timeline gespült, und die Verkaufszahlen seiner Bücher schießen noch mal in die Höhe. Ein kleiner zusätzlicher Nachlass für seine Kinder.

Das wäre ein Abgang mit Verve, ein selbstgewähltes Schlussmachen, kein langsames Abgleiten in die Bedeutungslosigkeit. In der er sonst sitzen würde, später, mit weißem Haar und verknöcherten Fingern, von seinen Romanen brabbelnd, verlacht von seinen Enkeln, die ihm erklären: »Opa, Bücher! Haben wir im Museum gesehen. Krass sinnlos, diese schweren Klumpen aus toten Bäumen.«

Woher weiß man im Leben, wann es Zeit ist zu gehen, wann man aufhören kann zu warten, weil nichts mehr kommen wird außer ein ewiges Zurückschauen?

Wenger nimmt einen großen Schluck, starrt die Umzugskartons an. Er hat keine Ahnung, in welchem davon seine Bücher sind.

Die Wohnung ist zu klein, eigentlich, trotzdem fühlt er sich verloren darin, er findet kein angenehmes Verhältnis zu den Räumen, aber das ist jetzt überall so, ganz egal, wo er ist. Das hat damit zu tun, dass keiner mehr da ist, der den Platz mit ihm teilt, seine Kinder nicht und Patrizia erst recht nicht. Eine Couch hat er und ein Bett, in der Küche einen Tisch und einen einzelnen Stuhl. Der Fernseher steht auf dem Boden, Wenger muss hinunterschauen, wenn er auf dem Sofa sitzt, er bekommt davon Nackenschmerzen, aber allein der Gedanke an Schrauben und eine Bohrmaschine ermüdet ihn derart, dass er den Kopf sowieso nicht mehr heben kann.

Er steht da und fühlt nichts.

Da hört er den Schlüssel in der Tür, schon kommt Elisabeth herein. Eine Wolke aus rot gefärbtem Haar, Tropfen aus Schnee darin, konzentrierte Fröhlichkeit.

»Naaa«, ruft sie munter, »geht’s dir gut?«

Sie bringt kalte Luft, zwei Einkaufstaschen und ein Lächeln mit, das Wenger ihr aus dem Gesicht boxen möchte.

»Du schon wieder«, raunzt er sie an.

Ihrem Grinsen kann sein Grant nichts anhaben, er weiß, sie hat damit gerechnet. Sie ist gewillt, seine üble Laune zu ertragen, und das ärgert ihn noch mehr. Wenger sehnt sich jetzt sehr nach seiner Hose. Aber sie vor seiner Schwester anzuziehen, wäre ein falsches Statement. Sie würde lachen und »Ist doch nix, was ich nicht schon mal gesehen hätt« sagen, und dann stünde so vieles im Raum. Dass sie nackt gemeinsam gebadet haben, als sie noch Kinder waren, dass eine derartige Intimität bei erwachsenen Geschwistern nicht angebracht ist, aber auch, dass Elisabeth keinen Mann hat, bei dem sie hinschauen könnte. Und Wenger erträgt all das Ungesagte nicht, da kann man ja kaum noch atmen, wenn einem die Luft so abgeschnürt wird von dem, was man nicht fühlen will.

Sie wedelt mit einem Packen Post in der Luft herum, sieht sich nach einem Platz um, wo sie ihn hinlegen könnte.

»Hab ich aus deinem Briefkasten geholt«, sagt sie und schält sich aus dem Wintermantel. »Steht aber noch der alte Name drauf.«

Die Post legt sie auf den wachsenden Haufen aus Werbeprospekten und Zuschriften, den Wenger sich noch kein einziges Mal angeschaut hat. Wozu auch, nichts davon kann an ihn adressiert sein, er hat das Namensschild auf dem Briefkasten nicht ausgetauscht. Denn was taugt ein Versteck, wenn man außen hinschreibt: Hier bin ich?

»Weiß ich«, entgegnet er, »lass das so.«

Seine Schwester zuckt mit den Achseln und fragt nicht nach.

»Das ist nur für den Übergang«, hat er am Anfang gesagt, und geglaubt hat er es auch.

Nur ist es inzwischen so wie fast immer im Leben, dass der Übergang länger dauert als geplant und irgendwie nicht mehr aufhört.

Wenger trinkt seinen Gin Tonic mit einem Schluck aus.

»Um die Uhrzeit?«, fragt Elisabeth und runzelt die Stirn.

Wenger seufzt. Es ist nicht leicht, ein unverfängliches Gespräch zu führen, wenn man soeben noch drüber nachgedacht hat, sich umzubringen.

»Du solltest auch was trinken, dann wärst du entspannter«, sagt er.

