Читать книгу Das Licht ist hier viel heller - Mareike Fallwickl - Страница 7
Оглавление#partyhard
»Ziehst du das Kleid an, das ich dir gekauft hab?«
»Nein.«
Mama dreht sich um und sieht mich erstaunt an. Das hat sie nicht erwartet. Ihre Party, ihre Wünsche. So ist das in ihrem Kopf.
»Ich seh darin aus, als wäre ich nackt.«
»Ach, Blödsinn. Nude-Töne sind total angesagt. Wir hatten auf Moutou gerade einen Beitrag über Pastellfarben.«
»Das ist mir egal, ich zieh es nicht an.«
»Es ist von Ralph Lauren, es war teuer.«
»Und wenn ich mit Edding einen Strich in den Schritt male, sieht es aus, als hätte ich einen Landingstrip. Willst du, dass alle deine siebzehnjährige Tochter anstarren und sich Gedanken über ihre Intimrasur machen?«
»Ist das deine Art, mit deiner Mutter zu reden?«
Sie macht die Schnute, drückt das Kleid an sich.
»Dann behalt ich es eben selbst«, sagt sie.
»Kannst es ja als Nachthemd anziehen.«
Jetzt wird sie gleich sauer, ich sehe es in ihrem Gesicht. Die Falte zwischen ihren Augen verfügt über verschiedene Tiefengrade, ich kenne das Spiel ihrer Brauen und Mundwinkel. Nicht nur lesen kann ich ihre Launen, steuern kann ich sie auch. Ich weiß, welche Knöpfe ich drücken muss, damit es bei ihr raufknallt wie bei Hau den Lukas am Kirtag. Sie wieder runterzuholen ist ein bisschen schwieriger, aber auch dafür gibt es Triggerwörter. Und Entschuldigungen. Und Geschenke.
»Nur heute, Chloé, okay? Das wirst du doch wohl hinkriegen. Heute ist mein Geburtstag, da will ich nicht streiten.«
Ich könnte alles noch schlimmer machen, sagen, dass sie das Kleid sicher bloß von einem Shooting hat, dass es wohl niemand sonst mitnehmen wollte, aber ich schweige. Dann zwinge ich mich zu einem Lächeln. Die Leute sagen, ein Lächeln tue niemandem weh, doch das stimmt nicht.
»Ach«, sie zupft an den kurzen Haaren hinter meinem linken Ohr, »schade um deine schönen Locken. Du warst so hübsch!«
Sie legt die Hand auf meinen ausrasierten Nacken, der bis vor zwei Tagen noch bedeckt war von einer üppigen blonden Rapunzelwelle.
»Du siehst fremd aus«, sagt sie.
»Ich sehe nicht mehr aus wie du«, entgegne ich.
Ihre eigenen Locken hat sie auf spezielle Wickler gedreht, damit sie voluminöser werden, die Party beginnt in zwei Stunden. Ihre Nägel sind schon lackiert, geschminkt hat sie sich noch nicht. Sie wird besonders viel Make-up nehmen heute, da bin ich mir sicher, das gute, teure Zeug, damit niemand merkt, dass sie jetzt vierzig ist. Alle werden ihr sagen, dass sie keinen Tag älter aussieht als neunundzwanzig, sie wird abwinken und lachen dabei, die Komplimente aber aufsaugen wie Atemluft. Ihr Kleid wird eng sein und zu kurz, nur einen Tick zu kurz, sodass es noch als schick durchgeht. »Man könnte euch für Schwestern halten« wird der Satz sein, den ich am häufigsten zu hören bekomme. Sie wird lachen, jedes Mal, und mich festhalten, direkt neben ihr, sodass man uns gut vergleichen kann, gegen meinen leichten Widerstand drücken, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde die Zähne sehr fest aufeinanderbeißen, damit mein Mund nicht aufgeht.
Sie seufzt und macht einen Schritt zurück. Wir haben uns zwei Stunden lang angeschrien, als ich vom Friseur zurückgekommen bin. Seither herrscht eine Art erschöpfte Waffenruhe, die wir aufrechterhalten, weil sie Geburtstag hat. Und über hundert Gäste erwartet, die sich nicht fragen sollen, warum ihre Tochter aussieht, als hätte sie geweint.
»Soll ich dir die Nägel machen?«, fragt sie und beäugt kritisch meine Hände.
»Die bleiben so«, antworte ich.
