Читать книгу J o h n n y - Maren Panitz - Страница 13
Kapitel 10
ОглавлениеKater Mikesch
Johnny wurde dreizehn.
Hey, das fand unser Junge toll.
Er stand nämlich schon immer auf die tollen Geschichten von „Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer“ und ganz besonders auf das Buch „Lim Knopf und die Wilde 13“. Überhaupt gehört Kinderbuchautor Michael Ende quasi zur Familie. Alle seine Werke wurden hier inzwischen von drei Hesselbach-Generationen verschlungen.
Im Bücherregal schlummern dessen Bücher direkt neben der „Tintenherz“-Trilogie von Cornelia Funke und neben der gesamten Lebens- und Zaubergeschichte von Harry Potter.
„Der Geburtstag wird was Besonderes. Du bist jetzt ein Teenie“, meinte Henrik.
„Hääää“, kam es ziemlich verständnislos erst von Johnny, dann von Daniela, dann von Oma und Opa. „Denkt mal englisch“, gab ich eine kleine Eselbrücke. „Ach klaro, hab’s gepeilt. Ten, eleven, twelve, thirteen. Daher kommt also das Wort Teenager“, lachte Johnny.
Bei Oma und Opa fiel der Groschen später. Aber das liegt daran, dass deren Generation die englische Sprache auch noch nicht mit der Muttermilch aufgesogen hat, so wie die moderne Jugend im globalen Medien- und Fastfoodzeitalter.
Ganz abgesehen davon, dass die Kids ja heute bereits im Kindergarten Englisch lernen.
Sie können kaum das Wort Automobil oder Kellertreppe aussprechen, dann kommt schon die erste Fremdsprache auf sie zu.
Finde ich das wirklich sinnvoll?
Ich will ja kein Bildungsmuffel sein, aber bei bei dieser Frage bin ich ein bisschen altmodisch.
Ich sage es gern immer wieder:
Ich ziehe die Schuhe ja auch nicht vor den Socken an.
Für mich macht es einfach mehr Sinn, erst einmal die eigene Haussprache vernünftig zu beherrschen, bevor schon wieder neue Vokabeln von den Nachbarn gebüffelt werden müssen.
Wenn ich mir die grausig verstümmelte Grammatik in den Aufsätzen unserer Milchnase mit krausen Fingernägeln und knirschenden Zähnen so durchlese, bin ich immer mehr der Meinung, dass der mehrsprachige Eintopf im Lehrpensum der „Pens“ zu einem recht halbgaren Brei verkümmert.
Einerseits beklagen sich die Lehrer über die grottenschlechten „Lernstandserhebungen“ und „PISA-Studien“ an den Schulen, in denen die Kinder kaum in der Lage sind, ein Akkusativ von einem Dativ zu unterscheiden, geschweige denn ein Diktat zu schreiben, in dem sich nicht mehr Rechtschreibfehler als Buchstaben befinden.
Andererseits entwickeln die Lehrer Lernkonzepte, in denen Rechtschreibung nicht einmal mehr gefördert wird. Der Sinn dahinter hat sich mir bis heute nicht erschlossen. „Die Kinder lernen in den ersten beiden Klassen das Schreiben nach Gehör. Erst später werden wir die korrekte Schreibweise beibringen“, erklärte uns die Klassenlehrerin.
Und so kringelten sich mir bei jeder zukünftigen Textarbeit erneut meine Fingernägel auf, wenn ich Johnnys kleine Aufsätze zu lesen bekam: „Mein erster Feriäntach mit Tante Daniäla und Mama und Pappa in den Bärgen. Heute ham wir gans in ächt ein süsses Murmeltir auf der grünen Wise gesen. Das konte feifen wie ein Fogel.“ Korrekturen seitens der Lehrerin fehlten. Ich konnte lediglich an dem knappen Kommentar mit Smiley erkennen, dass die Lehrerin den Text überhaupt gesehen hat. Unten drunter stand: „Gut gemacht.“
Ja, was denn?
Nur ein Jahr lang konnte ich mit meinem ortho-graphischen Gewissen das ach so neue und ach so moderne Schulkonzept unterstützen. Dann riss mir auf gut Deutsch mein Geduldsfaden und ab sofort kümmerte ich mich selbst um den Schreibunterricht meines Sohnes.
„Sie hintergehen unser Erfolgskonzept“, klagte Johnnys Lehrerin lautstark.
„Sie vergewaltigen die deutsche Sprache“, antwortete ich. „Ich kann nichts Erfolgversprechendes darin erkennen, dass mein Sohn zwar schon einhundert englische Wörter beherrscht, aber immer noch nicht den Unterschied zwischen einem weichen und einem scharfen „S“ heraushören kann.“
Ich kümmerte mich und stellte beruhigt fest:
Es gibt pädagogische Lernhilfen zu Hauf, in denen die Kinder letztlich dann doch an korrekte Rechtschreibhilfen herangeführt werden. Nicht an unserer Schule, aber an vielen anderen Instituten, die ihr Wissen und ihre Unterrichtsmate-rialien gerne den geplagten Eltern zur Verfügung stellen.
Ich konnte meine gepeinigten Fingernägel wieder in Ruhe wachsen lassen. Zwei gezielte Klicks in gut sortierten Internetportalen und schon bastelt sich die Heimlehrerin Hesselbach einen ganzen dicken Ordner voll mit altersgerechten Schreib- und Diktatübungen, die von geschulten Logopäden zusammengestellt wurden.
Johnny hatte natürlich anfangs wenig Lust, sich nun auch noch nachmittags mit seiner Mama an den Küchentisch zu hocken, um bunte Fibeln mit großen und kleinen Buchstaben durchzuarbeiten.
