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Kapitel 2
ОглавлениеIm Schuhkarton
Die Bilder von Johnnys Kindheit wachsen zu einem mitreißenden Strudel voller kribbelnder Emotionen, die sich wie kleine unkontrollierte Stromschläge anfühlen.
Kleine Blitzattacken weit zurückliegender Erinnerungen leuchten vor meinem inneren Auge auf.
Johnnys kleine feuchte Hand, die sich angstvoll in die meine krallt, als im Zirkus ein riesiger Elefant seinen Rüssel nach dem blonden Wuschelkopf meiner damals vielleicht gerade mal vierjährigen Milchnase ausstreckte und ihm seinen heißen feuchten Atem ins Gesicht blies.
Ich hatte Angst, der Elefant könnte das Kind wie einen Korken in sich hineinsaugen oder mit den gewaltigen Baumstammbeinen eine Briefmarke aus ihm machen.
Johnny aber kannte an meiner Hand keine Angst. Er pustete dem Elefant mit vollen Lungen seinen eigenen Atem ins Gesicht, kitzelte die neugierig herumfummelnden Finger an dem langen rauhen Elefantenrüssel und klatschte sich vor Begeisterung auf die Schenkel, als der mächtige Elefant daraufhin verdutzt mit seinen riesigen Ohren wackelte. „Haben!“ forderte mein Johnny mit ernstem Gesicht und zeigte mit dem Zeigefinger auf „Jumbo“. „Nein, mein Schatz. Dieser Elefant passt leider nicht in dein Kinderzimmer. Dann bleibt kein Platz mehr für Dein Bett“, erklärte ich meinem Kind.
„Bett brauch ich nicht. Schlafen ist sowieso total blöd“, maulte mein Knirps. Er stampfte mit den Füßen auf, weil er seinen Willen nicht durchsetzen konnte. „Jumbo“ machte es ihm nach. Der Zirkusboden erbebte. Johnny plumpste auf den Hintern.
Mein Sohn roch damals den ganzen Abend lang nach pürierten Möhren, Sägespänen und Elefantendung.
Eine Woche lang gab es zu Hause nur noch einen Satz aus dem Mund des Kindes: „Ich will einen Elefanten!“
„Und ich will meine Ruhe. Sonst ziehe ich selber in den Zoo“, beendete Johnnys Vater Henrik irgendwann die Elefantendiskussion. „Von mir aus kannst Du ein Meerschweinchen oder einen Hasen bekommen. Kein Elefant!“Drei Tage später stand in Johnnys Kinderzimmer ein Kleintiergehege mit „Jumbo“, dem bunten Wirbelmeerschweinchen. „Wann wächst ihm denn endlich der Rüssel“, meckerte Johnny noch einige Wochen danach, wenn er die warme weiche Stupsnase seines haarigen Zimmergenossen streichelte.
Ach ja, und dann dieses Weihnachtsfest vor 14 Jahren.
Wir hatten vom Studentenwerk aus einen Weihnachtsmann bestellt, der meiner Meinung nach echtes schauspielerisches Talent hatte.
Er kroch tatsächlich hinter dem Gartengrill über die Terrassentür in das festliche Wohnzimmer. Hockte sich mit einem gewaltigen goldenen Buch neben den Weihnachtsbaum, den Henrik selbst abgeholzt hatte und der mit seinen damals drei Meter fünfzig definitiv viel zu groß für unsere normal bemessene Zimmerdecke gewesen ist.
Der Student mit Kissen vor dem Bauch und flauschigem Bart sprach ganz tief und ernst und zählte alle netten Kindergeschichten aus Johnnys kleinen Alltagserlebnissen auf, die wir zuvor mit ihm am Telefon besprochen hatten.
Und was machte Johnny?
Meine kleine Milchnase marschierte schnurstracks völlig respektlos auf den armen Kerl zu, stellte sich vor ihm auf, zog ihm den weißen Rauschebart aus dem Gesicht und gluckste vergnügt: „Diese olle ‚Kinnmüsse‘ muss doch dolle kratzen. Meine Müssen kratzen immer.“ Der bedauernswerte Weihnachtsmann bekam einen knallroten Kopf, doppelt so tiefrot wie sein Nikolaus-Plüschmantel mit weißen Fellbordüren.
Aber der studierende Weihnachtsmannnachwuchs reagierte damals echt cool.
Er grinste Johnny fröhlich an, klatschte ihn mit einem „High Five“ ab und grunzte: „Ho, Ho, Ho, da siehst Du mal, was ich armer Weihnachtsmann seit ewigen Zeiten ertragen muss, damit alle Kinder dieser Welt ein glückliches Weihnachtsfest feiern können. Das nächste Mal kommt Dich das Christkind besuchen. Das kann fliegen und hat keinen kratzigen Bart.“
Gerade als sich in meinem Kopf die teilweise längst verstaubten und verrosteten alten Türen zu den kleinen Gemächern mit Erinnerungen aus Johnnys Kindheit zu öffnen beginnen, kommt Daniela mit einer neuen Flasche Wein an.