»Du könntest so viel aus dir –«
»Mama«, falle ich ihr ins Wort, »du wolltest doch nicht mehr streiten.«
»Schon gut«, sagt sie eingeschnappt und wendet sich zum Gehen. »Komm in einer halben Stunde runter in den Garten, du musst mir mit den Lampions helfen.«
»Es ist März«, murmle ich.
Als sie halb aus der Tür ist und ich das Gefühl habe, wieder Luft zu bekommen, schaut sie über die Schulter zu mir: »Und zieh dich um, du sollst doch schön aussehen heute Abend.«
Das ist es, was sie will. Noch mehr aber will sie schöner sein als ich.
Als ich sieben Jahre alt war, habe ich gebrannt. Das war in der Volksschule, ich ging in die zweite Klasse. Im Religionsunterricht haben wir einen Sesselkreis gebildet. Hinter mir stand eine Osterkerze, und ich weiß noch, dass ich mich plötzlich wunderte über den Geruch. Er war angesengt, aschig. Ich spürte nichts, noch nicht. Meine langen Locken waren zu einem Zopf geflochten, das Kleid hatte hinten eine Schleife. Als die Kinder anfingen zu schreien und mit dem Finger auf mich zeigten, drehte ich mich um. Ich sah das Flackern. Ich wusste, dass ich es war, die brannte. Aber ich war starr, wie in einem Vakuum, ich konnte nicht reagieren. Das Kleid brannte gut, am oberen Rücken habe ich eine walnussgroße Narbe. Trotz der Schmerzen fühlte es sich an, als würde ich nur zusehen, als wäre ich nicht Teil der Situation, nicht Teil meines Lebens. Und manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich diesen Zustand seitdem nicht mehr verlassen.
Spin kifft im Keller.
»Hast du keine Angst, dass sie was riecht?«
»Sie kommt doch nie hier runter. In den Keller schickt sie nur Barbara. Oder uns.«
»Auch wieder wahr.«
Ich atme den würzigen Duft ein. Ich höre die Stimme von Mama, die oben mit jemandem schimpft. Die Marmeladengläser von Barbara sind ordentlich nebeneinander aufgereiht. Rhabarber. Marille. Erdbeer.
Spin gibt mir den Ofen, ich nehme einen Zug, behalte den Rauch eine Weile im Mund.
»Wie hat sie dich dazu gebracht?«, frage ich und deute auf die Fliege, die um seinen Hemdkragen gebunden ist.
»Das geringere Übel«, sagt er, »sonst hätte sie es mir wieder eine Woche lang vorgeworfen, und so hab ich stattdessen einen Pluspunkt.«
Er nimmt den Joint aus meinen Fingern und setzt ihn an seine Lippen. Die Glut leuchtet im Halbdunkel. Im Keller ist es muffig, ein wenig feucht, ich habe Gänsehaut an den Armen. Vielleicht kriechen Spinnen über die Kellerdecke. Ich sehe nicht nach oben.
»Und sobald ich alle begrüßt hab, zieh ich mich sowieso um.«
Dann mustert er mein Outfit.
»Das ist sicher nicht das, was du heute anziehen solltest.«
Er hustet kurz, fängt dann an zu lachen.
Ich streiche grinsend über mein schwarzes Shirt mit der Aufschrift Bevor du fragst: Nein.
Das Gras macht die Umrisse weicher, als wäre die Welt gar nicht so scharfkantig, dass man sich verletzen kann an ihr. Ich spüre heitere Gelassenheit in mir aufsteigen. Bekifft kann ich die Party vielleicht überstehen. Spin reicht mir den Spliff für einen letzten Zug. Als ich danach greife, stoße ich mit dem Ellbogen gegen die Marmeladengläser. Das Regal wackelt, die Gläser klimpern leise, aber keines fällt um. Ich lache, vor Schreck und aus Erleichterung. Es überrascht mich, dass Dinge auch mal heil bleiben.
»Ich mag deine neue Frise«, sagt Spin.
»Danke«, sage ich und fahre mit den Fingern durch die Strähnen, die über dem Undercut liegen. Es fühlt sich ungewohnt an und luftig. Als würde etwas fehlen, aber auf eine gute Art.
»Am coolsten find ich, dass es dir egal ist, dass du dafür Ärger bekommen hast. Dass du es trotzdem getan hast.«
»Sind ja meine Haare«, sage ich.
