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Das Judentum: Sexualität, Moral und Religion
ОглавлениеWie die meisten religiösen und kulturellen Traditionen ist auch das jüdische Denken über die Sexualität komplex und von tiefen Spannungen gekennzeichnet.41 Viele dieser Spannungen waren von Anfang an im grundlegenden Text des Judentums, in der hebräischen Bibel, angelegt. Erzählungen (wie die Geschichte von Ruth) stehen in einem Spannungsverhältnis zu strengen Gesetzbüchern; sexuelle Überschreitungen (wie Davids Ehebruch) gehören in Gottes Plan für die Zukunft Israels; erotisches Begehren wird gemeinschaftlichen Anliegen untergeordnet (nicht aber im Hohelied); Reinheitsgesetze koexistieren mit Gleichgültigkeit gegenüber der weiblichen Sicht von Vergewaltigung (wie im 5. Buch Mose, 22:28–29).42 Die Spannungen lösen sich auch nicht in den talmudischen Schriften der Rabbis und zu keiner Zeit der jüdischen Geschichte auf, obwohl bestimmte Konflikte dabei nach und nach verblassen. Folglich ist die Einstellung zum Sex nie frei von Ambivalenz, obgleich sie in allen Zweigen des Judentums grundsätzlich positiv ist. Der sexuelle Instinkt wird als Geschenk Gottes angesehen, als natürlicher Teil des menschlichen Lebens, wesentlich für das Überleben eines häufig bedrängten Volkes. Doch birgt dieser Instinkt Gefahren in sich, sowohl weil er dem Göttlichen nahesteht als auch weil er zum Kontrollverlust führen kann.
Im Gegensatz zu vielen benachbarten Religionen glauben die Juden an einen asexuellen Gott, dessen Plan für die Schöpfung aber Ehe und Fruchtbarkeit heiligt und zum Gegenstand der religiösen Pflicht macht. Im Kern der traditionellen Sexualmoral des Judentums steht die religiös motivierte Heirat. Das Ehegebot enthält ein Fortpflanzungsgebot, und das Modell für Ehe und Familie ist patriarchalisch. Diese beiden Elemente der Tradition, die Pflicht, sich fortzupflanzen und ihr patriarchalischer Kontext, erklären viele der spezifischen sexuellen Vorschriften und die ethischen Kommentare, die sie begleiten.
Während also die Verpflichtung zur Ehe das Gebot der Fortpflanzung nach sich zieht, wird die Ehe auch als Pflicht angesehen, weil sie der Heiligkeit der Partner förderlich ist. Heiligkeit schließt mehr ein als die Kanalisierung des sexuellen Begehrens, obwohl sie auch das meint; aber sie beinhaltet auch die Gemeinschaft und gegenseitige Erfüllung der Ehepartner. Die monogame lebenslange Ehe wurde von Beginn an bevorzugt (obwohl andere geordnete Beziehungen lange als gegeben hingenommen wurden), und im Lauf der Zeit setzt sie sich als Brauch und Ideal durch. Zu bestimmten Zeiten jedoch standen das Fortpflanzungsgebot und der Wert ehelicher Beziehungen an sich in einem Spannungsverhältnis. Obwohl die Gesetze zu den ehelichen Rechten und Pflichten – als onah bezeichnet – darauf abzielten, den Sex zum Hüter der Liebe zu machen, wurden die Polygynie, das Konkubinat und Scheidung sowie Wiederverheiratung lange Zeit als Lösung für eine kinderlose Ehe akzeptiert. Im 11. Jahrhundert wurde die Polygynie schließlich von Rabbi Gerschom aus Mainz verboten, und im 12. Jahrhundert verbot Maimonides ausdrücklich das Konkubinat.43
Innerhalb der gesamten jüdischen Tradition hat es einen deutlichen Unterschied in der Behandlung der männlichen und weiblichen Sexualität gegeben.44 Zum Teil lag das an der untergeordneten Rolle von Frauen in Familie und Gesellschaft. Ross Kraemer warnt allerdings davor, ein allzu düsteres Bild des Lebens jüdischer Frauen zu zeichnen, besonders im 1. Jahrhundert n. Chr.45 Es gibt zahlreiche Geschichten jüdischer Frauen, die den weiblichen Einfluss bei der Gestaltung ihrer Gemeinschaften und ihr häufiges Auftreten im öffentlichen Raum belegen. Trotzdem treten im sexuellen Bereich einige deutliche Unterschiede hervor. Die Regulierung der weiblichen Sexualität wurde als notwendig für die Stabilität und Kontinuität der Familie angesehen. Beim vorehelichen und außerehelichen Sex, selbst bei Vergewaltigung, gab es rechtliche Unterschiede für Männer und Frauen. In der biblischen Periode konnten Ehemänner, aber nicht Ehefrauen, die Scheidung bewirken (5. Buch Mose, 24:1–4), und obwohl die Rabbis später nach Möglichkeiten für die Frau suchten, die Scheidung einzuleiten (oder einen Mann zur Scheidung von seiner Frau zu zwingen), wurde das grundlegende Ungleichgewicht der Macht in dieser Frage nicht geändert. Der Ehebruch wurde als Verletzung der Eigentumsrechte eines Ehemannes verstanden, und er konnte mit dem Tod beider Parteien bestraft werden. Das Verhalten und die Bekleidung von Frauen wurden reguliert, um zu verhindern, dass sie Männer zu verbotenem Sex verlocken. Die Gesetze der onah verpflichteten Männer, die sexuellen Bedürfnisse ihrer Frauen zu respektieren, aber die Niddah-Vorschriften (zur menstruellen Reinheit) hatten – wie unbeabsichtigt auch immer – die Folge, dass Frauen symbolisch mit Verunreinigung assoziiert wurden.