Mechthild, die dem modernen „Hören statt Schreiben“ in der Grundschule auch nicht so viel Positives abgewinnen konnte, heckte mit mir ein äußerst erfolgreiches Trainingsprogramm aus, das für Johnny zum puren Kindervergnügen werden sollte.
Jeden Dienstagnachmittag und Samstagmorgen kam sie mit einer süßen Leckerei für Johnny vorbei. Und immer hatte sie eine unwiderstehliche Überraschung für ihren Enkel parat. „Heute ist doch Fibeltag. Wir stärken uns erst einmal gemeinsam für diesen anstrengenden Denksport. Und wenn Du in einer Stunde mit dem Schreiben fertig bist, dann werden wir uns zusammen bei einer tollen Unternehmung davon wieder erholen, einverstanden?“
Klar war Johnny einverstanden.
Ich möchte das Kind erleben, das freiwillig auf seine Ration Gummibärchen oder Schokolade verzichtet. Ich möchte das Kind erleben, das sich nicht gern an Omas Hand schmiegt, um mit ihr gemeinsam einen aufregenden Nachmittag im Zoo oder im Schwimmbad zu verbringen.
Unser selbstkreiertes völlig unpädagogisches Lehrkonzept mag vielleicht pädagogisches Kopfschütteln hervorgerufen haben, aber diesen Skeptikeren haben wir schnell bewiesen: Gummibärchen und Hamburgermenu sind sehr wirksame Hilfsmittel für den Lernalltag.
Der Erfolg sprach letzten Endes nämlich doch für uns. Johnny hatte plötzlich Spaß beim Schreiben. Er schrieb immer länger, immer ordentlicher und nach weniger als drei Monaten auch immer richtiger.
Das Schuljahr war noch nicht vorbei, da kannte Johnny den Unterschied zwischen einen scharfen und einem weichen „S“ und auch etliche andere Gemeinheiten der Deutschen Rechtschreibung. Dann war es gut.
In meinen Augen war Johnny nun für die neuen Sprachwissenschaften fit genug.
„Jetzt kann unsere Milchnase das Wort ‚Vokabel‘ richtig schreiben, jetzt kann Johnny auch Vokabeln lernen“, schloss ich unser selbstgeschaffenes Hesselbach-Rechtschreib-Programm ab.
Und jetzt kannte Johnny auch das englische Wort „thirteen“ und jetzt war Johnny ein Teenager.
Inzwischen reichten Omas Leckereien und die Einladung zum gemeinsamen Schwimmbadbesuch nicht mehr so ohne weiteres aus, um den pubertierenden Grünschnabel von der Notwendigkeit freiwilliger Hausaufgabenstunden zu überzeugen.
Johnnys 13. Geburtstag war für unsere kleine Familie wirklich etwas Besonderes.
Zum einen enthält er unsere magische Familien-Drei, die für uns Hesselbachs schon oft so viel Glück bedeutet hat, zum anderen ist die Dreizehn aber umgekehrt auch ein dringlicher Unglücksbote, dessen magische Unglücksaura unbedingt und mit aller Kraft vertrieben werden muss.
Ich gehe zum Beispiel am Freitag dem Dreizehnten gar nicht gern allein aus dem Haus. Ich bin überzeugt, dass schon allein der Gedanke, dass etwas Schreckliches passieren könnte, Grund genug dafür ist, dass das Schicksal mir tatsächlich etwas ganz Schreckliches zustoßen lässt.
Also möchte ich am liebsten den ganzen Tag die Bettdecke über meinen Kopf ziehen und dem Schicksal gar nicht erst über den Weg laufen. Aber wahrscheinlich würde ich dann unter der Decke schlimme Erstickungsanfälle bekommen oder ich verpasse die neuesten Sonderangebote in unserem Supermarkt um die Ecke. Man kann der Dreizehn eben einfach nicht entkommen.
Johnny feierte seine Teenager-Geburtstag und deshalb lauerte das Schicksal wahrscheinlich schon einen ganzen Tag lang gut versteckt hinter Ecken und Hecken, um dem Geburtstagskind einen Schrecken einjagen zu dürfen. Das Schicksal wählte sich Johnnys vierbeinigen Teenager-Bruder aus, um der Familie Hesselbach an jenem 21. Juli ein nachhaltig aufregendes Erlebnis zu bescheren.
Johnnys heimlicher Teenager-Bruder ist unser Kater Mikesch. Der wohlgenährte rotzfreche graue Tiger mit den blau-grünen Augen fühlte sich nun seit einem Jahr als viertes Familienmitglied bei Familie Hesselbach und hatte sich in die chaotischen Gepflogenheiten unseres Hausstandes bestens eingeordnet.
Morgens schläft er gerne lang.
Und erst das Klappern seines Keramik-Katzengeschirrs auf den Küchenfliesen überzeugt ihn davon, dass es Zeit zum Aufstehen wird.
Er spielt gern. Er spielt vor allem gern mit Mäusen. „Er ist eben kein Vegetarier. Darüber musstest Du Dir eigentlich schon im Klaren sein, als Du die Katze angeschleppt hast“, bemerkte Henrik. Tja, ich erwarte ja nicht, dass Mikesch sich von Möhren ernährt, aber er könnte seine Mäusesnacks gern heimlich und dezent vernaschen.
Ich hatte tatsächlich nicht erwartet, dass der dankbare kleine putzmuntere Kater sich für unsere Aufmerksamkeiten regelmäßig mit wohlgemeinten Geschenken bedanken will. Und zwar ganz nach Katzenart meistens in Form einer sorgfältig aufgebahrten Jagdbeute.
Mehrmals in der Woche stolperte ich auf der Terrasse über liebevoll ausgelegte Mäusekadaver.
Und nicht alle sahen so aus, als ob sie vor Schreck an einem Herzinfarkt gestorben sein könnten.
„Das ist ja wie beim Halali nach einer Fuchsjagd“, schimpfte ich unseren jungen Kater aus. Das schien ihn zusätzlich zu beflügeln.