Spin versteckt den Rest des Joints unter einem losen Ziegelstein in der Ecke. Als er ihn hochhebt, krabbelt ein winziges Tier heraus, eine Assel vermutlich. Das ist ein richtiger Keller, kein aufgemotzter Raum mit Fliesen und Fußbodenheizung und Sauna und Dusche wie in unserem Haus in der Stadt, sondern einer mit Schimmel in den Ecken, staubigen Spinnweben und unheimlicher Atmosphäre. Einer, in dem man nicht gefunden wird.
Mein Handy in der Hosentasche vibriert. Nachricht von Stefan.
On my way, schreibt er, 20 mins. Und drei Kuss-Smileys.
Ich antworte nicht, schiebe das Handy zurück. Ich habe gehofft, dass sein Vater sich weigert, ihn hier rauszubringen an den See. Ich habe ihm mehrmals gesagt, dass er nicht herzufahren braucht.
»Lass uns raufgehen«, murmle ich.
»Kommt der Alte auch?«, fragt Spin.
Ich zucke mit den Schultern.
Seit der Scheidung nennt Spin Papa den Alten. Reto nennt er den Schweizer und Mama die Schöne. Es wirkt, als wollte er emotionale Distanz herstellen, wo keine ist. Aber andere Scheidungskinder gehen Komasaufen oder lassen sich life sucks tätowieren, soll er sie nennen, wie er will.
»Bestimmt taucht er auf«, sagt Spin, »er steht doch so gern im Rampenlicht.«
»Aber wenn er kommt, werden alle über ihn reden. Ihn beobachten, hinter seinem Rücken über ihn lästern. Ihn mit Reto vergleichen.«
»Wir können ja wetten. Um hundert Euro.«
»Ach, das ist langweilig.«
»Dieser ganze Abend wird langweilig.«
»Lass uns was anderes machen. Irgendwas … Krasses.«
»Und was?«, fragt er mit amüsiertem Blick.
Er sieht älter aus als sechzehn. Mein Bruder ist ein Magnet, blond wie Mama und ich, groß, und er hat dieses Lächeln. Manchmal bin ich weit weg, dann holt sein Lächeln mich zurück, er muss gar nichts sagen. Diese Art von Lächeln ist das. Spin ist mein Co-Pilot. Wir steuern dieses Flugzeug, das nur noch trudelt, aus dem Rauch quillt, Spin sitzt neben mir, gleich werden wir springen müssen. So ist das mit uns beiden, und seit der Scheidung noch mehr. Wir haben nur einen Fallschirm, wir müssen uns aneinander festhalten.
»Ich denk mir was aus«, sage ich, »ich denk mir was aus, um diese Scheißparty aufzumischen.«
Ich bin in Jonathan verliebt. Sein Name hat den schönsten Klang. Da schwingt etwas in mir, wenn ich ihn höre, schwingt sehr tief und leise. Ich bin in Jonathan verliebt. Ich sage das nie, ich denke es nicht einmal konkret, man rennt ja nicht rum und hat so einen Satz im Kopf. Trotzdem ist er immer da. Mein Körper atmet im Takt dieses Satzes, pocht in seinem Rhythmus, ist durchströmt von dem Gefühl. Das zieht von unten nach oben, kommt aus dem Bauch, und in meiner Brust ist es dann heiß. Genau an der Stelle, an der sich bei Traurigkeit die Tränen sammeln. Wenn Liv mir einen Zettel zuwirft, wenn Stefan das Kondom aus der Packung zieht, wenn die Gmeiner mir die Französischschularbeit mit einem enttäuschten Blick auf den Tisch wirft, ist ein Teil von mir unkonzentriert. Hört ein Teil von mir einen anderen Ton. Immer ist das so, egal, was ich mache und mit wem. Ich bin in Jonathan verliebt. So stark ist das, dass die anderen es merken müssten. Wie ein Duft, der von mir ausgeht, wie eine Vibration. Als stünde es sichtbar auf meiner Haut, als schlüpfte es aus meinem Mund, zusammen mit den harmlosen Wörtern. Aber niemand sieht etwas, niemand hört etwas. Jonathan am allerwenigsten.
Im Garten liegt Schnee. Mama stakst auf High Heels herum, schwankt und krallt die Finger in die Schultern der Leute, die an den Tischen unter den Lampions stehen und Champagner schlürfen. Sie wird mit Gelächter und Komplimenten empfangen.
