Читать книгу Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben - Margarithe W. Mann - Страница 4

Einer kommt, - der andere muss gehen

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Der Januar 1992 ist nicht sehr kalt, er bleibt zumindest in Domstedt fast ohne Schnee. Das Geschäft mit diesem „My way“ bringt nichts ein, zudem liegt es mir nicht, jemanden etwas anzudrehen. Ich fahre öfter mit Udo mit, wenn er wegen der Fenster - und Türen Verkaufsgeschichte unterwegs ist, um eine Kontrolle wegen seines Alkoholkonsums zu haben, er ist gezwungen mit dem Auto eine größere Strecke zu fahren. Ich bleibe im Auto sitzen, wenn er zu den Leuten hineingeht und in den Haushalten Verkaufsgespräche führt, ich kann demzufolge auch nicht beurteilen, wie das Ganze abläuft.

Ebenfalls im Januar 1992 bin ich bei Vogenschmidts in der Gaststätte zu einem kleinen nachträglichen Neujahrstreffen eingeladen. Herr Vogenschmidt sorgt wieder für ein leckeres Essen und Marianne aus der Küche, sowie der Kellner Urs Oberland sind auch da. Ich freue mich über ein paar vertraute Gesichter. Marianne und ich gehen, nachdem wir uns gegen 22.00 Uhr verabschiedet haben, noch ein Stück gemeinsamen Weges. Wir erzählen uns ein paar persönliche Dinge, die vorhin nicht unbedingt für alle anwesenden Ohren bestimmt gewesen sind. Sie hat auch schon allerhand hinter sich, ist geschieden, ihr Mann hat sie geschlagen und missbraucht. Nach einigem zögern entschließe ich mich, ihr von der leidigen Geschichte, betreffs Udos ekeliger Übergriffe im Alkoholzustand zu erzählen, mit der gleichzeitigen Bitte es für sich zu behalten. Sie hält mitten auf dem Bürgersteig inne und dreht sich zu mir um. „Bist Du verrückt?“, meint sie, „Du brauchst Dich doch von Deinem Mann nicht zu etwas zwingen lassen was Du nicht willst, das grenzt ja schon an Vergewaltigung!, ... Nötigung ist das auf alle Fälle!, ... Du bist ein freier Mensch, auch wenn Ihr verheiratet seit, ... und wenn er dabei Gewalt anwendet, dann kannst Du ihn genauso anzeigen, ... wie jeden anderen Mann auch“. Ich bin gleichfalls stehen geblieben. „Waaas sagst Du da?, ... stimmt das wirklich?, ... Du das habe ich nicht gewusst, … echt nicht!“. „Na, sag mal, ... wo lebst Duuuu denn?, klar ist das so, Du brauchst Dir das nicht gefallen lassen, ... Du brauchst das nicht hinzunehmen!, das ist Gewalt, wenn er von Dir etwas erzwingen will was Du nicht möchtest!“. Sie schüttelt ungläubig den Kopf und steht dabei so wie ich noch an der gleichen Stelle des Gehweges, so viel Dummheit meinerseits ist mir direkt peinlich. „Mensch, ... Marianne, jetzt bin ich aber doch froh, dass ich es Dir erzählt habe, ... ich habe das tatsächlich nicht gewusst“. Wir gehen weiter, wir bekommen doch langsam kalte Füße. „Na, ... Du bist mir vielleicht ein Herzchen!, ... Du könntest bei Deiner großen Tochter schon bald Oma werden, … und Du bist doch auch sonst nicht gerade das, was man als dumm bezeichnen kann, ... aber das?, ... ich glaub` es nicht!“. Wir kommen zur Straßenkreuzung, an der sich unsere Wege trennen, jeder muss nun eine andere Richtung einschlagen. „Marianne geh` bitte bloß nicht auch noch mit meiner Dummheit hausieren“, sage ich zu ihr. „Ach, i wo, nein, nein, ...“, meint sie nur, aber anstatt weiterzusprechen ballt sie ihre Faust, droht damit in der Luft herum und ruft schließlich: „Aber Du!, … lass Dir das nicht gefallen!, denk` daran was ich Dir gesagt habe!, ... ich habe das alles schon durch!“. Wir gehen jeder seiner Wege nach Hause und ich denke mir: meine Güte, wenn ich ihr jetzt auch noch erzählt hätte, dass ich so gern lieber heut` als morgen in meine Heimat zurück möchte, aber nicht weiß wie ich das anstellen soll, dann würde sie mich für total bekloppt erklären, ... und das auch noch berechtigter Weise. -