Die jüdischen Ehegesetze, welche die sexuellen Pflichten des Mannes seiner Frau gegenüber regeln, zeigen die außerordentlich positive Einstellung des Judentums zur Sexualität. Obschon in einem patriarchalischen Kontext formuliert (und folglich aus der Sicht des Mannes), zielen sie darauf ab, die Bedürfnisse von Frauen zu berücksichtigen und ihre Interessen zu wahren. Weil man glaubte, Frauen seien passiver als Männer und würden den Sex nicht mit derselben Freiheit wie Männer initiieren, werden Ehemänner ermahnt, nicht nur auf ihre eigenen Wünsche und Impulse zu hören, sondern auch auf die ihrer Frauen. Auf diese Weise könnten sie gemeinsam unter angemessener Mäßigung seitens des Mannes und unter Beachtung der Gesetze der menstruellen Reinheit die Sexualität zärtlich und voller Freude zelebrieren.
Die jüdische Sexualethik bejaht folglich die Sexualität innerhalb der heterosexuellen Ehe. Sex außerhalb der Ehe (oder ähnlicher Strukturen) war allgemein verboten, oder es wurde zumindest davor gewarnt (es gibt kein ausdrückliches Gesetz gegen vorehelichen Sex oder gegen die sexuelle Beziehung mit einer unverheirateten Frau, aber die ethischen Normen schlossen ein solches Verhalten aus). Masturbation, Inzest, Ehebruch, männliche Homosexualität wurden als ernsthafte Überschreitungen angesehen. Lesbische Beziehungen wurden vom biblischen Gesetz nicht geregelt und in der rabbinischen Literatur weit weniger ernst genommen als männliche Homosexualität (zum Teil, weil sie kein »unziemliches Verströmen von Samen« beinhalten).
Die Spannungen innerhalb der jüdischen Tradition spitzten sich deutlich zu, als das jüdische Denken mit den hellenistischen Philosophen in Kontakt kam. Im 1. und 2. Jahrhundert n. Chr. erwies sich das rabbinische Judentum keineswegs immun gegen das Misstrauen, das man dem Sex in der stoischen Philosophie und der gnostischen Religion entgegenbrachte. Jüdische Gelehrte hielten den sexuellen Instinkt für ein Geschenk Gottes, aber sie bezeichneten ihn auch als »bösen Trieb« (yetzer hara), der besonderer Kontrolle bedurfte und der ohne sorgfältige, sogar asketische Disziplin einen Menschen davon abbringen könne, Gott und der Gemeinschaft zu dienen. Das passte gut zu dem stoischen Sexualpessimismus und brachte die Juden jener Zeit dazu, den Sex weitaus negativer einzuschätzen, als es vorher charakteristisch war. Entsprechend wurde die Kontrolle über den weiblichen Körper verschärft (um die Versuchung für Männer zu begrenzen) und dem Sex – ob ehelich oder außerehelich – mit Misstrauen begegnet.
In seiner Gesamtheit betrachtet, verfügte das Judentum über viel fältige sexuelle Traditionen. Aber die inhärenten Spannungen sind als Problem für das heutige Judentum geblieben. Wie andere religiöse Gemeinschaften wird auch das Judentum mit einem wachsenden Pluralismus zu Fragen des vorehelichen Sex, der Gleichstellung der Geschlechter und gleichgeschlechtlicher Beziehungen konfrontiert. Gegenwärtige Konflikte betreffen die Interpretation traditioneller Werte, die Analyse der gegenwärtigen Situation und die Eingliederung bislang nicht vertretener Perspektiven – insbesondere jener von gleichgeschlechtlich orientierten Männern und Frauen.