»Die Aussicht auf den See ist ein Traum.«
»Das vegane Buffet, einfach toll, wir sollten ja alle viel gesünder essen, gell.«
»Du schaust keinen Tag älter aus als neunundzwanzig, ein Mann wie der hält jung, nicht wahr?«
Überall das gleiche Blabla. So mancher Kerl nutzt die Gelegenheit, Mama festzuhalten, damit sie nicht ausrutscht. Sie macht sich dann los, aber sanft, fast entschuldigend. Überhaupt, das mit dem Körperkontakt, das hab ich noch nicht verstanden. Menschen sind in dieser Hinsicht schwer zu lesen. Manche meiden ihn, andere erzwingen ihn, und oft fassen sich zwei, die mal zusammen waren und die Finger nicht voneinander lassen konnten, gar nicht mehr an, als würde der Kontakt ihnen wehtun. Manchmal mag ich es auch nicht, wenn Stefan mir zu nah kommt, aber das liegt daran, dass er der Falsche ist. Wenn Mama meinen Körper berührt, dann nur, um ihn zu kritisieren. Ein Stupser zwischen die Schulterblätter, damit ich gerade sitze. Ein Zwicken in meinen Oberarm, wenn ich noch ein Stück Kuchen nehmen will. Umarmungen gab es eher von Papa, weil er fast nie da war und sich, wenn er nachhause kam, versichern wollte, dass wir das auch wirklich mitbekamen. Er mochte es, wenn wir ihm entgegenflogen und um den Hals fielen. Doch seit er ausgezogen ist und beschlossen hat, zu verkümmern, umarmt er mich nicht mehr. Vermutlich ist ihm inzwischen egal, was ich von ihm mitbekomme.
Einer der Catering-Typen hält mir ein Tablett mit kleinen Tomaten-Bruschette unter die Nase. Mama würde nicht wollen, dass ich abends Brot esse, deswegen nehme ich gleich zwei. Es ist dunkel geworden, der Wolfgangsee ein schwaches Schimmern. Es hat null Grad, und die Leute finden es exzentrisch, eine Gartenparty im März zu feiern. »Im Sommer kann ja jeder«, sagen sie und: »Trixie ist eben immer für was Besonderes gut.« Morgen, beim Frühstück zuhause, werden sie jammern, wie kalt es gewesen sei und wie verrückt, zu seinem Vierzigsten in die Sommerresidenz einzuladen, wenn Winter ist. Man darf den Menschen nicht trauen, und was sie einem ins Gesicht sagen, das darf man nicht glauben. Alles an ihnen ist fake, ihre Worte, ihr Lächeln, ihre Gefühle.
Zwei Pressefotografen habe ich gesehen und einen Kerl mit einer Filmkamera. Ich frage mich, ob Mama diese Leute extra eingeladen hat, damit sie in den Klatschspalten auftaucht, strahlend im roten Kleid, Arm in Arm mit Reto, oder ob jemand die geschickt hat. Die Magazine und Gossip-Websites sind geil auf sie, und das liegt nicht an ihrem Alter, sondern an dem von Reto. In der Hinsicht hat sie alles richtig gemacht, als Onlinemedienprofi weiß sie, wie man im Gespräch bleibt. Zuerst die hässliche Scheidung, das viele Geld, die Häuser, die Sorgerechtsfrage. Und dann der neue Mann an ihrer Seite. Sie hat ihn auf einer Gala präsentiert, auf irgendeinem roten Teppich in Berlin, wo ein Blitzlichtgewitter über sie niederging. Wenn ich im Mai achtzehn werde, bin ich von Reto genauso weit entfernt wie sie, elf Jahre. Sie ist vierzig, er neunundzwanzig.
»Es ist Liebe«, hat sie in die Kameras auf dem roten Teppich gesagt.
Da hab ich ihn zum ersten Mal gesehen, im Fernsehen.
Eine Woche später wohnte er bei uns.
Ich friere und gehe wieder rein. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Mama winkt und fuchtelt, bestimmt will sie die Schwesternnummer abziehen. Ich ignoriere sie und schließe die große Glasschiebetür. Drinnen ist die Musik der Liveband, die über Boxen in den Garten übertragen wird, viel lauter. Ein paar Gäste tanzen im Wohnzimmer der Villa, sie tanzen wie alte Leute, paarweise, mit Männerhänden an Frauensteißbeinen und aufeinander abgestimmten Schritten. Ich kann nicht so tanzen, und es fasziniert mich, dabei zuzusehen. Die Männerhände sind bestimmt schwitzig.