Henrik balanciert vorsichtig auf uns zu, denn er umschlingt mit den Armen einen großen Umzugskarton, den er mit dem Kinn abstützen muss.
„Hier meine Süßen. Ein Berg voller Fotos, Geburtstagskarten und Souvenirs. Wollen doch mal sehen, ob unser Johnny wirklich so ein liebes Kind gewesen war. Ich habe da nämlich teilweise ganz andere Erinnerungen….“
„Meinst Du, das passt heute abend? Denk doch an die Kinder im Garten. Müssen wir uns nicht ein bisschen um die wilde Bagage kümmern?“
In mir regt sich die fürsorgliche Gastgeberin, die sich letztlich an diesem Tag und nun inzwischen in dieser Nacht seelisch, moralisch und pädagogisch dazu verpflichtet fühlt, ein Auge auf die ausgelassene Jugendbande im DLRG-Zelt vor unserem Haus zu werfen.
„Pssst. Wir haben uns 18 Jahre lang jeden Tag und jede Stunde um das einzige Welpen unseres kleinen Rudels gekümmert. Lasse die da draußen mal ihr Ding machen. Wir machen hier jetzt das unsere“, kichert Henrik und gibt mir einen dicken Schmatzer auf den Mund.
Na dann mal Prost.
Ein Hoch auf uns und unseren ach so erwachsenen Nachwuchs, der nun Schritt für Schritt von den für ihn noch immer gut erreichbaren elterlichen Armen zurücktreten wird.
Vielleicht, um sich schon bald in Julianas jüngere zärtliche Mädchenarme gleiten zu lassen, die ihn im nächsten Lebensabschnitt stützen und liebkosen werden.
Vorausgesetzt, Juliana und Johnny werden überhaupt noch miteinander kommunizieren, nachdem die Gute sich ausgerechnet heute bei der Geburtstagsparty so rar gemacht hatte.
Wir sind doch damals genauso aus der elterlichen Tür hinaus ins Abenteuer Leben getreten. Wenn die Lust auf Leben und auf Erfahrung wächst, dann muss auch der Radius wachsen, in der Mensch seine Neugierde befriedigen darf.
Henrik wühlt sich mit beiden Armen durch die gewaltige Sammlung von Fotoalben, Tagebüchern, Souvenirboxen und Döschen, in denen wir seit nunmehr 18 Jahren Johnnys Leben und etliche seiner Entwicklungsschritte zusammengehalten haben.
Ich weiß, dass ich diese Kiste erst vor wenigen Wochen wieder verschlossen hatte, als ich Johnny Führerscheinkopie in den Zeugnisordner geheftet habe.
Ein kleines Abschnitts-Lebenswerk in einem Umzugskarton.
Ob wir wohl die Gelegenheit bekommen, noch einen weiteren Umzugskarton mit Dokumenten aus Johnnys nächsten Lebensabschnitten zu füllen?
Je älter die Kinder, desto dürftiger die Erinnerungsfotos und –stücke.
Es ist wahrscheinlich normal, mitten in der aufregendsten Pubertätsphase möglichst viele Geheimnisse vor den Eltern aufzuhäufen.
Ich kann mich da ja selbst noch gut an manches Geheimnis aus meiner eigenen Jugend erinnern: Den ersten Schwips, wenn man heimlich mit der besten Freundin hinter dem alten Bahnhofsgebäude die erste Flasche Sekt geleert hatte.
Den ersten eher peinlichen Liebesbrief von einem ungeliebten Klassenkameraden, mit dem man eigentlich noch nicht mal das Nussnougatbrot hätte teilen wollen.
Und dann der erste sehnlichst herbeigewünschte Liebesbrief von dem heimlich verehrten Schwarm aus der Oberstufe, den ich mich niemals getraut hätte anzusprechen – aus lauter Angst, mein Kopf könnte vor Scham zu einem knallroten Luftballon mutieren. Wie herrlich waren damals dieses Herzrasen und dieser berauschende Tanz auf Wolke Sieben gewesen.
Johnny wird wohl keine Liebesbriefe mehr schreiben – und Juliana wird ihr Leben lang nur Videoclips und Handytexte auf ihrem in zwanzig Jahren längst antiquierten Smartphone sammeln müssen, um die erste Liebe ihres Lebens in Erinnerung zu erhalten.
Welcher Jugendliche schreibt heute denn schon noch mit Begeisterung mehr als fünf aufeinanderfolgende Wörter mit einem richtigen Stift auf richtigem Papier. Selbst die Hausaufgaben werden mit dem Textverarbeitungsprogramm des Computers verfasst.