Ab sofort lagen vor der Terrasse nicht nur tote Mäuse, sondern auch tote Tauben, tote Wiesel und tote Hamster.
„Wenn uns mal das Haushaltsgeld ausgehen sollte, brauchen wir uns jedenfalls keine Sorgen um unsere täglichen Fleischrationen zu machen. Gegrillte Taube ist doch eine Delikatesse“, kicherte Henrik.
Ich ekelte mich.
„Den Goldhamster hat Mikesch sicher nicht auf der Wiese gejagt“, wagte ich einen Einwand. „Stimmt, das ist kein Wald- und Wiesenhamster. Der hat bestimmt mal ein richtig nettes Zuhause mit kleinem Laufrad und Schmuseeinheiten gehabt.“
„Psst. Mikesch wird seinen mörderischen Akt nicht verraten und wir sollten das auch nicht. Wir wollen doch keine Krokodiltränen innerhalb der Gemeinde heraufbeschwören, oder?“
Als Katzenjunges war Mikesch ein süßer Fratz, der sich von seinen Zweibeinern gern beschmusen ließ.
Kaum hatte er mit etwa sechs Monaten sein hormongesteuertes Teenageralter vollends erreicht, war es mit der Schmuserei vorbei.
Er ist ausgesprochen eigensinnig.
Will ich ihn kraulen und er will grad so gar nicht, dann fährt der Machokater auch schon mal die Krallen aus.
Und zack: schon malen sich kleine blutige Striemchen auf dem Handrücken ab.
Umgekehrt funktioniert das komischerweise nicht. Will er schmusen und sucht bei mir menschliche Nähe, dann fordert er sie erbarmungslos wie ein kleines quengelndes Kind.
Habe ich gerade mal keine Lust und Zeit zum Schmusen, dann hängt er sich wie ein Katzensack an meine Jeans, an meinen Pullover und an besonders sportlichen Tagen sogar in meinen Nacken. Und wehe, wehe, ich sollte es wagen, ihn dann immer noch ignorieren. Zack: schon wieder ein kleines blutiges Striemchen auf dem Handrücken.
Mikesch ist ein Partylöwe und geht gern mal nachts auf die Rolle. Tagsüber schläft der große dicke Kater auf einem Kissen neben der Terrassentür. Das ist ein strategisch kluger Punkt, an dem er sämtliche Familienaktivitäten hervorragend im Blick hat.
Und vor allem seinen Fressnapf.
Nachts wird er munter und dann macht er die Nachbarschaft unsicher. Manchmal scheint er dabei auf genauso machomäßige Artgenossen zu treffen, wie er doch selber einer ist.
Ich erlebte unseren pelzigen Muskelprotz mit angebissenem Ohr und einem beängstigend tiefen Kratzer auf dem Rücken.
Zerschunden und dreckig und zerbissen schlich er sich morgens auf sein Schlafkissen und leckte seine vielen blutigen Wunden.
Mir tat der kleine Kerl leid.
Obwohl Mikesch für sein Alter und seine Art doch eigentlich sehr groß und mächtig geraten ist und von manch einem Nachbarn sogar schon für einen Waschbär gehalten wurde. „Der muss zum Tierarzt“, überzeugte mich Johnny. „Ja, der braucht eine Tetanusspritze“, bestätigte Mechthild.
Also packte ich das schwere mitleidserregende Fellbündel in seinen Transportkorb und fuhr zu Doktor Fleischer.
Gut, den Namen hat sich der Tierarzt nicht selbst ausgesucht. Aber immer wieder hoffen wir doch inständig, dass sein Name nicht sein Programm sein möge.
Doktor Fleischer kennt Mikesch seit Babyzeiten.
Schließlich fand ich das zerlumpte graue Fellknäuel als winziges Kitten im vergangenen Mai in einer dieser Gittermülleimer auf dem Friedhof.
Es war wieder einer dieser Tage, an denen ich mir die Nähe zu meiner Mutter wünschte.
Manchmal beschleicht mich dieses leere verwaiste Gefühl, als ob ich ohne ihre helfende Hand völlig verlassen und orientierungslos durch den Tag laufen würde.
Mama fehlt mir.
Das muss wohl auch so sein, wenn eine Tochter ihre Mutter beerdigt hat. Aber an manchen Tagen habe ich das ganz dringende Bedürfnis und ich muss einfach von Angesicht zu Angesicht mit Mama Gesa reden. Und das kann ich immer dann am besten, wenn ich mich mutterseelenallein vor den Baum an ihrem Grab setze und ich felsenfest davon überzeugt bin, dass sie als gestaltloser flimmernder Schutzengel in den Ästen schaukelt und mir ganz konzentriert zuhört, welche Sorgen und Gedanken ich in diesem Moment nur mit ihr allein teilen möchte.
Und ich schwöre:
Sobald ich mich von dem Baum wegdrehe und den Friedhof verlasse, dann wird es mir ein bisschen warm im Rücken und im Nacken und die Last auf meinen Schultern wird mir ein bisschen leichter.
Also besuchte ich Mama damals an jenem Tag auf dem Friedhof und sortierte mein Inneres.
Und weil ich noch nicht so ganz damit fertig war, spazierte ich ein paar Meter ziellos kreuz und quer durch die anderen Gräber und genoss die sommerliche warme Ruhe an diesem stillen Flecken Erde.
Was habe ich mich erschrocken, als plötzlich neben mir der Mülleimer wackelte und zitterte und fiepte. „Oh Gott, Gespenster“, dachte zu allererst, weil ich doch gerade sehr spirituellen Gedanken nachging.
Es fiepte ein zweites Mal.
„Ihh, Ratten!“ dachte ich nun realistischer.
Ich sprang schnell einen Schritt zur Seite, um von so einem virenverseuchten Nagetier nicht auch noch angefallen zu werden.