Papa steht mit einem Bier in der Hand an der Bar und redet mit niemandem. Er beobachtet Reto, der an der Wand lehnt und sich mit einer Schwarzhaarigen unterhält, tut dabei aber so, als würde er ihn nicht beobachten. Für Papa muss das sein wie für mich, wenn ich Maja sehe. Ich versuche dann auch immer, sie nicht zu sehen. Maja ist ein Jahr älter als Jonathan, geht aber in unsere Klasse, weil sie sitzengeblieben ist, und hat ein Auto. Sie trägt ständig eine Sonnenbrille, sogar wenn es regnet. Jeden Tag nach der Schule steigt er zu ihr ein, und dann schiebt sie die Sonnenbrille rauf in ihre Haare, um ihn zu küssen. Das ist so eine unbewusste, coole Bewegung, an der ich erkenne, dass sie eine von denen ist, die sich sicher sind.
Papa hat mich entdeckt und rührt sich nicht, doch er hat diesen flehentlichen Ausdruck im Gesicht. Ich mache eine Geste, die ausdrücken soll, dass ich aufs Klo muss, und gehe raus ins Vorzimmer. Ich muss gar nicht, aber ich kann jetzt nicht mit ihm reden.
Die Villa ist groß, ein protziger Kasten am See, mit einem eigenen Steg und einem Zaun, auf einer kleinen Anhöhe, mit Garten und zwei Balkonen, ein Haus, das man nur bekommen kann, indem man es erbt. Niemand, der bei Verstand ist, würde eine Residenz am Wolfgangsee verkaufen. Papa hat es einer Wiener Großtante zu verdanken, die noch vor meiner Geburt gestorben ist, doch das hat er nie jemandem erzählt. Er tut gern so, als wäre die Villa allein auf seinen Erfolg zurückzuführen, als hätte er das ganze Geld mit seinen Büchern verdient. Man hüllt sich über derartige Dinge in Schweigen. Man besitzt einfach.
Im Wohnzimmer ist alles weiß. Als ich ein Kind war, war das Haus gemütlich, mit viel altem Holz und wuchtigen Schränken, so groß, dass man sich verstecken konnte darin. Oft haben Spin und ich uns gemeinsam hineingezwängt, die Hände auf den Mündern, um nicht zu kichern, aneinandergedrängt in der Enge, die Muffigkeit hat sich mit dem Sonnenmilchgeruch unserer Haut vermischt, während Barbara nach uns gesucht hat. Später hat Mama auf Instagram gesehen, dass die Trendsetter dieser Welt es clean haben. Und da Spin und ich groß genug waren, um nicht mehr mit Schokoladenfingern alles zu beschmieren, hat sie unser geliebtes durchgesessenes Riesensofa gegen eine cremefarbene eckige Rauledergarnitur getauscht, in einem so merkwürdigen Format, dass man darauf weder bequem sitzen noch liegen kann, hat die Schränke rausreißen und weiß gestrichene Regale aufstellen lassen, in denen keine Bücher stehen, sondern silberne Schalen, die leer sind, und Figuren, bei denen man nicht erahnen kann, wo oben und wo unten ist. Die einzige Farbe in diesem Raum ist helles Türkis, als feines Muster auf den Dekokissen. Dann hat sie das restliche Haus umgestaltet, weil es nicht mehr zum Wohnzimmer passte, und niemand von uns wurde gefragt. Ich hatte die Sommer meiner Kindheit hier verbracht, mit Spin und Barbara, in einer endlosen Abfolge aus flirrendem Sonnenlicht, Wassermelone und träger Stille, das alles ist fort.
Ich habe gelesen, dass man in Finnland in einem Iglu aus Glas liegen kann, um die Polarlichter zu sehen. Im Kakslauttanen Arctic Resort in irgendeinem kleinen finnischen Ort oder vielleicht mitten im Wald stehen halbkugelförmige Glashäubchen, in denen man zweihundert Tage im Jahr den besten Blick in den von Farben durchschossenen Himmel hat. Angeblich ist das Glas frostsicher, und man schläft in Thermokleidung. Seit ich das weiß, starre ich manchmal nachts auf die Zimmerdecke, an der es kein einziges buntes Licht gibt, und frage mich, warum ich hier bin und nicht dort. Ich stelle mir vor, dass ich allein wäre, umgeben von Dunkelheit und Schnee und Ereignislosigkeit. Ich könnte mir die Polarlichter anschauen, sonst nichts, ich müsste mit niemandem sprechen.