Elisabeth reagiert nicht, nur die Runzeln auf ihrer Stirn werden tiefer. Ein einziges Stirnrunzeln, die Frau. Und dazu dieser pseudooffene Ich-verurteile-dich-nicht-Blick. Drei Jahre älter ist seine Schwester, und vielleicht erklärt dieser Altersunterschied das Mütterliche, das sie ihm gegenüber hat. Oder vielleicht liegt die Erklärung darin, dass ihre Mutter ihnen keine Mutter war. Es stimmt, Wenger hat Elisabeth gebraucht. Als er klein war, hat er sie gebraucht. Sie hat ihn umsorgt, ihm bei den Hausaufgaben geholfen und sich Geschichten ausgedacht für ihn, wenn er zu ihr ins Bett gekrochen ist. Sie hat geflüstert, ganz nah an seinem Ohr, um das Geschrei der Eltern im Wohnzimmer zu übertönen. Eigentlich hätte sie Schriftstellerin werden sollen, nicht er. Und Kinder hätte auch sie kriegen sollen.

Aber das ist bald fünfzig Jahre her. Jetzt hat er das Bemuttern satt. Sich zugrunde richten kann er allein. Es stört, wenn man mitten im Zugrunderichten steckt und dauernd jemand kommt, der einen aus dem Sumpf ziehen will.

Elisabeth schleppt die Einkaufstaschen in die Küche, er hilft ihr nicht. Er gibt ihr auch kein Geld, obwohl er davon wesentlich mehr hat als sie, schließlich arbeitet sie als Integrationslehrerin, und er kann sich nicht vorstellen, dass sie viel verdient. Nebenbei engagiert sie sich bei der Diakonie, ehrenamtlich. Sie muss sich halt irgendwie beschäftigen, die Tage sind lang und die Winter erst recht. Das Mütterliche ist ihr geblieben, ist zu ihrem vordersten Wesenszug geworden. Irgendwann entwickelt man keine neuen Fähigkeiten mehr, da muss man mit denen arbeiten, die man hat. Trotzdem hofft Wenger, dass Elisabeth bald das Geld ausgeht und der Wille, ihm zu helfen, auch. Er kann schlecht umgehen mit dieser Art der Zuwendung, hinter der so viel eigene Bedürftigkeit steckt.

»Ich hab die Schokolade gekauft, die du so gernhast«, ruft sie aus der Küche, und sie bräuchte gar nicht zu schreien, die Wohnung ist ja nicht groß. Sie taucht im Türrahmen auf und wedelt mit zwei großen Nougattafeln. Immerzu wedelt sie mit irgendwas. Wenger gießt sich einen neuen Gin Tonic ein. Er sollte jetzt Danke sagen, sie wartet auf ein Danke, er sieht es an ihrem Gesicht. Sie schaut ihn so direkt an. Er nickt. Elisabeth legt ein Lächeln über ihre Enttäuschung. Das kann sie, das ist sie gewohnt. Das macht sie schon ihr ganzes Leben lang. Sie dreht sich um, packt weiter die Einkäufe aus.

»Ich hab dir Gulasch gekocht«, ruft sie, »und Reisfleisch und Sellerieschaumsuppe. Ist wieder alles beschriftet.«

Er hört, wie sie die Plastikbehälter in den Kühlschrank schiebt. Auf jedem klebt ein kleiner Zettel mit ihrer sorgfältigen, runden Schrift, manchmal malt sie kleine Herzen oder Smileys dazu, und dann schafft er es kaum, das Essen runterzuschlucken, weil so viel in ihm aufsteigt. Sie hat aufgehört, ihm frische Zutaten zu kaufen, nachdem er alles vergammeln hat lassen. In den ersten zwei Wochen hat sie die verschimmelten Tomaten und Karotten entsorgt und die Nase über den McDonald’s-Schachteln gerümpft, dann ist sie dazu übergegangen, ihm fertige Mahlzeiten zu bringen.

Und es ist unmöglich, die Gerichte nicht zu essen. Zum einen, weil Elisabeth eine fantastische Köchin ist, da kann kein labbriger Burger mithalten, zum anderen, weil der Hunger stärker ist als der Stolz. Spätestens in der Nacht übernimmt sein knurrender Magen die Kontrolle. Auch einer, der sich aufgegeben hat und um den sich keiner mehr schert, hat noch Hunger.

»Ich mag keinen Sellerie«, sagt Wenger.

Elisabeth packt die leeren Tupperdosen ein, die in der Küche rumstehen, er hat sie nicht mal abgewaschen. Sie kommt ihm entgegen, schnauft erschöpft. Er sollte ihr einen Kaffee anbieten, sie fragen, ob sie sich setzen will. Er sollte mit ihr reden. Bevor Patrizia ihn rausgeworfen hat, hat er einmal in der Woche mit seiner Schwester telefoniert, und das sogar gern. Am Telefon funktionierte ihre Beziehung, meistens rief er sie aus dem Auto an, erzählte, wohin er gerade fuhr, was er dort tun würde, hörte sich die Geschichten über die Jugendlichen in ihren Klassen an, die ständig was beschädigen, weil sie selber so kaputt sind. Aber wenn sie ihm gegenübersteht, kommen nur Bosheiten heraus aus ihm, weil er permanent Angst hat, dass sie herkommt und ihn in die Arme nimmt, und dann.