Wenn ich nicht mit Udo wegen seiner Fenster mitfahre, bekomme ich prompt jedes mal die „Quittung“, er schlägt mit dem Alkoholkonsum sofort wieder zu. Fast immer geht er am Abend noch weg, um voll wie eine Haubitze zurückzukommen. So auch eine abends, irgendwann so Ende Januar muss das gewesen sein. Carlo schläft, ich bin auch gleich zu Bett gegangen, nachdem ich die polternden Schritte auf der Treppe wahrgenommen habe und hoffe so wie immer, er würde gleich in der Stube in sich zusammenfallen und einpennen. Die Tür wird aufgerissen und knallt sogleich zurück ins Schloss, stampfende Schritte nähern sich. Er ist betrunken, was sonst, ... schniefend streckt er seine teigigen Finger nach mir aus, greift damit unter meine Zudecke nach meinem Oberkörper und macht Anstalten, sich unter meine Decke zu drängen. Er stinkt nach Alkohol, Zigarettenqualm, Schweiß und ungeputzten Zähnen. Ein ganz schrecklicher, enormer Widerwille steigt in mir auf, ... ich denke an die Unterhaltung mit Marianne vor ein paar Tagen. Ich stoße seine Hand weg und stopfe die Zudecke so gut es geht unter meinen Körper. „Na, ... was is` n nu los?“, faselt er. „Geh weg, ... geh einfach und lass mich in Ruhe bitte!“. „Was soll` n das jetzt, ... Du, ... Du bist meine Frau, ... haste wohl vergess` n, ... oder wie?“, schnauft er und versucht erneut, sich mit Gewalt Zugriff zu meinem Körper zu verschaffen. „Ich sag` Dir nochmal, ... lass mich in Frieden, wenn Du mich nicht in Ruhe lässt, dann zeige ich Dich an bei der Polizei, ... Du kannst mich nicht zwingen, ... wenn ich es nicht will!“. Ich staune ein wenig über mich selber. „Woher hast` n mit mal diese Weisheit, ... wir sind verheiratet, ... und es ist Deine Aufgabe, mit mir zu schlafen und Deine Pflichten zu erfüll` n, wenn ich will“. Ich klemme erneut nochmals und fester die Bettdecke unter meinen Körper, er lässt noch immer nicht nach, sein sabberndes Gesicht beugt sich über mich, er versucht, meine Arme mit Gewalt unter der Zudecke hervorzuholen. Ich bin zum Glück gewandter und viel schneller als er. Er rutscht weg und es gelingt mir aus dem Bett zu springen, er richtet sich mühsam und keuchend auf, aber ich kann ihn zurückstoßen, sodass er krachend auf das Bett zurückfällt. „So, ... jetzt will ich Dir einmal etwas sagen, ich weiß ja nicht, wer hier seine Pflichten erfüllt und wer nicht, denn Du kümmerst Dich um überhaupt nichts“. Aber nur ein langgezogenes, jedoch aber sein wohl ursprüngliches Vorhaben aufgebendes „Wieeeesoooo?“ kommt, mehr nicht. Ich äffe ihn nach: „Wieeesooo?, wenn Du vernünftig zur Arbeit erschienen wärst und diese auch ordentlich gemacht hättest bei der Frau Gärtner, dann hätte sie Dich nicht entlassen, ... nicht einmal die zweite Chance bei Messersteins hast Du wahrgenommen, und man muss Dich regelrecht beaufsichtigen, damit Du nicht besoffen zu den Leuten fährst, um ihnen etwas von Deiner Firma anzudrehen. Ich habe die ganze beschissene Wohnung hier alleine renoviert, ... vom Garten ganz zu schweigen. Sogar die Kohlen lässt Du mich alleine aus dem Schuppen holen und heraufschleppen, ... Du brüstest Dich mit den paar Pfennigen die für uns übrig hast, … bei all` diesen Dingen scheinst Du derjenige zu sein, der vergessen hat, dass wir verheiratet sind!, ... ist Dir noch nicht aufgefallen wie widerlich und ekelig Du eigentlich bist?, ... so ungewaschen, stinkend und betrunken etwas von mir zu fordern?“. Er richtet sich ächzend wieder auf und lallt mehr als das Worte zu verstehen sind, er versteht nicht, oder will es nicht verstehen: „Na, nun übertreib das nicht, ... komm` jetzt ins, ... ins Bett, los!“, fordert er erneut. „Nein, ... das werde ich nicht, ... und das werde ich auch in Zukunft nicht, ... ich habe es satt. Entweder Du begibst Dich in eine Entziehungskur, ... oder aber Du machst in Zukunft was Du willst, ich habe keinen Bock mehr Dein Kindermädchen zu spielen und Obacht zu geben, damit Du nicht so viel säufst, ... und ich sage Dir noch eins: ich bedaure, dass ich hier her gezogen bin, und noch viel mehr, dass ich mich habe breitschlagen lassen Dich zu heiraten, wegen Dir habe ich meine Heimat, Eltern, Arbeit und Freunde verlassen, ... ich habe allen Ernstes daran geglaubt, endlich ein normales Familienleben zu finden!“. Ich bekomme fast keine Luft mehr, ich habe alles in einem Atemzug von mir gegeben und mich dabei bemüht nicht so laut zu sein wegen Carlo, aber leise schreien ist noch viel anstrengender, als sich lauthals Luft zu machen. Er bekommt beim sprechen kaum die Zähne auseinander. „Ich, ... ich habe Dich nicht gezwungen“, nuschelt er. „Na, ja“, mehr kann ich nicht mehr sagen, ich staune aber wie gesagt über mich selber, überhaupt meinen Mund aufgemacht zu haben. Ich nehme mein Bettzeug und gehe damit ins Wohnzimmer. „Das wirst Du noch bereuen, ... ich mach Dich fertig“, zischt er drohend hinter mir her, versucht sich aufzurichten, aber er fällt zusammen und vor dem Bett liegen. Diesmal bin ich diejenige, die nur ein Achselzucken als Antwort übrig hat, gesehen hat er es allerdings nicht mehr. Schlafen kann ich, wie man sich denken kann nicht, zu viele Geister unternehmen Spaziergänge durch meinen Kopf und durch meine aufgewühlte Seele. Am liebsten würde ich umgehend alle Sachen packen und losfahren, aber ich weiß nicht wie ich das anstellen soll, wie soll ich das machen, ich weiß nicht wo ich die Kraft hernehmen soll, wie soll ich wem was sagen?, ... ich schäme mich für etwas worüber ich mich heute immer wieder frage, wofür oder für was eigentlich. Gegen Morgen bin ich fast soweit, dass ich mir vornehmen möchte, doch einmal Carlo genauer zu hinterfragen, wie es für ihn hier in Mecklenburg ist, ich weiß aber nicht so recht, wie ich es handhaben soll, schließlich geht er hier nun auch schon eine ganze Weile zur Schule und hat Freunde. Ich finde keine passende Gelegenheit dafür, schiebe es jeden Tag erneut auf den nächsten, bis Dinge eintreten, die nicht nur mein Vorhaben wieder gänzlich durcheinander bringen. Ich warte wiedereinmal vergebens auf meine monatliche Geschichte, messe dem aber keine außerordentliche Bedeutung bei, in letzter Zeit kommt das öfter vor, sicher durch Aufregungen und Gefühlszustände bedingt. Am 20. Januar sind wir zum Geburtstag von Udos Mutter eingeladen, zu dem Zeitpunkt geht es mir noch gut, allerdings bin ich nicht sehr gern bei meinen Schwiegereltern, ich glaube Carlo auch nicht. Besonders die Oma ist irgendwie unnahbar, hält sich für etwas besseres und lässt herausgucken, dass bei ihnen Geld in ausreichender Menge vorhanden ist. Zudem tut eben auch noch diese sogenannte „Wiesenstadtoma“, wie sie von uns bezeichnet wird so, als wäre ihr Udo das Beste was es auf dieser Welt gibt. Während wir am Tisch sitzen und noch nicht einmal fertig sind mit Kaffee trinken, hat sie nichts besseres zu tun, als mit einem Handstaubsauger sofort jeden Krümel, der heruntergefallen ist, gleich wieder aufzusaugen, das nervt regelrecht. Ich weiß diese Geste allerdings nicht so recht zu deuten, ... eine besondere Reinlichkeit ihrerseits hervorkehren vielleicht?. Ich bin auch kein Ferkel, aber jedem Krümel und jedem Fussel nachzujagen, dazu habe ich weder Zeit noch Muße. Ich vertrete noch heute die Meinung, es muss stets so aufgeräumt und sauber sein, dass ich auch unerwartetem Besuch jederzeit meine Tür öffnen kann ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, aber ich muss keinen keimfreien OP aus meiner Wohnung machen wollen.-

Ab Februar 1992 fahre ich mit Udo nicht mehr mit, ich bin nicht gewillt, weiter den Aufpasser zu spielen. „Zieh Dich an, ... oder fährst Du heute nicht mit?“, fragt er. „Nein, ich fahre heute nicht mit, und ich werde überhaupt nicht mehr mitfahren“. „Und, ... warum auf einmal nicht?“, hakt Udo nach. „Das will ich Dir sagen, ich habe einfach keinen Bock mehr, verstehst Du?, es ist mir mittlerer Weile egal was Du machst und ich habe Dir schon mal gesagt, dass Du es Dir aussuchen kannst, ... entweder Du lässt Dich behandeln und machst eine Entziehung, ... oder aber, Du machst so weiter und musst mit den Konsequenzen rechnen“. „Was is` n das für ein Unfug, Alkoholentzug!, ich trinke doch nicht, … willst Du mir verbieten, ein Feierabendbier zu trinken?“, entgegnet er mit bereits einer Fahne. „Ich?, ... ich verbiete Dir gar nichts, aber Du hast nichts verstanden, ... gar nichts!“, antworte ich und frage mich gleichzeitig ernsthaft, ob er sich so doof stellt oder es tatsächlich ist. „... Und ich sage Dir noch etwas, ich verlange von Dir,dass Du ein wenig freundlicher mit meinem Kind umgehst, ich dulde nicht, dass Du Carlo grundlos anschnauzt. Wenn Dir etwas missfällt, dann sage es mir bitte, oder rede in einem vernünftigen Ton mit ihm, … und noch etwas, die Autoraten laufen über Dein Konto, Du wolltest alles so haben, und Du bist auch verantwortlich dafür, ich habe nur mit unterschrieben, für Januar ist eine Mahnung gekommen, ich habe Dir aber meinen Anteil gegeben, sorge bitte auch dafür, dass alles damit in Ordnung ist“. Auf alle angesprochenen Themen bekomme ich keine Antwort, er sagt nur: „Tja, nun, ... dann fahre ich eben alleine“.