»Stefan sucht dich«, sagt Spin und legt mir die Hand auf die Schulter.
Der Körperkontakt mit Spin ist in Ordnung. Das sind Berührungen, die an der richtigen Stelle ankommen und nicht zu lange dauern.
»Ach«, mache ich.
»Der arme Kerl irrt seit einer Stunde herum und findet dich nicht.«
»Ach«, mache ich wieder.
Spin schmunzelt.
»Jetzt ist niemand oben«, sagt er, »wir könnten die Bücher verstecken.«
Wir gehen die Treppe hinauf. Mein Zimmer, Spins Zimmer, Schlafzimmer, Gästezimmer, ein drittes Bad, noch ein Gästezimmer und Papas Bibliothek. Während Mamas Umgestaltung haben sie darüber am meisten gestritten. Mama wollte die alten Bücher loswerden, »etwas Kreatives« mit dem Raum machen, und Papa wehrte sich.
»Dass hier die großartigsten Geschichten der Weltliteratur versammelt sind, ist ja wohl kreativ genug!«, tobte er.
Um die anderen Räume scherte er sich nicht, er hielt sich ohnehin fast nie am Wolfgangsee auf, auch nicht, als wir noch Kinder waren. Er erwähnte die Villa nur beiläufig in seinen Gesprächen, und ebenso beiläufig besuchte er sie auch. Aber seine Sammlung war ihm heilig.
»Da sind wertvolle Stücke dabei!«, hat er geschrien. »Du bist so eine Ignorantin, man sollte dir den Studienabschluss aberkennen!«
Nach der Scheidung haben sie vereinbart, dass er die Bücher abholen und einlagern lässt, weil er in der neuen Wohnung keinen Platz dafür hat. Das ist noch nicht geschehen, sie stehen alle da in der Dunkelheit. Von unten dringt die Musik herauf, der Bass ein dumpfes Wummern. Ich streiche über die geprägten Lederbuchrücken. Schöne Ausgaben der Klassiker, Moby Dick, Ulysses, weiter drüben Hundert Jahre Einsamkeit und Faust. Eine Ordnung kann ich nicht erkennen, das konnte ich noch nie, er hat sie weder nach Alphabet noch nach Erscheinungsjahr oder Herkunftsland des Autors sortiert. Vielleicht nach Wert? In einem separaten kleineren Regal stehen seine eigenen Bücher, in der obersten Reihe die Erstausgaben aller vierzehn Romane. Zwei davon, Blut und Siebenstadt, sind signiert für Mama, die hat er ihr geschenkt, als sie sich kennengelernt haben. Für meine schöne Helena, steht in dem einen, ich würde jedes Pferd besteigen für dich, und ich weiß nicht, ob er auf den Trojanischen Krieg anspielte, um ihr zu schmeicheln, oder ob etwas Sexuelles dahintersteckt, und igitt. Liebe war’s, als ich dich sah, Liebe ist’s geblieben, steht im anderen. Jetzt ist die Liebe halt weg. Ich kenne die Widmungen auswendig, habe sie wieder und wieder angeschaut in jenen Sommern, mich vergraben im halbdunklen Zimmer. Auf der Suche nach Schatten, vielleicht auch auf der Suche nach einer Möglichkeit, mich Papa zu nähern, ihn zu finden, hier, zwischen dem Zauberberg und Im Westen nichts Neues.
Spin und ich stapeln wahllos Titel aufeinander und tragen sie in mein Zimmer, wo wir sie unter das Bett schieben. Es ist das dümmste Versteck, aber ich bin mir sicher, dass niemand dort nachsehen wird. Ich nehme die Bücher, von denen ich weiß, dass sie signiert sind, und die, von denen ich denke, dass sie am meisten Geld bringen würden. Zum Schluss die zwei Romane, die Papa Mama geschenkt hat. Als wir fertig sind, grinsen wir uns an.
An meinem ersten Schultag am Gymnasium hat Papa mich bis zur Tür gebracht.
»Hineingehen kannst du ja ohne mich, oder?«, hat er gefragt, und ich habe genickt, elf Jahre alt und verstummt angesichts des großen Gebäudes, in das so viele Kinder strömten, von denen ich keines kannte. Wie sollte ich überhaupt meine Klasse finden?
»Gut«, hat Papa gesagt und in seine Jackentasche gegriffen auf der Suche nach seinen Zigaretten, er hatte gerade aufgehört zu rauchen, mal wieder, bloß waren seine Hände schneller als sein Gehirn.
