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Kapitel 3
ОглавлениеMilchnase
Daniela kichert verträumt aus ihrer Kissenecke: „Ja, Ja, ich weiß noch genau, um wieviel Uhr damals am Abend vor Johnnys Geburt Katjas Fruchtblase platzte. Wir haben nämlich gerade telefoniert.
Es war der 20. Juli 1994, abends um 20.00 Uhr. Die Nachrichten hatten gerade angefangen und es war noch immer so heiß, dass man sich am liebsten Eisklötze um die Füße gebunden hätte.“
Schon merkwürdig, dass ein so besonderer Tag für immer und ewig glasklar in den Erinnerungen erhalten bleibt. Er schwimmt immer ganz oben und lässt sich auch durch die gewaltige Last der vielen folgenden Turbulenzen nicht in die Tiefe drücken.
Wie in guten, so in schlechten Zeiten, hat unser Pfarrer damals bei der Hochzeit gesagt.
Und für eine Kindsgeburt gilt das Gleiche.
Wir erlebten unsere Höhenflüge, Abstürze, perfekten Glücksmomente und Katastrophenmeldungen.
Wie jede Familie.
Wie jede Mutter, die ihr Kind liebt und es gern in Watte packen möchte, wenn es einmal etwas fiebrig und ungemütlich wird.
Und wie jeder Vater, der aus seinem Sohn eine Bundesliga-Legende machen möchte, weil er in der E-Jugend sein erstes Fußballtor geschossen hat.
„Du hattest noch nicht mal eine Zahnbürste eingepackt, als es plötzlich hektisch wurde und ich dich ins Krankenhaus fahren wollte“, erinnert sich Henrik, der noch heute den Kopf schüttelt, weil ich die Sache mit dem Kinderkriegen in seinen Augen viel zu entspannt angegangen bin.
„Du bist dicker und dicker geworden.
Konntest dir kaum die Schuhe zubinden und im Bett verbrachte ich einige Wochen lang gemeinsam mit einem schnaufenden Nilpferd. – Aber es schien dir gar nicht in den Sinn zu kommen, dass dein Bauchbewohner irgendwann dann doch mal sein warmes Nest verlassen wollte“, kichert Henrik weinselig.
Stimmt.
Johnny war während der Schwangerschaft für mich keine wirkliche Belastung.
Klar wurde ich dick wie eine Elefantenkuh, aber ansonsten konnte ich während der gesamten Schwangerschaft Bäume ausreißen.
„Du hast sogar das Haus von oben bis unten renoviert und klettertest noch im achten Monat auf den Leiter herum, um die Gardinen aufzuhängen“, erzählt Daniela kopfschüttelnd. „Was haben wir mit dir geschimpft – aber wir hätten genausogut mit den Farbeimern selbst reden können. Die hätten uns genausogut zugehört!“ Henrik reibt sich die Schläfen.
„So verkehrt hat Katja sich ja wohl auch gar nicht verhalten – sonst hätte Johnny ja nicht neun Tage länger in ihrem Bauch verbracht als eigentlich geplant“, widerspricht Daniela.
Henrik lacht. „Richtig. Der Arzt im Kreissaal hat uns letztlich ja sogar recht ungewöhnliche Hausaufgaben erteilt, damit die Schwangerschaft nicht schließlich doch noch mit einem Kaiserschnitt endete.“
Daniela hebt die Augenbrauen. „So, was denn? Etwa diese üblichen Hebammentipps wie das Schleppen von Wäschekörben und Trinken diverser übelriechender Tinkturen?“ „Das auch!“ erinnere ich mich an meine strickte Weigerung, dieses Gebräu aus Rizinusöl, Aprikosensaft, Bier und Pflaumenmus zu schlucken.
Meine Hebamme hat deswegen einen regelrechten Streit mit mir angefangen.
Ich war wohl in ihren Augen eine unbelehrbare und ungezogene Mami, die sich schon vor der Geburt ihres Babys als Rabenmutter outete. „Nein, mein Doktor war ein echter Praktiker. Wir wurden ärztlich dazu verdonnert, abends eine gehörige Portion Sex mit einem Schuss Rotwein einzunehmen“, kichere ich mit versonnenem Blick auf das schon wieder geleerte Weinglas in meiner Hand und auf meinen Göttergatten.
„Nun, irgendwann wurde unsere Milchnase ja dann geboren – sonst würden wir hier jetzt nicht seine Volljährigkeit begießen und in glorreichen Kindheitserinnerungen herumrühren“, nuschelt Daniela.