In den Winterferien freue ich mich, meine Heimat wieder zu sehen, in Seelstein liegt so viel Schnee, ich kann mit Carlo zum Schlittenfahren gehen. Udo ist auch mit nach Seelstein gefahren und ich bin froh, dass er sich recht und schlecht zusammenreißt. Ob er es nun meinetwillen tut oder wegen meiner Eltern, um diesbezüglich keinen Anlass für spezielle Gespräche zu provozieren, bleibt dahin gestellt. Ich will meine Eltern nicht verunsichern, erzähle ihnen nichts von meinen kürzlichen, nächtlichen Überlegungen in Bezug auf eine Rückkehr nach Seelstein, ich bin zwar nahe daran, aber es sind noch andere Ohren dabei, wenn, ... dann müsste ich schon allein mit meinen Eltern sprechen, ... wenn ich es überhaupt schaffe, dieses Thema aufzugreifen. Dass ich „überfällig“ bin, davon sage ich natürlich auch nichts, ich will keine Pferde scheu machen, aber ich beschäftige mich unweigerlich damit, ich kann es mir beim besten Willen nicht vorstellen noch einmal schwanger zu sein, ... es würden sich Probleme on Mass dadurch einfinden.

Als wir aus Seelstein zurückkommen haben wir Ende Februar, in Domstedt gibt es nur noch ein paar Schneefetzen an den Straßenrändern. Udo fährt weiterhin mit dem Auto, ... im alt bekannten Zustand und ich „warte“ fast darauf, dass es früher oder später Ärger geben würde. Es wundert mich nach wie vor, dass er keine Angst hat, eines Tages in eine Verkehrskontrolle zu geraten und den Führerschein loszuwerden, ... oder schlimmer noch, jemanden Unschuldiges mit hinein zuziehen und zu verletzen.

Anfang März, eines morgens beim Zähne putzen fange ich an zu würgen, sobald ich die Zahnbürste in den Mund stecke, ... von da ab weiß ich was mit mir los ist. Ich brauche eigentlich nur noch zum Arzt zu gehen, um mir die Schwangerschaft bestätigen zu lassen, ... wie bei Carlo damals. Trotzdem gehe ich nicht gleich zum Arzt, sondern horche noch eine Zeit in meinen Körper hinein, klammere mich trotz meiner eigenen sicheren „Diagnose“ an den Gedanken, es ist vielleicht doch Zufall und mir ist von irgendetwas anderem übel, vielleicht habe ich mir den Magen verdorben, ... es soll ja auch Frauen geben, die sehr früh in die Wechseljahre kommen, ... vielleicht gehöre ich auch dazu?. Aber dann wiederholt sich das Zahnbürstendrama jeden Tag auf` s neue, am Tag bin ich schrecklich müde, wenn ich mich mittags hinlege, ist mir anschließend schlecht und schwindelig, ... ich komme kaum wieder in Gange. Nun entschließe ich mich doch, einen Frauenarzt aufzusuchen, ich treffe auf eine Frau Dr. Gambrinus in Wiesenstadt, eine Asiatin. Bis zum letzten Moment klammere ich mich an die sehr wage Vorstellung, vielleicht doch nicht schwanger zu sein. Als ich dann erfahre, es ist doch noch einmal ein Baby unterwegs, bin ich wie erschlagen, ... tausende Gedanken stürmen auf mich ein, es trifft mich trotz sicherer vorheriger Eigendiagnose so hart wie ein Blitz. Ich sitze der Ärztin gegenüber und äußere erst mal spontan die Absicht, mein Kind nicht austragen zu können, ich habe berechtigte Gründe dafür, die größte Angst besteht darin, das Kind könnte auf Grund Udos starken Alkoholkonsums einen Schaden davon tragen, zudem bin ich 39 Jahre alt, ich habe Bedenken, den Anforderungen nicht mehr ausreichend gerecht zu werden und ich kann nicht sagen, dass das Leben mit Udo ein schönes ist. Ich bin total am Ende an diesem Tag. Die Frauenärztin redet auf mich ein, verspricht mir, genaue Untersuchungen vorzunehmen um festzustellen, ob das Kind gesund ist oder nicht. „ Gehen Sie erst mal nach Hause und legen Sie sich ein wenig hin, denken Sie genau darüber nach, was ich Ihnen gesagt habe. Wenn die Untersuchungen, die sich bis Mai hinziehen werden ergeben, dass Ihr Baby nicht gesund zur Welt kommen wird, ... dann können Sie sich immer noch entscheiden, die Schwangerschaft abzubrechen, ... auch wenn dann bereits die übliche Ablauffrist, in der ein Eingriff vorgenommen kann werden verstrichen ist. Wenn das Kind schwere Schäden haben wird, was bei den Untersuchungen festgestellt werden kann, dann ist das anders und eine Ausnahme. Es ist dann Ihre alleinige Entscheidung, ob Sie das Kind trotzdem austragen wollen oder nicht ". Wie im Taumel verlasse ich die Praxis und ich muss, wenn ich hier in meinem Buch bei der absoluten Wahrheit bleiben soll sagen, dass ich im allerersten Moment gedacht habe: Mariannes Aufklärung ist für mich zu spät gekommen, es tut mir leid das sagen zu müssen, aber es ist eine Tatsache, dass ich diese Worte von ihr im Kopf hatte. Ich war viel zu viel mit diesem Ekel und der ganzen Abscheulichkeit beschäftigt, dass ich in keiner Weise den Gedanken gehegt habe, ich könnte auch schwanger werden, ... alles idiotisch, ... nicht wahr?. Ich fahre zurück nach Hause, Carlo ist bereits aus der Schule zurück. „Carlo, ... ich wärme Dir den Grünebohneneintopf auf und lege mich dann hin, mir geht es nicht so besonders gut heute“. „Bist Du krank, ... Mutti?“. „Nein,.. nein, ... ich bin nicht krank, ich habe nur ein bisschen Kopfweh und bin sehr müde, ... mach Dir keine Sorgen, das wird schon wieder, bitte mache dann auch Deine Schularbeiten, ich sehe sie mir später an“. „Ja, ja is` gut, … mach` ich, ... kann ich dann noch rausgehen, wenn ich fertig bin?“. „Ja, … geh` nur, aber Du weißt, wenn es dunkel wird, dann kommst Du herein bitte!“. Ich lege mich auf die Couch, gegen alle meine sonstigen Gewohnheiten lasse ich alles stehen und liegen, ... mir ist alles egal für den Rest des Tages. Udo sage ich vorerst nichts, eine Woche später gehe ich zur Telefonzelle und rufe zu Hause an und berichte von den Neuigkeiten. Meine Mutter ist am Telefon und nachdem ich ich alles mehr oder weniger herunter gestammelt habe, seufzt sie und meint, ich solle mir alles gut überlegen, ich müsse selber wissen, was ich mache, ... von meinen Befürchtungen sage ich nichts.

Zwischendurch muss ich Kontakt zu Carlos Vater aufnehmen, ich habe schon längere Zeit die paar Mark Unterhalt von ihm nicht erhalten. Zu meiner Überraschung regelt Gernots Vater das Problem, er meint, Gernot hätte sowieso nie Geld. Er schlägt mir vor, eine einmalige höhere Summe zu zahlen, wenn ich anschließend auf weitere Zahlungen von Gernot verzichte. Ich finde es zuerst nicht gerade ideal, es entgeht mir insgesamt mehr Geld über die nächsten Jahre, als dass ich im Moment davon habe, aber ich lasse mich dann doch darauf ein, weil ich die absolute Möglichkeit in Betracht ziehen muss, ansonsten eventuell überhaupt kein Geld mehr für Carlo zu bekommen. Ich kann so für Carlo mal großzügiger Klamotten kaufen gehen und habe noch einen Notgroschen liegen.