Dann folgte wieder einen Moment Ruhe im Karton. Und dann hörte ich dieses herzzerreißende Maunzen.
„Ein Kätzchen. Aber wo ist es nur. Doch nicht wirklich hier im Mülleimer?“ Ich griff nach einem der abgestorbenen Äste, die unter den Bäumen herumlagen und stocherte zaghaft in den Müllresten. Das hier war ein Mülleimer auf einem Friedhof. Deshalb fand sich dort überwiegend Gärtnerei-papier, mit dem die Blumensträuße eingewickelt werden. Dazwischen ein Pappbecher für „Café to go“ und eine leere Zigarettenschachtel. Eigentlich nichts wirklich Ekeliges.
Was hatte ich denn auch erwartet?
Verzerrte Zombiegesichter? Abgehackte Finger?
Plötzlich verhakte sich etwas an meinem kleinen Ast. Es nahm Gestalt an.
Es handelte sich um winzige kleine rosa Krallen, die aus einem winzigen weißen Fellpfötchen herausragten.
So klein, wie bei einem winzig kleinen Stofftierchen. Also schaufelte ich mutig das Papier zur Seite.
Und ich fand unseren Kater Mikesch.
Ein armseliges misshandeltes Geschöpf, das hier wie Abfall in einem Mülleimer beseitigt werden sollte.
Der winzige kleine grau getigerte Kater war höchstens acht Wochen alt. Das sagte uns jedenfalls Doktor Fleischer, als ich ihn einen Tag später in dessen Praxis brachte.
Er hatte blaue und grüne Augen, die mich bettelnd anstarrten und schwarze zitternde Öhrchen, an denen ein paar kleine Bluttropfen klebten.
Das kleine Tier steckte in einer mit Klebeband verschlossenen Plastikschachtel. So eine von diesen durchsichtigen Behältnissen, in denen man im Supermarkt Weintrauben und Pfirsiche kaufen kann.
Auf der verzweifelten Suche nach Atemluft hatte der kleine Kerl seine ganze verbliebene Kraft zusammengenommen und sich durch den Kunststoff hindurch und durch das Klettband ein Ausstiegsloch gebissen.
Seine Pfote war von spitzen Plastikstücken aufgerissen. Das Kätzchen blutete am Kopf und an den Hinterbeinen und bei dem Versuch, den Hals durch das kleine Luftloch zu schieben, ist das Kitten an den spitzen Plastikzähnen hängengeblieben und drohte sich gerade selbst auf üble Weise zu strangulieren.
„Du armer Wicht“, entfuhr es mir.
Vorsichtig befreite ich das kleine graue Tigerchen aus seinem unmenschlichen Gefängnis.
„Weggeworfen wie vergammeltes Obst“, flüsterte ich betroffen.
Es tat mir in der Seele weh, dieses hilflose Tierchen so vor sich hin maunzend und zitternd in meiner Hand zu halten.
Und es tat mir für meine eigene Spezies in der Seele weh, dass einer meiner eigenen Artgenossen so herzlos und mordlustig sein konnte, um dem Tierchen diese Qual anzutun.
„Er oder sie hätte Dich auch einfach ins nächste Tierheim bringen können, wenn es sonst keinen Platz für Dich gegeben hätte“, sprach ich mit dem kleinen Fellknäuel.
Aber siehst Du, dachte ich so bei mir.
Wie gut, dass ich ausgerechnet heute der Mama Gesa einen Besuch abgestattet habe und sie dort oben im Baum ganz nahe bei mir war.
Sie hat Dich ganz sicher gesehen.
Sie hat meine Schritte gelenkt und nun soll es so sein, dass ich mich um Dich kümmern werde.
Da werden wir mal gespannt sein, was Johnny und Henrik von einem kleinen Hesselbach-Kätzchen halten werden.
Johnny war sofort hingerissen.
Außerdem hatte er noch nicht vergessen, dass er sich vor sieben Jahren schon einmal in eine kleine Katze verliebt hatte. „Schau, nun kommen wir doch noch zu einem Stubentiger. Auch wenn es kein Mädchen ist, so wie damals die kleine Kreta-Gaty“, freute er sich.
Mikesch hätte auch den Namen Cäsar erhalten können. Denn auch er kam, sah und siegte.
Als Johnny nach Hause kam, hockte er in meiner Waschschüssel, die ich mit einigen weichen Frotteetüchern und einem Kissen ausgelegt hatte und leckte abwechselnd seine Wunden und kurz darauf auch Johnnys Finger ab.
Und weil Johnny in seinen frühesten Kindertagen mit der Augsburger Puppenkiste und somit auch der Lebensgeschichte von Kater Mikesch groß geworden ist, fiel Johnny auch prompt nur dieser einzige mögliche Name ein.
„Er heißt natürlich Mikesch. So wie bei den Marionetten. Er hat nun ja auch schließlich schon ein großes Abenteuer überstanden.“
Der kleine Waisenkater sah nun schon wesentlich munterer aus.
Vom Auto aus hatte ich Mechthild angerufen und ihr den lebenswichtigen Auftrag erteilt, sofort bei der nächsten Tierhandlung einzukehren, und sich ausgiebig über die nahrhafteste Kittennahrung beraten zu lassen.
Als Tiger und Katja im Heim ankamen, wartete bereits ein erstklassiges Sortiment an Katzenfutter auf den verängstigten kleinen Fratz.
Er fraß sofort ausgehungert. Er trank durstig und er ließ es sich absolut satt und teilnahmslos gefallen, dass ich ihn in sein Katzenkörbchen bettete. Dort schlief er augenblicklich ein.
War das ein herzschmelzender Anblick.