Ich musste ohne Spin auf diese neue Schule gehen, erst ein Jahr später würde er mir folgen, ich musste allein mit dem Bus fahren jeden Morgen und mittags auch, und beim Gedanken daran, nicht mehr mit ihm gemeinsam zu Fuß zu gehen wie bisher zur Volksschule, stiegen mir Tränen in die Augen. Ich hatte das gemocht, besonders im Winter, wenn es morgens noch finster war und unsere Schritte im frischen Schnee den Eindruck erweckten, es gäbe nur uns beide.
»Heul doch nicht«, brummte Papa, und es hätte wohl gutmütig klingen sollen, aber er sah sich dabei mit diesem entschuldigenden Lächeln um, als wäre es ihm peinlich.
Ich hoffte, dass ich den richtigen Rucksack ausgesucht hatte und die richtigen Schuhe, das waren in den ersten Tagen die wichtigsten Dinge. Man konnte nie genau wissen, was gerade in oder wieder out war, besonders direkt nach den Ferien war das schwierig. Weil man da die Outfits der anderen ja noch nicht gesehen hatte, die Marken, die sie trugen, weil man nicht ahnte, ob sie neue Ausdrücke verwendeten, die man selbst erst einmal würde googeln müssen, um mitreden zu können. Ein Minenfeld, und ich hatte nur ein kleines Zeitfenster, dann wäre meine Rolle in der Klasse festgelegt für immer.
»Setz dich neben ein Mädel, das nett aussieht«, sagte Papa, »konzentrier dich auf die Lehrer, lass dich nicht ablenken und mach deine Aufgaben. Dann klappt das schon.«
Ich sagte nichts, er hatte halt einfach keine Ahnung.
»Du musst dir Mühe geben, es fliegt einem im Leben nichts zu«, er fuhr noch mal mit nervösen Fingern in seine Taschen, fluchte dabei leise, »besonders dir als Mädchen nicht. Du musst dich doppelt anstrengen, hast du gehört? Die Welt ist nicht gemacht für euch.«
Ich hatte gehört, verstand aber nicht, was er meinte.
»Hübsch bist du ja«, sagte er, »nur wird das nicht genügen, wenn was werden soll aus dir.«
Er wuschelte mir durchs Haar, schaute erschrocken und versuchte dann, meine Locken wieder in Form zu bringen. Für einen Moment ließ er die Hand auf meiner Wange, sie war trocken und warm. Er zog mich in eine Umarmung, die eigentlich keine war, weil er mich gleichzeitig auf Abstand hielt. Er roch nach Aftershave und Ungeduld.
»Ich hol dich nachher wieder ab, okay«, sagte er, »wir gehen Eis essen. Zur Feier des Tages.«
Als die Schule aus war, war Papa nicht da. Er hatte mich vergessen, aber das überraschte mich nicht. Ich hatte mir schon in der ersten Pause aus dem Ordner im Klassenzimmer die passende Busverbindung herausgesucht.
Später hält Mama eine Rede, die an Peinlichkeit nicht zu überbieten ist. Sie ist beschwipst und rührselig, bedankt sich bei allen, die sie kennt, für die Unterstützung. Als ob irgendwer für sie da gewesen wäre. Ich meine, wirklich da gewesen. Abseits von den Kameras und den Likes. An den Abenden, an denen sie allein zuhause war, ungeschminkt, ungekämmt, mit Weinglas in der Hand und Einsamkeit im Blick.
Plötzlich spüre ich eine Hand, die sich um meine schließt.
»Da bist du ja«, raunt Stefan in mein Ohr.
Er drückt seine Lippen auf meinen Hals, ich lächle ihn an.
»Sorry«, flüstere ich, »so viele Leute.«
Er schiebt sich halb hinter mich, umarmt mich halb. Es ist wie immer, alles mit Stefan ist halb. Mama, die im Zentrum der Aufmerksamkeit und neben der Band steht, zieht Reto an sich und küsst ihn vor allen Leuten. Bestimmt hat sie gerade gesagt, wie gut er ihr tut und wie glücklich sie ist.
»Deine Mom ist so cool«, sagt Stefan.
Er lässt meine Hand nicht los. Ich gebe keine Antwort und betrachte die Geburtstagstorte. Sie ist ein dreistöckiges Gebilde mit viel Obst. Reto ist Fitnesstrainer und Veganer, und Mama ist hinter allem her, was im Trend ist. Früher hat sie manchmal Schokolade genascht, je süßer, desto besser, und wenn ich sie dabei erwischt habe, hat sie mir lachend auch ein Stück in den Mund geschoben.