Als ich Ende März vom Einkaufen nach Hause komme, ist Post da von der Bank in Lübeck, die das Auto in Finanzierung genommen hatte. Es ist wieder eine Mahnung, die letzten Raten wurden nicht gezahlt. Als Udo nach Hause kommt und mal eins noch direkt ansprechbar zu sein scheint, stelle ich ihn zur Rede. „Hast Du die Raten für das Auto auch immer bezahlt?“, frage ich ihn. Er besitzt auch noch die Frechheit, ja zu sagen. „Sooo?, und warum kommt dann eine Mahnung, die letzten Raten sind nicht bedient worden, ... der Kredit wird gekündigt, wenn nicht gezahlt wird“. Ich bin so wütend, ich gebe vorerst von meiner Schwangerschaft nichts preis und nehme mir vor, erst etwas zu sagen, wenn die letzte anstehende Untersuchung im Mai vorüber ist, ... dann spätestens wird man ja auch schon etwas sehen. Er macht sich ein Bier auf, weitere Unterhaltungen darüber bringen nichts ein. In meiner Blödheit überweise ich am nächsten Tag die fehlenden Raten, obwohl ich es hätte dem Selbstlauf überlassen sollen. Na und?, ... was denke ich heute?, ... richtig!, ... ich hätte das Geld von Carlos Opa nehmen und mit Carlo auf nimmer Wiedersehen verschwinden sollen, ... wieder eine Chance verpasst, ... ich weiß nicht, warum ich noch immer an allem festgehalten habe.

Der April kommt, und ich habe mich, um erneut ehrlich zu sprechen, noch nicht mit meinem Schicksal abgefunden, es peinigen mich die Vorstellungen, das Kind könnte schwer behindert sein, ich denke unaufhörlich daran, ... Tag und Nacht. Zugleich habe ich Angst vor den entscheidenden Untersuchungsergebnissen, auf die ich noch so lange warten muss. Mein Geburtstag verläuft ziemlich ruhig, Udos Eltern sind auch da, ich freue mich, denn auch Henny stattet einen kurzen Besuch bei uns ab. Im Garten versuche ich soweit noch alles in Ordnung zu bringen, wenn es doch ein Baby geben sollte, würde dort so ziemlich alles während meiner Schwangerschaft liegen bleiben, ... von Udo brauche ich keine Hilfe erhoffen. Dann muss ich doch heraus mit der Sprache, Mitte April, am Ostersonntag werde ich noch am Abend ins Krankenhaus eingeliefert, ich habe eigenartige Schmerzen im Unterleib, Henny ist auf Besuch hier, sie fährt aber auch nach Ostern wieder los. Nach ein paar Tagen beruhigt sich alles wieder, ich kann zurück nach Hause, ... Gott sei Dank, ich habe kein gutes Gefühl, wenn Udo mit Carlo alleine ist. „Ach?, ... bist Du wieder da?“, fragt Udo nur. Ich sage zwangsläufig, dass ich schwanger bin, aber weder Udo noch seine Eltern bekunden eine besondere Freude an dieser Nachricht. Von den bevorstehenden Untersuchen im Mai sage ich nichts, nimmt man jetzt keine große Notiz von der Begebenheit, würden sie es durch diese Kenntnis sicher auch nicht tun. Jeden Abend im Bett philosophiere ich über alles nach, wenn ich jetzt zu Hause wäre in meiner Heimat, dann fühlte ich mich bestimmt nicht so allein gelassen, um mit meiner Entscheidung, die da auf mich zukommen könnte klar zu werden. Carlo ist zu klein, man kann ihn mit solchen Dingen noch nicht konfrontieren. Was ist, wenn das Kind wirklich krank ist, was für eine Behinderung könnte es haben?. Würde ich die Schwangerschaft abbrechen, wenn sich die grausame Tatsache stellt, es wird ein behindertes Kind werden?. Kann ich es schaffen auch mit einem kranken Kind zu leben?, ... nein, ich glaube es nicht, ... und wenn es gesund ist?, ... was kann das Kind dafür, so einen Vater zu haben?, ... nichts. Carlo bekommt dann noch ein Geschwisterchen, der Altersunterschied wird groß sein, etwa wie bei Henny und Carlo. Ich würde noch ein Kind im Haus haben, wenn Carlo eines Tages in die Lehre geht und nicht mehr so oft bei mir sein würde, so wie jetzt Henny auch kaum noch da ist. Aber alles neu muss ich kaufen, ist ja nichts mehr da an kleinen Sachen. Ich komme dann am Schluss meiner Überlegungen zu dem Ergebnis, das Baby nicht zu bekommen, wenn es schwere geistige oder körperliche Schäden aufweisen würde. So lange ich lebe ist jemand da für das Kind, obwohl ich es mir nicht vorstellen kann, so eine Aufgabe bewältigen zu können, ... aber was ist später?, … auch ich lebe nicht ewig, ... was wird dann mit meinem kranken Kind?, ... nein, das vermag ich mir nicht vorzustellen. Dieses auf und ab der Gedanken zehrt an meinen Kräften, ich quäle mich pausenlos herum damit. - Zu Monatsende April 1992 fahre ich mit Carlo noch einmal für wenige Tage nach Seelstein, ich nehme ihn für diesen Zweck aus der Schule, aber ich brauche diesen Abstand für den so arg gefürchteten Tag der Hauptuntersuchung, der mich zu unguten Entscheidungen zwingen könnte. So gut es geht helfe ich meinen Eltern im Garten, ich sehe, wie schwer meinem Vater indessen jeder Handgriff fällt. Als er sich am Nachmittag zur Heimfahrt umzieht, erschrecke ich mich, ... er ist noch dünner und knochiger geworden als er ohnehin schon war. Ich kann mir nicht vorstellen, wie er es jemals schaffen soll den Rasen zu mähen, es wird nicht mehr lange dauern bis diese Arbeit auch vor dem Steiger keinen Halt macht. Es gibt zwar einen Rasenmäher, aber der Garten hat eine gewisse Schräge und es ist eine ordentliche Kraftanstrengung bei dieser großen Fläche, die bearbeitet werden muss nötig. Mein Papa, der mich nicht gleich bemerkt und dann mein erschrockenes Gesicht sieht fängt meinen Blick auf um von sich abzulenken. „Na, mein Töchting, ... wie ist?, ... schon ganz schön anstrengend für Dich was?“. „Ach wo, ... ich schaffe das schon noch alles recht gut, ... aber Du gefällst mir gar nicht“. „Mit dem Essen klappt es im Moment mal wieder nicht ganz so gut, ... ich habe zwar Appetit, aber vertrage es dann meistens doch nicht so recht, ... aber Du weißt ja, das ist öfter so, ... das wird schon wieder, ... Du brauchst Dir keine Gedanken machen, ... bestimmt nicht“, antwortet er und greift nach meinem Arm, „ich bin doch schon so gespannt auf das neue kleine Enkelchen was sich da angekündigt hat, ... was soll es denn eigentlich werden?, ... ein kleiner Lausebengel oder eine zweite Püppi?“. Ich wage nicht zu sagen, dass noch so eine große entscheidende Untersuchung bevorsteht, die eventuell ein tragisches Ende mit sich bringen könnte. Ich will meinen Vater auf keinen Fall damit belasten und unnötig aufregen, ich sage nur: „Ach Papa, ... ich habe ja schon von jedem etwas, es ist egal, Hauptsache es ist alles in Ordnung“. „Ja, ja, sicher, da hast Du recht, es ist nichts wichtiger auf dieser Welt als gesund zu sein, ... alles andere das wird schon“. Diese Worte meines Vaters habe ich noch heute im Ohr, ich habe sie nie wieder vergessen.