»Nächstes Mal back ich dir Palatschinken, die kannst du als Frittaten essen«, sagt sie und lächelt wieder, »dazu mach ich dir eine gute Rindssuppe.«

Wenger schaut auf ihren üppigen Busen in dem hellblauen Strickkleid. Dick ist Elisabeth nicht, aber dünn auch nicht. Eine hübsche Frau Ende fünfzig, er versteht nicht, warum sie keinen Mann gefunden hat. Sie ist gebildet und kann kochen, eine von den Guten, die einem nicht von einem Konkurrenten ausgespannt wird, weil es gar keine Konkurrenz gibt, die einem treu bleibt bis zum Tod. An ihren Zähnen ist ein bisschen Lippenstift. Als Wenger das sieht, rührt es ihn, und diese Rührung macht ihn aggressiv.

»Bin ich dein neues Betreuungsobjekt?«, giftet er. »Oder dein Ersatzkind, weil du keins kriegen hast können?«

Für einen Augenblick zuckt ein alter Schmerz durch ihre Augen, und ihm ist klar, dass er sie dort getroffen hat, wo er sie treffen wollte. Gut fühlt es sich trotzdem nicht an.

»Du bist mein Bruder«, sagt sie.

»Du tust, als wär ich ein halbverrecktes Tier, das du aufpäppeln musst, weil es sich was gebrochen hat.«

»Dein Herz ist gebrochen«, entgegnet sie ohne Ironie.

Wenger macht ein ächzendes Geräusch. Er hat nicht gefrühstückt, und jetzt ist er betrunken. Er möchte sich hinsetzen und das Gesicht in die Hände legen, doch es besteht die Gefahr, dass er dann anfängt zu weinen.

»Das freut dich doch«, zischt er. »Endlich bin ich wieder der Schwächere, der dich braucht.«

Elisabeth zieht die Schultern hoch und lässt sie wieder fallen, als könnte sie seine Worte abschütteln. Sie greift nach ihrem Mantel und schlüpft hinein.

»Jetzt stehst du nicht länger in meinem Schatten«, setzt er hinzu, in der Hoffnung, dass sie mit ihm zu streiten anfängt. Er würde sehr gern streiten, herumschreien, die Tür hinter ihr zuknallen, Dampf ablassen, diese hitzige Leere spüren, in die sich sofort ein bisschen Reue mischt, nachher.

»Weil ich nicht mehr auf der Sonnenseite des Lebens bin«, macht er weiter und findet das Wortspiel recht gelungen, aber er merkt, dass Elisabeth seine Provokationen abprallen lässt an ihrer Fettschicht, an ihrer Gutmütigkeit, ihrer Nachsicht.

»Ich hab’s eilig«, sagt sie, »beim alten Steiner schaut’s nicht gut aus. Ich fahr zu ihm, damit wer da ist, wenn er stirbt.«

Wenger bleibt der Mund offen stehen, die Gehässigkeiten fallen ihm ungesagt von der Zunge. Jetzt hat sie den Streit gewonnen, ohne überhaupt gestritten zu haben. Im Vorbeigehen tätschelt sie seinen nackten Oberarm, die Berührung fühlt sich rau an. Er würde gern wissen, ob sie noch so riecht wie früher.

Die Tür fällt ins Schloss.

Wenger zieht seine Hose an, kratzt an dem eingetrockneten Fleck. Es ist sehr still. Er setzt sich aufs Sofa, der Stapel mit der Post fängt an zu rutschen, die Prospekte gleiten auf den Boden. Wenger sieht zu, versucht nicht, sie aufzuhalten. Obenauf liegt ein kleiner weißer Umschlag mit Handschrift. Wer schreibt denn heutzutage noch Briefe? Wenger nimmt ihn, dreht ihn um. Es steht kein Absender darauf, adressiert ist er an Albert Trattner. Das ist der Kerl, der vor ihm hier gewohnt hat. Wenger sieht sich um, als würde er beobachtet, reißt den Brief dann auf. Das Ratschen ist laut wie ein Vorwurf, und Wenger weiß, dass er nicht tun sollte, was er da tut. Die Post eines anderen zu lesen sollte man sich zweimal überlegen, man weiß ja nie, was einen da erwartet. Wenger ist so alt, dass ein Brief noch Bedeutung hat für ihn, weil es ein echtes Schriftstück ist, in das jemand Worte eingewebt hat und das Tage gebraucht hat statt Sekunden, um anzukommen. Aber die Neugier siegt über den Respekt. Zwei einzelne Blätter. Die Schrift ist gleichmäßig, leicht nach rechts geneigt, an manchen Stellen seltsam verschoben, als hätte die Hand gezittert. Er sieht ans Ende, es gibt keine Unterschrift. Dann liest er die Zeilen, und ein Gewicht legt sich auf seine Brust, drückt ihm auf die Haut und auf die Rippen, bis er kaum noch Luft bekommt. Er ist zu überrascht, um sich zu schützen. Es zerrt in ihm, genau dort, wo die Menschen ungern hinschauen, weil sie da nicht sehr schön sind. Als er den Brief sinken lässt, kann er vor Erregung nur langsam und flach atmen. Es ist absurd und merkwürdig, vielleicht sogar bedenklich, aber jetzt steht er, sein Schwanz. Jetzt steht er.

Das Licht ist hier viel heller

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