Wenn diese vielen blutigen Wunden nicht gewesen wären. Mechthild hielt mir einen Zettel vor die Nase. „Ruf da an und mach ganz schnell einen Termin für Dein neues Nesthäkchen. Ich habe Dir hier die Telefonnummer von dem Tierarzt rausgesucht. Es gibt hier nur einen. War also nicht ganz so schwer.“
So lernte Mikesch im zarten Alter von etwa zwei Monaten seinen zukünftigen Hausarzt kennen.
Doktor Fleischer untersuchte den zerrupften Findling und verschrieb ihm sofort eine meterlange Liste mit Kuren und Impfungen.
„Und er sollte auf jeden Fall ein Flohhalsband tragen. Wir wissen ja nicht, in welcher Umgebung er bisher gelebt hat, nicht wahr?“ zwinkerte mir Doktor Fleischer zu.
Für die Hautwunden gab er mir eine Flasche mit „Braunol“ mit. „Bereiten sie ihrem Schützling daraus eine lauwarme Waschlotion. Das beugt einer möglichen Entzündung vor“, riet mir der Tierarzt.
Kater Mikesch erholte sich mit unserer aufopfernden Pflege erstaunlich schnell.
So schnell, dass Johnny und ich von Mikeschs jugendlicher Agilität komplett überrumpelt wurden.
Wenn es im Wohnzimmer plötzlich alarmierend schepperte, konnten wir sicher sein, dass der kleine Kater gerade über die Regale tobte und mit dem Schwanz wieder einmal eine Vase umgeworfen hatte.
Wenn Henrik aus der Werkstatt kam und beim Umziehen im Schlafzimmer einen hysterischen Wutanfall herausschrie, dann konnten wir sicher sein, dass Mikesch gerade entweder unsere Bettwäsche in Fetzen zerlegt hat oder aber die Tapete in akkuraten Fetzen von der Wand gerissen hatte.
Mikesch war als Katzenbaby ein Wirbelwind.
„Du musst den Kater erziehen. Der tanzt Dir sonst auf der Nase rum“, meinte Mechthild altklug.
„Und wie mache ich das? Hast Du schon viele Katzen in Deinem Leben erzogen?“
„Nein, aber ich habe Kinder groß gezogen und Du hast ein Kind groß gezogen. So viel Unterschied kann da eine kompetente Katzenerziehung doch nicht ausmachen. Ich sage nur: Disziplin, Regeln, Konsequenz, Zuckerbrot und Peitsche.“ Sie lachte.
„Das hat bei Henrik eigentlich ganz gut funktioniert. Und bei Johnny doch mehr oder weniger auch.“ Tja. Da saßen wir nun mit Mechthilds guten Ratschlägen.
Mikesch lernte Disziplin.
Wie früher bei Johnny, massierte ich auch dem Kater seinen satten Bauch, um die Verdauung anzuregen. Und hockte mich mit ihm gemeinsam ans Katzenklo, bis sich der ersehnte Erfolg einstellte.
Gut bei Johnny war es das Töpfchen, aber so groß ist der Unterschied ja dann tatsächlich doch nicht. Immer, wenn wir einen seiner Bächlein oder Häufchen auf einem unserer Teppiche oder gar in einem unserer Schuhe vorfanden, steckten wir seine Nase in die eigenen Exkremente, schimpften laut: „Das ist pfui“ und setzten ihn in sein Katzenklo.
Machte er wieder auf den Teppich, fiel die nächste Mahlzeit aus. Machte er brav sein Geschäft in seiner Katzentoilette, gab es eine besondere Leckerei.
Nach zwei Wochen war der Mikesch stubenrein.
Schwieriger war es da schon, ihm sein allerliebstes Hobby, nämlich das Ausprobieren seiner kleinen scharfen Krallen an allen erdenklichen Haushaltsgegenständen, mit Ruhe und Beherrschung abzugewöhnen.
Johnny bekam einen ausgewachsenen Tobsuchtsanfall, als der Kater sich eines Tages ausgerechnet sein blau-weißes Original-Fußballtrikot aussuchte, um die Qualität seiner Reißwerkzeuge auszutesten. „Ich bringe den Kater um. Der hat noch nicht mal Respekt vor einem Fußball Gott“, schrie der Sohn durch das ganze Haus, während er mit seinem Pantoffel hinter dem verschreckten Kater herrannte, der mit steil aufgerichtetem Schwanz und wild gesträubtem Rückenfell durch das offene Küchenfenster in den Garten flüchtete.
„Disziplin, Regeln, Konsequenz, Zuckerbrot und Peitsche“, hörte ich Henrik am Küchentisch hinter seiner Tageszeitung her brüllen und er hielt sich dabei den Bauch, weil er seinen Lachanfall nicht zu unterdrücken wusste.
Mikesch bekam einen Kratzbaum.
Wir wiederholten unsere bisherigen Erziehungsmaßnahmen.
Der Kater musste hungern, wenn er sich komplett daneben benahm.
Er wurde mit Leckerchen verwöhnt, wenn er eine Sache gut machte.
Und weil Mikesch viel zu gerne Fastfood-Dosenfutter fraß, als das er sich hungernd allein von der Mäusejagd hätte ernähren wollen, funktionierte die Methode ein ums andere Mal immer wieder und immer wieder.
Erziehung geht eben nicht nur bei Kindern durch den Magen.
Mikesch ist ein kluger Hausgenosse.
Er hat schnell kapiert, dass Johnny fast genau so oft wie er selbst die Leviten gelesen bekam. Der Ton macht die Musik. Das hat er sehr schnell selbst kapiert. Und auch, dass ich gleichwohl bei dem zweibeinigen „Welpen“ äußerst erfolgreich das pädagogisch heftig umstrittene Belohnungsprinzip anzuwenden verstand.