Nein, nicht irgendwann.
Mein Sohn wurde am Donnerstag, dem 21. Juli 1994, geboren.
Es war 4.22 h morgens und draußen zwitscherten schon die Vögel ihren Willkommensgruß, als John sich zum ersten Mal seine kräftigen Lungen mit Sauerstoff vollsog. „Was hat der Kerl geschrien“, erinnert sich Henrik. „Das klang regelrecht nach Protest und nach Rebellion.“
Genau.
Erst mit diesem ersten herzhaften Babyschrei haben sich Henrik und ich nämlich endgültig auf seinen Namen geeinigt. Wir wussten zwar seit der 24. Schwangerschaftswoche, dass wir einen Sohn bekommen würden, aber wir fanden so viele Namen schön und passend, dass uns die Wahl wirklich schwergefallen war.
Es sollte ein Max oder Moritz werden, vielleicht auch ein Marvin oder Kevin.
Sogar historisch bedeutende Namen wie Alexander, Henry und Julius zogen wir in unsere engere Wahl.
John hieß letztlich John, weil er uns mit einer so durchdringenden Stimme in seinen Bann zog, dass die Hebamme nur meinte, dass aus dem Kerlchen mal ein großer Musiker werden müsse. Also waren Henrik und ich uns einig. Der Name John war der richtige.
Wie John Lennon von den Beatles.
Daniela lauscht melancholisch. Sie hat bisher kein Kind geboren. Und eigentlich ist sie jetzt als Erstgebärende auch schon zu alt. Schade eigentlich. Ich finde, dieses Erlebnis sollte keiner Frau vorenthalten werden.
Obwohl man das ja heutzutage relativieren sollte. Früher tickte die biologische Uhr bis zum 30. Geburtstag. Heute liest man in den Zeitungen von Fünfzigjährigen, die ihr erstes Kind zur Welt bringen. Gesund und munter und mit glücklichen Eltern.
Schon verrückt, wie sehr sich mit dem Wandel der modernen Sport- und Gesundheitsphilosophien das Auftreten einer ganzen Generation gewandelt hat. Früher galt eine Fünfzigjährige als ältere Frau. Meine Mutter trug bei der Hausarbeit geblümte Hauskleider, einen Dutt mit grauen Haaren und plumpe Gesundheitsschuhe.
Ich marschiere nun selbst mit großen Schritten auf die Fünfzig zu, genau wie meine Freundinnen. Meine Freundin Sabine würde mir mit ihren gepflegten künstlichen Fingernägeln den Hals umdrehen und mir mit ihren High-Heels in den Hintern treten, wenn ich es wagen würde, sie als „ältere Frau“ zu bezeichnen. Die Mütter aus der Generation meiner Mutter kochten und buken für die Familie und gönnten sich als Auszeit hin und wieder den Besuch in einem guten Restaurant oder im Theater.
Ich hätte mir meine Mutter beim besten Willen nicht auf einem Open-Air-Festival wie „Rock am Ring“ vorstellen können. Sabine hingegen kocht und backt zwar auch – aber vegan. Und sie geht auch gern geschniegelt und angemalt ins Theater, um ihrem intellektuellen Statement gerecht zu werden. Aber viel lieber zieht sie ihre verwaschenen Jeans und ihre Sneaker an und wirft sich in die feiernde Menge.
An dem Toilettentürspruch „Die früheren Fünfzigjährigen sind die heutigen Vierzigjährigen“ scheint schon ein bisschen Wahrheit dran zu haften.
Warum also dann sollen nicht die heutigen Fünfzigjährigen auch fit genug sein, um sich mit Familienplanung zu beschäftigen?
Wir Menschen suchen doch immer nach unseren körperlichen und geistigen Grenzen: Wir suchen sie bei der Besteigung des Mount Everest ohne Sauerstoffgerät, bei der Wanderung durch die Mongolei, bei einem Fallschirmsprung und bei Marathonläufen.
Ich bin keine Marathonläuferin. Für mich war Johnnys Geburt ein Hochleistungssport, bei dem ich meine körperlichen Grenzen kennengelernt habe. Heute betrachte ich jede Wurzelbehandlung beim Zahnarzt als Witzveranstaltung.
Und über Henriks Gejammer, der sich mit Kopfschmerzen plagt oder sich beim Joggen den Meniskus verrenkt hat, kann ich als Mutter nur träge lächeln.