Anfang Mai gibt es ein paar recht warme und schöne Tage und ich kann auch im Domstedter Garten noch allerhand ausrichten. Henny ist eine Weile auf Besuch und hilft mit, wenn auch ungern, den Garten noch einmal flott zu machen. Ich bin schon ein wenig enttäuscht, weil Henny so wenig Interesse für die Gartenarbeit übrig hat, denn sie ist doch von klein auf immer mit am Steiger gewesen und hat ihrem Opa tüchtig geholfen. - Dann endlich kommt der Termin heran zur Fruchtwasseruntersuchung im Klinikum Schwerin. Udos Vater fährt mich dorthin. Ich habe Angst zu Udo ins Auto zu steigen. Ich weiß genau, dass er, so lange er auf mich warten muss, zum Bier greifen würde. Die Ärztin ist sehr nett, sie bemerkt mein ängstliches Gesicht. „ Nun entspannen Sie sich erst mal, ich werde jetzt durch Ihre Bauchdecke hindurch stechen, damit ich ein wenig Fruchtwasser entnehmen kann, Sie können es hier auf dem Monitor verfolgen wenn sie möchten, ... ansonsten schauen sie einfach weg, … o.k.?“. Ich kann auf dem Bildschirm nicht wirklich viel erkennen, aber ich kann die Kanüle sehen, nachdem sie durch meine Bauchdecke gedrungen ist und ihren Verlauf verfolgen. Es ist nicht besonders schmerzhaft, aber ein eigenartiges Gefühl. Als die Ärztin fertig ist, fragt sie nach meinem Befinden und meint: „Na sehen Sie, alles gut, ... aber bleiben Sie bitte noch eine halbe Stunde liegen, ich sage Ihnen Bescheid, wenn Sie aufstehen dürfen, arbeiten Sie zur Zeit?“, fragt sie. „Nein, aber ich kann nächste Woche wieder mit Saisonarbeit in einer Gaststätte anfangen“, antworte ich. „Dann schreibe ich Sie lieber zwei Wochen krank, Sie müssen sich in den nächsten Tagen ruhig verhalten, denn ich habe Ihnen ja bereits im Vorgespräch gesagt, dass so ein invasiver Eingriff auch eine Fehlgeburt auslösen kann“. Ich nicke bestätigend mit dem Kopf. „Frau Wolmirstedt, ... das Ergebnis der Untersuchung ist in etwa einer Woche da, ... möchten Sie bei der Gelegenheit auch gern wissen, was Sie bekommen werden?, ... ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?“. Ich zögere einen Augenblick. „Ja, schon, ... aber nur, wenn bei der Untersuchung alles in Ordnung ist und alles positiv ausfällt, ... aber sonst, ... ich weiß nicht, ich glaube anderenfalls möchte ich es nicht wissen. Wenn das Kind schwerbehindert sein sollte, habe ich einen verspäteten Abbruch in Erwägung gezogen“. Die Ärztin greift nach meiner Hand.„Warten Sie in Ruhe das Ergebnis erst einmal ab, ... aber es ist o.k., ... niemand würde Ihnen einen Vorwurf machen, es ist unglaublich schwer ein behindertes Kind mit ungewissem Ende zu betreuen und aufzuziehen, … aber wie gesagt, warten Sie ab und denken Sie in die positive Richtung“. Sie verlässt den Raum und zwinkert mir kurz ermutigend zu. - Diese eine Woche bis zur Bekanntgabe meines Untersuchungsergebnisses scheint schier endlos zu sein, endlich ist sie nach vielen schlaflosen Nächten vorüber. ich mache mich auf den weg zur Telefonzelle, mir ist schlecht vor Aufregung. Eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung bittet mich um einen Augenblick Geduld, diese paar Minuten kommen mir wie Stunden vor. Endlich spricht die Stimme weiter . Nachdem sie noch einmal alle persönlichen Daten abgefragt hat sagt sie: „Es ist alles in Ordnung Frau Wolmirstedt, ... Sie werden ein gesundes Mädchen zur Welt bringen“. Wie erlöst verlasse ich die Telefonzelle, das Gefühl, als ob ein monatelanger, einzwängender Eisenpanzer von mir genommen wird, so dass ich endlich Luft bekomme und wieder atmen kann, kehrt zurück. Die Sonne scheint ein wenig, ich gehe erlöst nach Hause, auf dem Weg dorthin sage ich zu mir selber: Es wird eine neue Püppi sein, ... Papa.

Natürlich gehe ich auch gleich bei Vogenschmidts vorbei, ich muss ihnen sagen, dass ich noch nicht bei ihnen anfangen kann, eben weil ich auf Grund des Eingriffes in der Klinik noch krank geschrieben bin. Ich weiß nicht, ob es mir recht ist oder ob ich enttäuscht bin, als Frau Vogenschmidt meint es wäre besser, wenn ich nun vorerst arbeitslos bliebe und sie versuchen würde, jemanden anderes einzustellen.

Ende Mai ergeht der Bescheid, dass wir eine größere Wohnung bekommen, hier in Domstedt, ... am Hennenberg 10. So sehr ich mich freue, genauso graut es mir auch vor einem erneuten Umzug. Es geht mir nicht gerade blendend, ich frage mich, wer die Wohnung tapezieren soll, allein werde ich es zur Zeit nicht schaffen. Darauf zu hoffen, dass mir Udo hilft, kommt einem Jahrhundertwitz gleich, es ist eine unnütze Gedankenverschwendung. Alles macht mir Sorgen, denn eine Vierraumwohnung will auch mit irgendetwas eingerichtet werden. Ich weise Udo noch einmal darauf hin, die Autoraten pünktlich zu bezahlen, denn noch einmal würde ich es nicht tun. Ich bestelle ein paar preiswerte Möbel auf Raten, eine Küche ist in der zugewiesenen Wohnung vorhanden, die Möbel für das Kinderzimmer, die ich seinerzeit zu meinem 10. Geburtstag von meinem Großvater bekommen hatte, habe ich so ziemlich als einziges behalten können. Wie gesagt war es nicht anders möglich, als alles andere aus Platzgründen in Lohra zurückzulassen.

Im Juni ist mein Bauchumfang recht stattlich anzusehen, ich bekomme die Vorstellung nicht los, wenn es so weiter gehen würde, am Ende meiner „trächtigen Laufzeit“ auszusehen wie eine Abrisskugel. Ärgerlich finde ich meine braunen Flecken im Gesicht, ich hoffe stark, sie verschwinden, wenn ich alles „ausgepackt“ habe. Bei den Terminen zur Schwangerensprechstunde ist soweit alles in Ordnung, ich bekomme ein wenig Eisen zugefüttert, aber das ist normal, Schwangere haben öfter einen Eisenmangel. Allerdings wehre ich mich bei den Beratungsterminen gegen das ständige Herumdrücken auf dem Bauch, sowie gegen das ewige Erklettern des „Pflaumenbaumes“ , sowie der dauernden Ultraschalluntersuchungen. Ich finde, es kann nicht gut sein, diese laufenden Untersuchungen, die auf diese Art stattfinden. Man hat festgestellt, mein Kind ist gesund und nun muss sich alles selber fügen. Wichtig sind die Kontrollen für den sogenannten Eisenspiegel, dem Blut - HB - Wert, Urinuntersuchungen und die Überprüfungen der Blutdruckes. -