Zwar zerfetzte Johnny uns nicht die Tapeten, dafür schmierte er aber seine braunen klebrigen Schokoladenfinger in die frisch gebügelten Sweatshirts. Johnny erledigte seine kleinen Bedürfnisse auch nicht auf dem Fußboden, dafür trampelte er mit schlammverschmierten Fußballschuhen quer durch das Haus zwei Stockwerke hoch bis in sein Zimmer.
Alles auch keine tolerierbaren Verhaltensweisen.
Alles Gründe für lautes mütterliches Gezeter.
Also erkannte Mikesch: Der kleine Mensch und ich – wir stehen hier auf der gleichen Rangordnung im Rudel.
Nämlich ziemlich weit unten.
Der große Mensch mit tiefer Stimme – der ist hier der Rudelführer, der ist zwar laut, aber für das leckere Fressen ist der nicht zuständig.
Der große Mensch mit dem Stroh auf dem Kopf – vor dem muss man sich in acht nehmen. Der bestimmt, ob ich was zu fressen kriege und wann und was - oder eben bei Strafe schon mal gar nicht. Mit dem muss ich mich also besonders gut stellen.
Somit wurden Mikesch und Johnny zu Verbündeten. Sozusagen Brüder im Geiste ihrer Zwangslage innerhalb ihrer nahezu ebenbürtigen niederen Stellung innerhalb der Familienhierarchie.
Und deshalb hatte Kater Mikesch sein Nachtquartier schon bald von unserem Elternbett hinüber in das zerknuddelte Kinderbett verlegt.
Er zog quasi bei seinem verbündeten Spiel- und Leidensgenossen mit ein.
Es roch wohl dort auch interessanter:
Nach verstreuten Lakritzschnecken zwischen den Bettlaken, nach umgeschütteter Limonade, nach Schokoladenkrümeln auf dem Kissen und nach ungewaschenen Kinderfüßen, die nicht immer sauber geduscht vom Spielen ins Bett krochen.
Und trotz dieser innigen Wohn- und Lebensgemeinschaft war es dem Kater Mikesch schnurzegal, dass Johnny seinen dreizehnten Geburtstag feierte.
Mittags schmiss Henrik den Grill an und Johnnys Freunde und Schulkameraden kamen zum Fußballspielen und Plantschen in unserem blauen runden Baumarktpool.
Immer in dem hoffnungsfrohen Optimismus, dass wir irgendwann auch hier im Bergischen mal einen richtig schönen heißen Sommer bekommen könnten, haben wir uns diesen kleinen Gartenluxus voller Sonnenschein im Herzen gegönnt.
Merkwürdigerweise hat ja jeder Mensch an seinem eigenen Geburtstag sein ganz persönliches Wetter. Dieter weiß hundertprozentig, dass an seinem Geburtstag im Juni immer die Sonne scheint. Es ist auch bisher immer so gewesen.
Ich kann mich nicht daran erinnern, Opas Geburtstag mal drinnen verbracht zu haben.
Ich habe an meinem Geburtstag im März grundsätzlich Schnee und fieses Winterwetter, so dass eigentlich sehr selten alle meine geladenen Gäste erscheinen. „Bei dem Glatteis fahren wir aber nicht“, heißt es regelmäßig am Morgen meines Geburtstages, wenn schon längst alle Leckereien vorbereitet und die Getränke kaltgestellt sind.
Johnny schlägt bedauerlicherweise eher nach meinen persönlichen Geburtstags-Wetterbedingungen. Obwohl im Juli geboren, konnten wir schon oft die Kinderparty ins Wohnzimmer oder auf die Kegelbahn, oder in unser örtliches Hallenbad, ins Kino oder den Indoorspielplatz verlegen. Im Juli sollte es laut Kalender doch eigentlich Sommer sein. Ich kann allerdings hundertprozentig beschwören, dass der Sommer grundsätzlich am 21. Juli eine Verschnaufpause einlegt, um sich schon mal ein bisschen auf den Herbst vorzubereiten.
Die dreizehn brachte aber in diesem Jahr ausnahmsweise Glück statt Pech und Regen.
Die Sonne schien.
Es war warm.
Zehn Kinder hatten im Garten einen Heidenspaß und tobten sich ordentlich aus.
Abends gab es viel aufzuräumen. Sehr viel.
Wir schienen eine ausgehungerte Horde wilder Affen zu Besuch gehabt zu haben. Überall lagen verschmierte Essensreste, bekleckerte Teller, umgeschubste Becher. Dreckige nasse Handtücher, vergessene Badehosen, eine verlorene Zahnklammer, ein einsamer einzelner Turnschuh. Rätselhaft, dass es dem Eigentümer nicht aufgefallen ist, dass er bei der Heimreise nur einen Schuh an den Füßen trug.
Henrik und ich ließen den Geburtstagskrach mit wohl verdienter Ruhe ausklingen.
Mit unserer Lieblingsmusik von alten liebevoll gehorteten Schallplatten.
Mit einem Glas Rotwein.
Das eigene Kind hat sich nach seiner anstrengenden Sommerparty müde und erschöpft mit den Geschenken in sein Zimmer verzogen.
Dachten wir zumindest.
Falsch gedacht.
Im Juli ist es lange hell.
Also war es schon ziemlich spät, als in der dunklen Nacht ein klägliches Maunzen durch unseren Garten flüsterte. Gefolgt von knisternden Ästen.
Was war denn da los?
Wir haben die verspielte Abenteuerlust unseres jugendlichen Katerchens an diesem Tag wohl zu sehr verdrängt.Mikesch war nämlich wohl noch nicht der Meinung, dass die lustige Kinderparty jetzt schon zu Ende sei.
Solange die Kinder sich am Pool mit ihren Wasserschlachten austobten, hatte sich der wasserscheue graue Tiger nicht auf die bunte Spielwiese getraut.
Aber jetzt war der Pool verwaist, die Kinder waren verschwunden, die Luft war rein.