Komisch, als Jungen sind die Kerle doch noch robust und leidensresistent. Wie oft kam Johnny mit aufgeschürften Knien vom Bolzplatz. Pflaster drauf, Pusten und ein leckeres Vanilleeis: Sofort war die Welt wieder in Ordnung und die Tränen vergessen.
Ab welchem Zeitpunkt in ihrer Entwicklung werden Männer zu wehleidigen Sensibelchen? Ein vierjähriger Bube ist selbst mit 39 Grad Fieber und Windpocken kaum davon abzuhalten, sich mit den Freunden auf dem Bolzplatz zu tummeln. Ein vierzigjähriger gestandener Mann lässt sich mit einer Erkältung am liebsten auf die Intensivstation verlegen.
Kein Sprung vom Zehnmeterturm ins kalte Wasser und kein Formel 1 Rennen kann diesen gleichen gewaltigen Adrenalin- und Endorphin Kick hervorrufen wie die Geburt meiner kleinen Milchnase.
Plötzlich zu spüren, dass die Beinchen des kleinen Lebewesens nun nicht mehr unter, sondern über der Bauchdecke in die Rippen stoßen.
Johnnys winzige Schrumpelfingerchen zu halten, die sich mit erstaunlicher Kraft um meine Finger schließen.
Den warmen Mund zu spüren, der beharrlich nach der Milchquelle sucht, sie findet und friedlich schmatzt, während Mutter die Zähne zusammenbeißt, um nicht vor Schmerzen aufzuheulen, weil der kleine hartnäckige liebenswerte Schmarotzer die empfindlichen Brustwarzen hemmungslos bearbeitet, um sein Recht auf Nahrung einzufordern.
Die Natur ist so gewalttätig. Das Leben ist brutal. Es fordert seine Existenzrechte mit aller Kraft und ohne Kompromiss. Dieses Gesetz lehrt dich dein eigenes Kind, kaum dass es von der Nabelschnur befreit worden ist und Mutter die erste Brustwarzenentzündung hinnehmen muss.
Papa Henrik lernte zwar keine Wehen und keine Brustwarzenentzündungen kennen, aber er hatte einen Blick in die VIP-Loge werfen dürfen, die eigentlich nur für Mütter und ihre Neugeborenen reserviert ist. Er hat Johnny und mich mit herzergreifender Anteilnahme durch die gesamte Schwangerschaft begleitet. Sozusagen von der Zeugung bis zum Schnitt durch der Nabelschnur. Er war eigentlich gefühlsmäßig genauso schwanger wie ich selbst. Er verzichtete auf sein Feierabendbier, denn Alkohol ist für Babys ungesund. Er verzichtete auf laute Musik und legte lieber Mozart auf, denn klassische Musik soll eine positive Ausstrahlung auf das Wohlbefinden des Bauchbewohners haben.
Henrik wich mir während der fast zehnstündigen Geburtsprozedur im Kreissaal nicht von der Seite.
Und als Johnny dann endlich diese schwere Hürde überstanden hatte, war er es, der die Nabelschnur durchtrennte. Diese Nabelschnur, bei der ich bis heute das Gefühl habe, sie würde noch immer als unsichtbares Band existieren und meinen Sohn auf magische Weise mit mir verbinden.
Die Hebamme erzählte, dass Henriks Hand mit der Schere sosehr gezittert hat, das sie ihm das Instrument hatte abnehmen müssen, weil sie befürchtete, Henrik könnte versehentlich nicht nur die Nabelschnur, sondern vielleicht aus Versehen auch die kleine Männlichkeit erwischen, die nur wenige Zentimeter unterhalb des Bauchnabels vorwitzig aus den Babyhautfalten hervorlugte.
„Oh Mann, war das ein Drama“, bemerkt Henrik mit leicht zittriger Stimme. Die besinnliche Stimmung dieses Abends und der reichliche Weingenuss lassen die überaus heftigen Vateremotionen wieder aufkochen, mit denen Henrik vor 18 Jahren die bislang aufregendste Nacht seines Lebens durchzustehen hatte.
„Dich haben die Ärzte schließlich mit allen möglichen Schmerzdrogen zu gedröhnt.
Ich weiß noch genau, wie mitten in der Nacht dieser Azubi mit schlaftrunkenem Blick und zerwühlten Haaren im Kreissaal auftauchte, um dir diese monströse Spritze in den Rücken zu rammen, weil du in den Wehen fast schon ohnmächtig geworden bist.
Hinterher hast du den Rest der Nacht doch recht entspannt verlebt, abgesehen von diesen Presswehen zum Schluss, bei denen dich die ganze Mannschaft in weißen Kitteln anfeuerte, als ob du beim New York Marathon in die Zielgerade eingelaufen kämst.“
Eigentlich passt der Vergleich.