Dann raffe ich mich auf und fahre zu Beginn der Sommerferien noch einmal mit Carlo nach Seelstein. Wenn das Baby da ist, dann werde ich so schnell nicht mehr in meine Heimat kommen können. Ich stelle mit Entsetzen fest, dass mein Vater noch mehr abgebaut hat, seit ich ihn im Frühjahr gesehen hatte. Um Wege zu erledigen fährt er fast nur noch mit dem Auto, ... Wege, die mein Vater sonst immer gern zu Fuß erledigt hat. Ich muss mit ansehen, dass er kleinste Strecken nicht mehr bewältigen kann. Wir sind zusammen in der Kaufhalle, er muss sich auf den Einkaufswagen stützen, anders geht es nicht. „Na, ... Dicke“, sagt er, „dann hatschen wir beide mal durch die Kaufhalle, ... schauen wir mal, ob wir das Richtige finden, was uns die Oma aufgetragen hat“. Er grient dabei und schielt über seine Brille hinweg, ... halt so, wie ich es seit meiner Kindheit her von ihm kenne. Ich hake ihn unter, wir machen die aufgetragenen Einkäufe. Carlo ist nicht mitgegangen, er bleibt derweile bei meiner Mutter. „Na, … wollen wir noch einen Kaffee trinken?, ... so viel Zeit haben wir doch noch, … oder?“, er schaut dabei auf seine Armbanduhr. „Oh, ja das ist eine gute Idee, ... aber kann es denn auch ein Eis sein?“. „ a, ... freilich, so viel Kaffee ist nicht gut für die kleine Püppi“. Zu der Zeit ist neben der Kaufhalle ein kleines Cafe`, sehr nett und liebevoll eingerichtet, es ist das letzte Mal, dass ich gemeinsam mit meinem Vater allein zum Eis essen gewesen bin. Den ganzen Juli hindurch ist es trocken und sehr heiß, der Bauch ist mir im Weg, er wächst zusehends. Es kommen Udos Eltern vorbei, mein Schwiegervater bietet sich an, die neue Wohnung zu renovieren. Ich nehme nicht gern so vollkommene Hilfe an, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als dankend zuzustimmen, denn ich hätte es nicht mehr geschafft. Udo brauche ich nicht zu erwähnen, es hätte alles so liegen bleiben müssen bis nach der Entbindung. Auf Gegenseitigkeit beruhend habe ich mit Udos Eltern, besonders mit seiner Mutter nie viel am Hut gehabt, aber dieses Angebot und die darauffolgende Hilfe, das habe ich Udos Vater hoch angerechnet und nie vergessen. Gern sorge ich während der Renovierung für ein vernünftiges Mittagessen und Kaffee am Nachmittag mit selbst gebackenem Kuchen. -

Mein Vater ist zu seinem Geburtstag nicht zu Hause, er hat sich aufgerafft und ist mit meiner Mutter zu Verwandten nach Ostfriesland gefahren. Auch im August ist es heiß, es regnet kaum einmal ein paar Tropfen, manchmal weiß ich nicht mehr, wo ich vor Hitze bleiben soll. Udos Vater ist es zu verdanken, dass wir noch im August umziehen können. Mein Bauch sieht unmöglich aus, jeder Schritt wird mir zu viel, ich kann nicht mehr den ganzen Tag durchhalten, ich bin immer froh, wenn es Mittag ist und ich mich etwas hinlegen kann. Ich komme aber anschließend kaum wieder hoch vor Hitze, ich halte es kaum noch aus und finde es schon merkwürdig, dass ausgerechnet in dem Jahr, in dem ich schwanger bin so ein Sommer sein muss, ... genau wie damals bei Henny und auch bei Carlo, während es in den übrigen Jahren kaum so anhaltend heiß und trocken gewesen ist.-

Henny hat in Wiesenstadt einen Freund kennengelernt, wegen ihm hat sie die Arbeitsstelle in Thüringen nicht angenommen, ... so erweckt es jedenfalls den Anschein. Sie erzählt, dass der Betrieb sie nicht übernehmen konnte, ich habe das Empfinden, es stimmt nicht so ganz. Aber sie ist alt genug, ich kann und werde ihr nicht dazwischen reden. Das mit dem neuen Freund hält nicht sehr lange an, sie ist den ganzen August über bei uns in Domstedt, ich mache das größere Zimmer für sie frei. Während dieser Zeit bin ich ein wenig enttäuscht über Hennys Verhalten, sie lässt mehr oder weniger alles schleifen, wie man es bezeichnen könnte, so als hätte sie keine Lust, sich neue Arbeit zu suchen. Sie steht mehr als nur spät auf, macht mit knapper Not nur das, worum ich sie gebeten habe und das mit mehrmaligen Bitten. Ich hätte mich schon gefreut, wenn das Frühstück einmal fertig gewesen wäre. Als wir allein gelebt haben, Henny, Carlo und ich, ist sie zuverlässiger gewesen, ich hoffe, es werden diesbezüglich wieder bessere Zeiten kommen. Mitte August spüre ich, ich werde wohl kaum noch bis zum 21. September, an dem der Entbindungstermin sein soll umher hatschen, als laufen kann man es nicht mehr bezeichnen. Zum Augustende kommen meine Eltern auf ein paar Tage zu uns, um Hennys 20. Geburtstag zu feiern. Gebacken habe ich noch selber, zum Abendessen sind wir beim Chinesen, es ist schön, aber Henny ist missgestimmt, sie hat von ihrem Freund keine Geburtstagspost und keinen Anruf bekommen. Einen Tag sind wir in Lübeck, ich lasse mir nicht anmerken, wie mies es mir eigentlich geht, ich will meinem Vater den Wunsch, einmal durch Lübeck zu bummeln erfüllen, obwohl ich nicht weiß, wie er das durchhalten will oder kann. Er läuft sehr langsam, aber es geht ihm ein klein wenig besser als bei meinem letzten Besuch in Seelstein. „Töchting, ... wir fahren auch allein, Du brauchst nicht mitkommen, wenn Dir nicht danach ist“, meint er. „Nein, ich fahre gern mit, ... das geht schon, ... ganz bestimmt“. „Na, ja, rennen können wir wohl gerade alle beide nicht mehr“, sagt er und ich bewundere seinen Galgenhumor. Ich weiß nicht, wie ich diesen Tag überstehen soll, diese Tour mit dem Auto bei dieser sengenden Hitze, mein unheimlicher Bauch, der beim Sitzen auf meinen Oberschenkeln aufliegt, und über den sich Carlo immer amüsiert, weil ich ohne Mühe eine volle Tasse oder Teller darauf platzieren kann, ohne das etwas um oder herunterfällt. Aber ich habe es überlebt und heute bin ich froh, dass ich mitgefahren bin, es war der letzte Ausflug mit meinem Vater.