Endlich durfte er die vielen bunten Luftschlangen und lustig daher dümpelnden Luftballons genauer unter die Lupe nehmen. Mit Zähnen und Krallen und Zunge und Nase untersuchte er die vielen merkwürdig glitzernden und raschelnden Geburtstagsdekorationen, die wir beim Aufräumen aus lauter müder Faulheit haben nachlässig liegenlassen.
Und dann wurde er auf einen rot und leuchtend schimmernden Gegenstand aufmerksam.
Er hatte wohl ganz hoch oben in unserem Kastanienbaum ein interessantes unbekanntes Spielzeug entdeckt, dass seine ureigene Katzenneugierde mobilisierte.
Dort hing nämlich einer der mit Helium gefüllten Luftballons fest, die wir abends zum Geburtstagsabschluss hatten in den sommerlichen Sonnenuntergang steigen lassen.
Einer von diesen glitzernden Partyballons aus Aluminiumfolie, die in allen möglichen Tier- und Comicformen angeboten werden und gern auch auf einer Kirmes für teures Geld verkauft werden. Die schlappe glitzernde Folie hätte ja für den Kater auch was sein können?
Ein fliegender Fisch vielleicht, der sich in unsere Bergische Wohnsiedlung verirrt hat?
Jedenfalls kletterte Mikesch über die Äste in den etwa zwölf Meter hohen Baumwipfel, um sich die begehrte Beute zu sichern. Mikesch war damals noch ein richtiger kleiner Draufgänger, voller jugendlichem Leichtsinn, unfassbar neugierig und extrem unternehmungsfreudig.
Was er selbst aber noch nicht wußte:
Mikesch leidet unter Höhenangst.
Da hing er nun in dem Baum fest und kam allein nicht mehr runter. Er maunzte kläglich.
Johnny hörte es in seinem Zimmer zuerst. Er kletterte nun ebenfalls in den Baum. Über das Geländer des Balkons, über die Regenrinne, über das Garagendach, hinauf in die glücklicherweise recht stabilen Äste des alten Kastanienbaums.
Nun hing er dort ebenfalls fest, als der Mut ihn angesichts der er erklommenen Höhe verließ.
Traute sich nicht weiter.
Kam nicht an Mikesch heran.
Mikesch bekam Angst und floh weiter hinauf in den Baumwipfel. Johnny hockte in zehn Meter Höhe und hörte unter und neben sich die Äste knacken.
Schließlich wiegt auch ein schmalbrüstiger dreizehnjähriger Lulatsch mit viel zu langen Armen und Beinen deutlich mehr als ein dickliches Fellknäuel mit kugelrundem Thunfisch-Bauch.
„Hilfe, was für ein Trouble“, mag Johnny sicher da oben im Baum mit schlotternden Beinen gedacht haben. Traute sich aber nicht, um Hilfe zu rufen.
Das wäre ja total uncool gewesen.
Drohende Schimpfe obendrein.
Er harrte also aus.
Er erzählte später auf dem Weg ins Bett, als die Kletterkatastrophe endlich überstanden war, dass es nach seiner Handyuhr wohl fast zwei Stunden gewesen sein müssen, in denen Kater Mikesch und Junge gemeinsam starr vor Angst auf der Kastanie verharrt hatten ohne eine Ahnung, wie sie denn nun heil und unbemerkt von diesem verflixt hohen Baum wieder herunter kommen sollten.
Erst als der laue Nachtwind Mikeschs immer eindringlicheres Katzenjammern in unsere Richtung trug und es die Schallplattenmusik zu übertönen vermochte, verspürten Henrik und ich überhaupt erstmals die Neugierde, im Garten mal vorsichtig nach dem Rechten zu sehen und zu prüfen, warum da draußen so jämmerlich herum-miaut wurde.
Die Kids von heute ticken einfach anders.
Johnny rief tatsächlich stundenlang deshalb nicht um Hilfe, weil er keinen Bock auf unsere nervigen Vorhaltungen hatte.Und sich keine Schwächen eingestehen wollte. Und vor seinen Kumpels nicht als Weichei dastehen wollte.
Viel später, als ich bei ganz anderen Gegebenheiten irgendwelche Fotos auf Johnnys Mobilspielzeug abspeichern sollte, da viel mir eine regelrechte Fotodokumentation aus völlig schiefen Selfies in die Finger:
Mit Kater Mikesch auf dem Baum.
Nur die Füße in den Ästen.
Wie sich die Finger in die Zweige krallten.
Wie Mikesch mit gesträubtem Nackenfell auf
Pfotenspitzen über einen der schmalen Äste balancierte. Wie Mikesch in völlig ergebener Opferhaltung quer über einem der Stämme kauerte und die Vorderpfoten in die Tiefe baumeln ließ.
Mit Luftballonfetzen und mit gespreizten Fingern vor einer verzogenen Clownsmimik.
Mit Mond und mystischen Astwerkschatten im Nacken.
Hallo? Geht’s noch?
In solchen Momenten ist dann nicht Mikesch sondern Henrik der Cäsar in der Familie Hesselbach.
Der dann auf seine Weise kam, sah und siegte.
Er ist eben der coolste von uns allen.
Die doppelte Dachleiter stand schon am Baum, als ich noch panisch auf einem Bein herumhüpfte und immer wieder rief: „Johnny, bleib ganz ruhig. Keine Angst, wir holen dich da runter.“ „Und was ist mit meinem Mikesch?“ „Den holen wir auch runter.“
„Wir?“ meinte Henrik nur, als er die Leiter hinaufkraxelte und ich von unten zur Vorsicht mahnte, die Hände raufte, die Haare raufte und vor Sorge bald ins Höschen machte.
Henrik kam sechs Meter weit.
Dann war die Leiter zu Ende.
Der Stamm zu dünn.