»Kann ich dann hier bei dir schlafen?«, fragt Stefan, und ich tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.
Während die Gäste klatschen und die Band Happy Birthday spielt, bitte ich ihn, mir was zu trinken zu holen, und verspreche ihm, derweil hier zu warten. Kaum ist er im Gedränge verschwunden, bahne ich mir einen Weg zur Verandatür. Papa steht allein draußen im Garten, wo ich ihn vermutet habe. Er lehnt am Zaun und sieht in die Dunkelheit. Er hat eine dicke Daunenjacke an, in der er fast verschwindet. So eine bräuchte ich auch.
»Hi«, sage ich.
»Hi«, sagt er.
An seinen Pupillen sehe ich, dass er was genommen hat, und da erfasst mich eine unerwartete Welle der Zuneigung. Er hätte sich wohl sonst nicht hergetraut.
»Auch auf der Flucht?«, fragt er, und ich könnte ihn fast sympathisch finden in diesem Moment.
Doch dann wendet er sich im selben Augenblick ab und trinkt sein Bier aus, als wäre er an meiner Antwort nicht interessiert. So ist das mit ihm. Er ist eine Tür, und ich probiere einen Schlüssel nach dem anderen, einen ganzen verfickten Schlüsselbund hab ich, und keiner passt. Nicht ein einziger.
Die Glasfront, die den Blick freigibt auf das rauschende Fest, haben wir im Rücken. Papa sieht nicht hin.
»Reto hat deine Bücher verkauft«, sage ich unvermittelt.
Papa fährt herum.
»Was hat er?«
»Ein paar, nicht alle. Ich glaube, er wusste nicht, welche wertvoll sind, er hat einfach mal angefangen und auf gut Glück einige versteigert. Aber für die, die du Mama geschenkt hast, hat er nicht viel bekommen, da war er enttäuscht.«
Papa starrt mich entgeistert an.
»Ich dachte nur, das solltest du wissen«, sage ich, und für einen Augenblick bin ich überzeugt, dass er einfach gehen wird. Dass er sich verkriechen, noch mehr trinken und traurig aus dem Fenster seiner versifften Wohnung schauen wird.
Er schmeißt seine Bierflasche in den Schnee, lässt mich ohne ein Wort stehen, stapft zur Glastür, schiebt sie auf die Seite, stürmt hinein in die Gästemeute, in deren überraschtes Rufen, er schnappt Reto, der neben Mama steht und Torte isst, und schlägt ihm ins Gesicht. Das geht so schnell, dass keiner reagieren kann, am allerwenigsten der Schweizer. Sein Teller zerbricht, als Reto zu Boden geht. Mama fängt an zu schreien.
Das war einfacher als gedacht, er hat nicht einmal nachgeschaut, ob es wahr ist, was ich da behaupte. Wahrscheinlich wollte er ihn sowieso schon längst schlagen. Die ganze Zeit war Papa das aufgedrehte Gas, und ich war der Funken.
Reto springt auf und stürzt sich auf Papa, der rückwärts in den Kuchen fällt wie in einem Slapstick-Movie. Es sieht lustig aus, aber ich kann nicht lachen. Ein bisschen tun sie mir leid, alle da drin, wie sie von ihrer Gefallsucht dirigiert werden und von ihrem Hierarchiedenken, das mit Geld zu tun hat und mit Titeln und Besitz. Es ist einer dieser Augenblicke, in denen ich genügend inneren Abstand habe, um klar zu sehen, um das gesamte Gefüge zu erkennen, in das wir verstrickt sind. Ich wollte nicht, dass Papa und Reto sich prügeln, dass Mama einen Schreikrampf bekommt. Aber ich wollte, dass alle, wirklich alle, sehen können, was wir sehen. Was für Arschlöcher sie sind.
»Die Party«, sagt Spin, »war gar nicht so langweilig wie gedacht.«
Er hat das Haus durch die Vordertür verlassen und steht auf der anderen Seite des Zauns. Ich klettere darüber. Er reicht mir meine Jacke und meinen Helm. Wir sehen uns kurz an, wir lächeln nicht. Er startet das Moped, ich steige hinter ihm auf, halte mich an ihm fest und schiebe die Hände in seine Jacke.
Er gibt Gas, die Luft ist kalt.