Der Septemberanfang ist noch immer sehr warm, ich fange an den Geburtstermin herbeizusehnen, ich kann mir selber keine Schuhe mehr zubinden, etwas vom Fußboden aufheben wird zur Unmöglichkeit, ich sehe einfach schrecklich aus, das Bild der Abrisskugel hat sich verwirklicht. Carlos Geburtstag am 8. September „schmeiße“ ich noch ganz gut, ich habe noch gebacken und zum Abendessen Gyros mit Reis gekocht. Henny hat inzwischen ihre theoretische Fahrprüfung beim zweiten Anlauf bestanden, nachdem sie beim ersten Mal durchgefallen ist und dadurch für eine mittlere Katastrophe gesorgt hat. Am 10. September kann ich nachts gar nicht mehr zur Ruhe kommen, ich laufe im Zimmer auf und ab, hin und wieder kommt eine Wehe, es kann nicht mehr lange dauern. Am 11. September morgens kommen die Wehen schwach aber regelmäßig in noch großen Abständen. Zu allem Übel fällt mir meine Zahnkrone beim Frühstück ab, ... ich muss zum Zahnarzt. Die Schwestern dort denken erst ich mache Witze, als ich sage, sie möchten mich bitte gleich an die Reihe nehmen, weil ich Wehen habe. Eine Frau die eigentlich vor mir dran ist, lässt mir gerne den Vortritt. Dem Zahnarzt wird es langsam ängstlich, er meint er könne keine Entbindung machen und ich soll sehen, dass ich ins Krankenhaus komme. Ich habe aber noch einen Termin in der Schwangerenberatung und lasse mich auch dorthin fahren. Udo hat natürlich schon wieder ein paar Bier getrunken, aber was soll ich machen, ich habe keine andere Wahl. Gott sei Dank ganzbeinig in der Beratungsstelle angelangt, habe ich bereits ziemlich kräftige, messbare Wehen, so geht es gleich ab ins Krankenhaus. Man bietet mir an, den Krankentransport zu rufen, da gibt es nichts zu überlegen, bei der Zuversicht dann auch heil anzukommen, nehme ich gerne an. Meinen wie immer schon lange gepackten Koffer hatte ich auf alle Fälle dabei. Kurz nach 12.00 Uhr bin ich im Krankenhaus, die Personalien werden aufgenommen und ich werde auf Station verfrachtet. Auf einmal sind die Wehen wieder schwächer, so nehme ich noch am Kaffeetrinken teil und lege mich anschließend wieder hin. gegen 15.000 Uhr gehen die Wehen wieder los, aber gleich kräftig mit Abständen alle 7 Minuten, ich klingele nach der Schwester, man bringt mich in den Kreißsaal, dort gibt es noch den „tollen“ üblichen Einlauf, ich habe das Gefühl nach vorne über zu kippen. Das anschließende Bad ist angenehm, Udo wird verständigt, ich wundere mich, dass er gegen 17.00 Uhr erscheint. Bis etwa 17.30 Uhr laufe ich im Kreißsaal ständig hin und her, dann geht nichts mehr, es geht Schlag auf Schlag, ... Tessa wird am 11. September 1992 um 19.17 Uhr im Krankenhaus in Wiesenstadt geboren. Sie ist klein und dick, ihre Ärmchen schauen wie kleine Aldileberwürstchen aus. Sie wiegt 4. 960 gr. und ist 51 cm lang, sie hat schwarze Haare, ... ganz anders als Henny, die ja zu meinem Leidwesen mit knapp einem Jahr noch immer so gut wie kahlköpfig gewesen ist, sodass ich ihr immer ein Kopftuch aufgesetzt habe. Ja, ja, ... die Haare, ich weiß noch, dass mein Großvater einmal unheimlich mit meiner Mutter geschimpft hatte, weil sie mir meine langen Haare abschneiden ließ. Mein Opa meckerte auch mit meiner Großmutter, als sie auf Anraten meiner Mutter ihre sehr langen Haare kürzen ließ. Meine Oma trug um den Kopf gewickelte lange Zöpfe, die durch das nicht unerhebliche Gewicht andauernde Kopfschmerzen verursachten, ... mein Opa hat lange mit meiner Oma getoddert deswegen. Tessa ist wie jedes meiner Kinder weder rot noch runzelig mit glatter, leicht bräunlicher, rosiger Haut geboren. Udo ist schnell wieder verschwunden und ich bin froh, alles gut überstanden zu haben, obwohl der ganze Vorgang diesmal nicht so einfach von statten gegangen ist. Tessa blieb bei der Entbindung im Geburtskanal stecken, präsentierte dann zuerst ein Ärmchen, sodass sie gedreht werden musste, ... nicht gerade das, was man einen Spaziergang nennt. Aber nun ist alles gut, ... glücklich und erleichtert ein gesundes Kind zur Welt gebracht zu haben, ... es ist ein Geschenk. Trotz der positiven Untersuchungsergebnisse war ein Rest Angst in mir zurückgeblieben, den ich nun endlich wegwerfen konnte. Kurz darauf kommt die Schwester, sie hilft mir beim duschen, gegen 23.00 Uhr werde ich auf die Wochenstation verlegt und falle bald in einen tiefen Schlaf. Tessa bleibt noch zwei Tage auf einer Sonderstation zur Beobachtung, die Entbindung hat zu einer Risikogeburt gezählt, ... dann kommt auch sie in mein Zimmer. Die Babys werden jetzt von ihren Müttern selbst gewickelt, zu DDR - Zeiten blieben sie im sogenannten Säuglingszimmer, wurden dort versorgt und nur zum Anlegen zu ihren Müttern gebracht. Ich muss sagen, dass ich das besser gefunden habe, während diese sofortige „Einquartierung“ meines Erachtens nur bedingt ein Fortschritt ist. Für Muttis, die ihr erstes Kind bekommen haben ist es sicher vorteilhaft, damit sie falls noch Unsicherheit besteht, beim betreffenden Personal Hilfe und Sicherheit einholen, und bis zur Entlassung aus der Klinik noch ein wenig „üben“ können. Für erfahrene Mütter wäre es sicher besser, wenn sie noch ein bissel mehr Zeit zum ausruhen hätten, denn weil ja bereits Geschwisterkinder da sind, geht es nach der Entlassung aus dem Krankenhaus gleich wieder in die „Vollen“.

Am nächsten Tag bekomme ich auch Besuch von Udos Eltern, Udo selber lässt sich, solange ich im Krankenhaus bin, gerade ein einziges mal mit seinen Eltern blicken. Henny ist zur Zeit noch in Domstedt und arbeitslos, aber sie greift jetzt wieder öfter einmal mit zu. Auch meine Eltern freuen sich, dass ich alles gut überstanden habe und mein Papa kündigt an, noch im Oktober zu kommen, um die neue kleine Püppi zu begutachten. Wie gesagt ist diese, meine letzte Entbindung zwar verhältnismäßig schnell vorüber gegangen, aber auf Grund des reichlichen Gewichtes von Tessa nicht gerade ein Spaziergang, eben weil sie im Geburtskanal stecken bleibt, das war schon nicht gerade das was man angenehm nennt, sie hat dadurch eine Schulterluxation, aber das wird schnell behoben. Zum anderen sind die Nachwehen so schmerzhaft, ich muss mir von der Schwester etwas geben lassen, man sagt ja auch, nach jeder Geburt werden die Nachwehen heftiger, ... ich kann das nur bestätigen. Um die sogenannte „Flickschusterei“ nach der Entbindung bin ich auch diesmal nicht herum gekommen und wieder ist nur ein eingeschränktes Hocken auf Stuhl und Bettkanten möglich.( Im übrigen hilft frisch aufgebrühter Tee aus Erdbeerblättern, besonders der Walderdbeeren, die Gebärmutter auf natürliche Art besser und schneller zurückzubilden.). Den ganzen September hindurch haben wir noch sehr schönes Wetter, ich bedaure sehr, denn bei der jetzigen Wohnung ist kein Garten dabei. Wiedermal hatte ich bei der vorherigen Wohnung einen Garten angelegt, und als alles fertig ist nichts mehr davon gehabt. Ich nehme aber ein paar ganz besonders schöne Blumenstauden mit und pflanze sie vor dem Wohnblock hier am Hennenberg ein, aber im Haus wohnt ein sehr ungezogener Junge, zur Familie Westerkind gehörend, der trampelt mit seinen Freunden mutwillig darauf herum, macht alles wieder kaputt. Seine Eltern tun es als Nichtigkeit ab, sie scheinen somit in meinen Augen auch nicht viel besser zu sein,.. oder es ist eine Art Normalität der sogenannten Fischköppe, bei mir zu Hause in Thüringen habe ich jedenfalls nichts vergleichbares erlebt. Udo erzähle ich indessen auch von dieser Abart, was sollte er anderes tun als schulterzuckend: kann ich auch nicht ändern, zu sagen.