Die Äste für einen ausgewachsenen Einmeterachtzig-Mann zu schwach.
„Tja, Katja. Du wiegst die Hälfte von mir. Traust Du dich in den Baum?“
Ich?
Wo mir doch schon schwindelig wird, wenn ich auf einen Stuhl steige, um die Glühbirnen in der Lampe auszutauschen.
Gut, die Erfindung des Handys hat auch nützliche Seiten. Man kann telefonieren.
Ich wählte nun konsequent einfach die 112.
Wozu gibt es die Feuerwehr mit einem Leiterwagen. Und wozu arbeite ich als Teilzeit-Lokaljournalistin in einem Dorf, wo jeder jeden kennt und ich mit jeder Schlüsselfigur unserer kleinen weltfremden Kommune auch schon ein Interview geführt habe? Auch mit Heiner Brennling, unserem pressefreudigen Oberbrandmeister der Freiwilligen Feuerwehr. Der hatte nämlich vor einigen Jahren einen Ehrenpreis für die wagemutige Rettung eines Meerschweinchens aus dem Stadtteich bekommen.
Es war damals Winter. Das Meerschweinchen gehörte der kleinen Tochter unseres Bürgermeisters.
Der spendete daraufhin einen neuen Spritzenwagen für die roten Hilfsengel unserer Gemeinde.
„Hallo Herr Brennling. Hier Katja Hesselbach.
Sie müssen sofort in den Weidenweg 3 kommen. Hier sitzen Johnny und Mikesch im Baum. Und Henrik hängt in der Obstleiter. Aber nicht mehr lange. Sehen alle drei schon ziemlich erschöpft aus!“
Wieso wohnen wir eigentlich in dem Weidenweg, wenn hier am Straßenrand so viele Kastanien stehen?
Herr Brennling war am Telefon sehr mürrisch.
Er hatte schon fest geschlafen.
Aber als Ehrenbürger unserer Stadt fühlte er die nötige Verantwortung in sich aufwallen und er kam dann auch tatsächlich innerhalb von zehn Minuten zu unserer Katastrophenstelle. Und mit ihm noch zwanzig weitere Feuerwehrleute mit Leiterwagen, Einsatzwagen, Spritzenwagen und Rettungswagen. Die Straße blinkte nur so im Blaulichtgewitter der vielen rot leuchtenden Feuerwehrfahrzeuge.
Johnny stand zum ersten Mal in dem kleinen Drahtkorb am äußeren Kopfende der ausfahrbaren Feuerwehrleiter. Kam es mir so vor, oder strahlte der Junge tatsächlich belustigte von einer Backe zur anderen?
„Na, der Kleine hat anscheinend auch noch seinen Spaß!“, bestätigte mir der Feuerwehrkollege aus den Kastanienästen.
„Ich glaube, wir haben für Ihren Sohn hier gerade eine hübsche Stuntshow initiiert.“
Tatsächlich bettelte Johnny beim Herunterfahren der Leiter aus seinem Krähennest hoch oben über den Dächern. „Bitte, bitte, darf ich noch eine Runde fahren? Das ist supergeil hier oben!“
Herr Brennling warf Henrik und mir einen Blick zu, der nur schwer zu deuten war, aber irgendwie so in die Richtung ging wie: „Für diese Zirkusnummer lasse ich euch büßen. Das wird so richtig teuer für euch Spaßvögel!“
Das Abenteuer Feuerwehr hatte für Johnny nur für diesen Abend ein vorübergehendes Ende.
Für ihn schien das Tohuwabohu ein Mega-Abschluss für seine durch und durch gelungene Geburtstagsparty zu sein.
Er schlenderte zu uns, schaute sich mit strahlendem Gesicht das hektische Treiben an, nickte kurz mit dem Kopf und wendete sich an Heiner Brennling: „Bitte, was muss ich denn machen, wenn ich auch zur Feuerwehr gehen will?“
Eine Woche später holte ihn der Mannschaftsbus unserer Jugendfeuerwehr zum wöchentlichen Teamtraining ab. Heiner Brennling hat seitdem immer ein schwer definierbares leicht verkniffenes Lächeln im Gesicht, wenn ihm unser Sohn über den Weg läuft. Und eine weitere Ehrenmedaille brachte ihm der Hesselbach-Einsatz leider auch nicht ein.
Diese alte Geschichte hat ihn aber nicht davon abgehalten, gestern bei Johnnys „Independence Day No. 18“ ordentlich mitzufeiern, mitzutrinken und genausoviel Blödsinn anzustellen wie der Rest der übermütigen Bande.
Mikesch mit der Höhenangst hatte damals nicht so viel Glück.
Die Feuerwehrleute fühlten sich wohl gerade von Johnny auf gut deutsch etwas „verarscht“.
Deshalb hielt unsere einzige Feuerwehrfrau einfach lässig den Wasserschlauch in den Baum und zielte schadenfroh auf den grauen Tiger. „Ups“, sagte sie dazu nur.
Angst verleiht bekanntlich Flügel.
Empört schrie der wasserscheue Mikesch auf, als ihn der erste kalte Wasserstrahl aus dem Feuerwehrschlauch traf. Nur einen Wimpernschlag lang schien er zu überlegen, was für ihn das größere Übel sein mochte: Nasses Fell oder gebrochene Rippen? Für den reinlichen wasserscheuen Kater gab es nur eine richtige Entscheidung.
Lieber mausetot als klatschnass.
Mikesch hechtete mit einem gewaltigen Satz und ohne weitere Gedanken an sein katzenfrohes Leben auf das Garagendach, floh mit panischen Sprüngen über die Regenrinne, über das Balkongeländer, hinein in Johnnys Zimmer und dort blitzschnell unter die Bettdecke.
Johnny lachte verschmitzt: „Warum auch nicht, genauso bin ich schließlich auch in diesen Baum gekommen.“