Der Spickzettel für die Matheklausuren und die Vokabeln für den Französischtest werden im Handy gespeichert, und Liebesgedichte oder philosophische Weisheiten „simst“ man sich im Gruppenmodus, damit möglichst viele Mädchen emotional daran teilhaben.
Ich überlege ernsthaft, wie heute die romantischen Gedichtbände des ollen Goethe aussehen würden, wenn er damals die leidenschaftlichen Gefühle seiner Sturm- und Drangzeit mit den heutigen Kommunikations-medien verfasst hätte.
Ich jedenfalls entstamme noch einer fast schon ausgestorbenen Langhaar-Generation hoffnungslos romantischer Träumer in Röhrenjeans und Turnschuhen, die sich heimlich gegenseitig mit Begeisterung auf Recycling-Papier mit umweltfreundlichen Holzfüllfederhaltern schmalzig triefende Liebesschwüre und unerfüllbare Versprechungen in den Tornister schmuggelten.
Meine Mutter hat die Briefe nicht zu sehen bekommen.
Geheimnisse sind schließlich nur spannend, wenn sie im Geheimen stattfinden.
Welche Mutter wird schon darüber informiert, wenn sich Junge und Mädchen zum ersten Mal hinter einer Parkhecke mit geschlossenen Augen verliebt küssen und ausprobieren, wie das mit dem Zungenkuss so funktioniert?
Und bei dieser Gelegenheit auch gleich mit den Fingern ertasten, wie sich die Körperteile des anderen Geschlechtes in jeglicher Erregungsform so anfühlen mögen?
Es gibt nun einmal Erfahrungen im eigenen Leben, die definitiv nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich einer fürsorglichen Mutter gehören.
Außerdem ist eine Mutter doch auch ein bisschen egoistisch. Ich will mir nämlich gar nicht vorstellen, wie heute eine zarte Mädchenhand den Rücken meines Sohnes krault. So, wie es gute zwölf Jahre lang beim abendlichen Zubettgehen jeden Abend meine Aufgabe gewesen war. Wer fühlt sich denn schon gern plötzlich überflüssig!
Den kleinen Schlüsselanhänger mit einem Hufeisen als Glücksbringer, den mir mein erster Freund nach unserem ersten etwas intimeren Stelldichein schenkte, verwahre ich noch heute als eines meiner kleinen Heiligtümer in meiner persönlichen kleinen Schatzkiste in Form eines uralten rosafarbenen Puppenkoffers.
Den Puppenkoffer habe ich vor meiner Mutter immer gut versteckt. Der Schatz sollte mir allein gehören.
Unteilbar.
Unzensiert.
Unkommentiert.
Und weil ich schon früh gern selbst meine kleinen Geheimnisse gehütet habe, gebe ich mich nicht den Illusionen hin, dass ausgerechnet mein forscher Sohn sich mir in allen Lebenslagen offenbaren wird.
Will ich ja auch gar nicht.
Es ist halt so:
Wenn die Zeit gekommen ist, in der es für eine Mutter kaum noch Gelegenheiten gibt, vom eigenen Kind gemeinsame Erinnerungsstücke aufzuheben, dann ist die Zeit gekommen, in der das Kind seine eigenen Geheimnisse als kostbare Erinnerung des Erwachsenwerdens verwahrt.
Wer will einen Vogel daran hindern, in den Himmel zu fliegen, wenn er gelernt hat, wie er dafür seine Flügel zu benutzen hat?
Daniela gießt uns allen ein randvolles Glas Rotwein nach und lümmelt sich schläfrig auf die Hollywoodschaukel. Sie richtet sich auf eine längere Verweildauer ein.
Henriks normalerweise ehr tatkräftig zupackende Männerhände ziehen fast schon andächtig mit extremer Vorsicht eine kleine Kinder-Geschenkbox mit aufgemalten Bärchen aus den Tiefen des magischen Kartons.
„Schau mal, Katja-Schatz. Weißt Du noch, was sich in dieser Schachtel befindet?“ Umständlich öffnet Henrik den Deckel und steckt seine Nase in die Box. Er zieht vorsichtig mit spitzen Fingern ein kleines Armbändchen aus dem Karton.
Winzig ist es.
Mit weißen und blauen Perlen.
Und auf den Perlen steht der Name „John H. 21.07.1994“. „Das würde heute kaum noch um Johnnys dicken Zeh passen“, kichere ich.
Dann hält mir Henrik ein paar zusammengeheftete Schwarz-Weiß-Fotos vor die Nase.
„Das sind die ersten Ultraschallaufnahmen. Meine Güte, damals war Johnny gerade mal sieben Zentimeter lang. Heute zieht er den Kopf ein, wenn er durch die Tür geht.“
Ich schaue verträumt auf die alten Aufnahmen.
„Nein, ich habe nichts vergessen.
Nur ein bisschen auf Seite geräumt, um neuen Platz für unser Hier und Jetzt zu schaffen.“