Die letzten Minuten einer Geburt sind tatsächlich so was wie eine Schlussgerade beim Extremsport.
Letzte Kräfte mobilisieren, tief einatmen, Muskeln anspannen, Schmerz aushalten, bei Besinnung bleiben, und wieder Kräfte mobilisieren….
Es gibt im Verlauf der Geburt Momente, die brennen sich ins Gedächtnis ein wie ein Branding auf der Haut. Lassen sich nie wieder wegwischen.
Dazu gehört dieser Moment, in dem ich mein kleines Knäuel Leben zum ersten Mal in den Armen hielt und seinen Herzschlag auf meinem eigenen spürte und wusste, meine Welt ist vollkommen.
Und dazu gehört dieser Moment, in denen ich selbst noch völlig beduselt und besudelt von der Hebamme versorgt wurde und halb bewusstlos Vater und Sohn selig kuschelnd auf dem Sofa liegend sah.
“Milchnase meets Mister Heavy Metal”.
Henrik in seinem alten „Manowar“-T-Shirt und Johnny unschuldig eingewickelt in weiße Handtücher.
Johnny schlummerte selig wohlig auf Henriks Bauch und beide wirkten in diesem Moment so verbunden und vereint, dass ich wohl vielleicht ein bisschen eifersüchtig geworden wäre, wenn ich überhaupt noch die Kraft zu solchen Gefühlen gehabt hätte.
„Ja, Johnnys Geburt war wirklich ein Drama“, brummt es plötzlich und reißt mich aus den herzergreifenden Familienbildern, die nur Henrik, Johnny und mir gehören. Eine Familie wird erst dann wirklich eine Familie, wenn sie gemeinsam ganz besondere Momente erlebt, an denen der Rest der Welt keinen Anteil hat – und auch bewusst jedem Fremden der Zutritt strikt verweigert wird.
Mein Vater lehnt an der Terrassentür.
Er war bei der Geburt definitiv nicht dabei.
Aber er scheint schon länger in der Tür zu stehen, denn er ist über den Verlauf unserer Unterhaltung erstaunlich gut im Bilde.
„Kind, du warst ja nicht mehr du selbst, als das Würmchen endlich auf der Welt war“, lallt Opa Dieter fröhlich.
„Fast zwei Wochen lang hat dich Mama mit Sekt und Schokolade bei Laune halten müssen, weil du Tage lang Rotz und Wasser geheult hast und mit jedem Streit anfangen wolltest, der dir versehentlich in die Quere gekommen ist. Das Baby hat geschrieen, du hast geschrieen. Es war die Hölle. Eigentlich ein Wunder, dass der arme Henrik damals nicht auf und davon ist.“
Mein Papa war noch nie ein Freund taktvoller Worte.
Daniela schaut mich gedankenverloren an. „So war das? Ich kann mich eher daran erinnern, dass du Johnny in Watte gepackt hast.
Es war fast nicht möglich, an den kleinen Kerl heranzukommen, ohne dass du dich wie eine Löwenmutter dazwischen geworfen hättest.“
Daniela hat Recht. Es dauerte fast ein Jahr, bis ich mich aus der mir selbst auferlegten Rolle als allgegenwärtige hyperpräsente Supermami wieder herausgewurschtelt habe.
In den ersten zwölf Monaten gab es für mich nur Johnnys Lachen, sein Schreien, seinen Windelausschlag und das Bäuerchen nach dem Essen.
Es gab Spielen und Schmusen, nichts hatte Vorrang vor den Untersuchungsterminen beim Kinderarzt und jeder soziale Kontakt zur Außenwelt wurde durch den Schlafrhythmus unseres Sohnes bestimmt.
„Ja, Johnny war damals ein kleiner Diktator.
Er brauchte nur mit dem Kopf in die falsche Richtung zu wackeln und schon sprangen Katja und Henrik wie die Hampelmänner um ihn herum.
Damals hat schon Mama immer gesagt, dass es Zeit wird, noch eins nachzulegen.
Mit der Mutterliebe ist es wie mit dem Schnaps. Zuviel davon und die ganze Sache gerät mächtig außer Kontrolle.“
Vielleicht hätte ich von Anfang an meinem Vater die Kindererziehung überlassen sollen. Daniela und ich haben sich unter den Fittichen meiner Eltern letztlich ja auch zu annehmbaren Zeitgenossen entwickelt. Denke ich jedenfalls…