Natürlich ist Miss. Elli auch mit uns umgezogen, meine Großeltern, meine Eltern, … wir alle hatten schon immer Hunde, auch viele Dackel, aber Elli ist meiner Meinung nach ein Tier, das, wie man es auch bei einigen Menschen sagt,: schlicht und einfach nicht ganz richtig im Kopf . Beim Menschen gibt es das und warum soll es das nicht auch bei einem Hund geben?. Davon abgesehen, dass Elli nur auf mich fixiert ist, macht sie Dinge, die ich von anderen Hunden, wie wir sie zu Hause hatten nicht kenne. Wenn ich zum Beispiel auf dem Sofa oder auf dem Bett sitze oder liege, dann darf sich niemand annähern, ... Udo schon gar nicht. Tut man es doch, dann beißt sie wütend in das Sofa oder dessen Kissen hinein und lässt nicht mehr davon ab. Von manchen Leuten lässt sie sich gern anfassen und streicheln, während sie anderen grundlos regelrecht in die Hosenbeine fährt. Ich bin die einzige, die mit ihr alles machen darf und sie hat mir gegenüber einen übertriebenen Beschützerinstinkt, den ich schon als mutig bezeichnen möchte. Sie fährt sehr gerne Auto, kläfft aber fast die ganze Fahrt hindurch, es ist schon fast nervig manchmal. Niemand darf das Auto wenn wir anhalten aus der Nähe ansehen, ... geschweige denn anfassen. Tut es doch jemand, beißt sie so massiv in den nächst besten Sicherheitsgurt, den sie von der Hutablage aus erreichen kann und zerrt daran, das ganze Auto wackelt. Ich weiß noch, ich bin einmal vorne auf dem Beifahrersitz gesessen und Udo hat kurz das Auto verlassen, um in Wiesenstadt bei der Bank die Kontoauszüge zu holen. Es ist im Parkverbot und natürlich kommt auch gleich eine Politesse. Als diese sich nähert, schießt Elli wie ein Pfeil von ihrer Hutablage nach vorn auf meinen Schoß und stimmt ein schrilles Gebell an, welches sich dennoch steigert, als sich besagte Politesse erlaubt mich anzusprechen: „Hier ist Parkverbot, … fahren Sie das Auto weg bitte!“. Elli ist bereits außer sich, man kann kaum noch das eigene Wort verstehen, sie presst ihre gefletschten Zähne gegen die Autoscheibe, die ich ein paar Zentimeter geöffnet habe, um verstehen zu können was mir die dienstbeflissene Ordnungshüterin sagen will. „Ich kann nicht wegfahren, ... ich habe keinen Führerschein, aber mein Mann ist jeden Augenblick zurück, wir haben keinen Parkplatz vor der Bank finden können, ... wir sind gleich wieder weg!". Um Elli zu übertönen schreit sie: „Das spielt keine Rolle, ich muss und werde Ihnen einen Strafzettel ausschreiben!“. „Ja, dann müssen Sie das eben tun, ... dann kann ich es auch nicht ändern“, kreische ich zurück. Sie nimmt einen Stift, füllt das Strafmandat aus, ich komme ihrer Aufforderung nach und lasse die Autoscheibe noch ein Stück herunter. In dem Moment, als sie das Schriftstück durch das Fenster reichen will, packt Elli sie am Ärmel, zerrt wie verrückt daran, ich kann Elli nur mit Mühe bewegen wieder loszulassen. Die Politesse lässt den Strafzettel fallen, entfernt sich zwar drohend, aber sehr schnell von unserem Auto. Elli springt zurück auf ihre Hutablage und kläfft hinter ihr her bis sie nicht mehr zu sehen ist. Wir haben nie wieder etwas von diesem unsäglichen Strafpapier gehört, aber ich denke noch öfter daran, so klein wie sie war, so mutig war sie auch. Der Gedanke an dieses Vorkommnis inspiriert mich immer wieder zu einem lächeln, ... jedes mal wenn ich mir diese Situation vor Augen führe. - Auf Udo ist sie wie schon erwähnt gar nicht gut zu sprechen, das hängt wohl mit der ständigen Alkoholfahne zusammen, das mögen Hunde nicht. Tessa kann ich getrost mit dem Kinderwagen auf der Wiese vor dem Haus stehen lassen, Elli lässt niemanden zu dicht an den Wagen kommen. Ich kann vom Küchenfenster aus alles gut beobachten, wenn jemand sich dem Kinderwagen auch nur nähern will, springt sie auf und vertreibt jeden mit einem Mordsgebell. Tessa stört Ellis Gekläffe überhaupt nicht, auch nicht, wenn Elli bellt und Tessa schläft, sicher kennt Tessa das Geräusch sehr gut, es ist ihr vertraut. Ich liebe diesen kleinen Hund, auch wenn er wie gesagt offensichtlich nicht alle „Neune“ beieinander hat und manchmal bellt, ... auch manchmal ohne zu wissen warum eigentlich. So zum Beispiel, wenn ich Besuch von meinen Eltern habe und insbesondere meine Mutter in der Nacht die Toilette aufsucht, bellt Elli auch, ich muss dann immer lachen wenn meine Mutter sagt: „Na Elli, ... bei Dir piept es wohl, ... wir sind doch keine Einbrecher!“. Auch Carlo hat seinen Spaß mit ihr, Elli beobachtet ganz genau, wenn Carlo zu Bett gehen soll. Sie sitzt dann ganz still da und muckst sich nicht. Carlo trödelt dann mit Absicht so lange herum bis ich rufe: „Gehst Du jetzt ins Bett!“, das ist das Signal für Elli, sie springt auf, rennt kläffend hinter Carlo her bis in sein Zimmer, wo er jauchzend auf sein Bett hüpft. Das ganze Schauspiel wiederholt sich einige Male. „Sag` es noch einmal, ... Mutti, ... bitte!“, meint Carlo dann immer. -

Mitte Oktober kommen meine Eltern wie versprochen auf Besuch, ich erschrecke über den Zustand meines Vaters, ich sehe ihn aus dem Auto steigen, weil ich ab und zu aus dem Fenster schauend auf die Ankunft meiner Eltern gewartet habe und frage mich, wie er es fertig gebracht hat, diese lange Tour über so viele Kilometer zu bewältigen. Ich sammele mich ein wenig, laufe ihnen dann entgegen, um meinem Vater den Koffer abzunehmen. Seine ersten Worte, kaum dass er Luft geholt hat sind: „Wo sind denn die Kinder, ... sag`,wie geht` s, ... was macht denn die kleine Püppi?“. Meine Mama sagt: „Nun komm`, gehen wir erst mal herein, und zieh Deine Jacke aus“. „Ich nehme ihm die Jacke ab, hänge sie an die Garderobe. Leise ist sein erster Gang in Richtung Kinderzimmer, vorsichtig tritt er an das Bettchen heran, beugt sich ein wenig darüber, ... ich höre ihn heute noch flüsternd sagen: „Ach, je, ... die kleine Püppi“. - Alles in allem merke ich, wie schlecht es meinem Vater geht, er isst so kleine Mengen, ein Vogel wäre davon nicht satt geworden, mehrmals am Tag muss er sich hinlegen. Ich weiß fast nicht was ich kochen soll, ich frage ihn immer worauf er Appetit hat, das bereite ich auch für ihn zu, selbst wenn er dann nur ein paar Gabeln oder Löffel voll davon zu essen im Stande ist. Ich frage mich ständig auf` s neue, wie er es geschafft hat, mit dem Auto von Thüringen bis hier her nach Mecklenburg zu kommen, es muss eine unheimliche Anstrengung für ihn gewesen sein. Ich glaube, dass sein Wunsch so groß und sein Wille so stark gewesen sind, ... er wollte eben unbedingt sein Enkelkind, die kleine neue Püppi noch sehen, er verspürte aber sicher selber, dass ihm nicht mehr viel Zeit dafür bleiben würde. Als ich einmal mit ihm allein in der Küche bin, fragt er mich ob ich zufrieden und glücklich bin. Ich bejahe es natürlich, setze meine ganze Schauspielkunst dafür ein, ich will auf keinen Fall, dass er sich Sorgen macht, ... die habe ich allen bereits genug bereitet. Er nutzt jede Gelegenheit, um sein Enkelkind im Arm zu halten, ich bin froh, dass ich es getan habe, obwohl meine Mutter vielleicht etwas eifersüchtig daneben gesessen ist, weil ich eben damit meinem Vater den Vorzug eingeräumt habe. Ich wurde das Gefühl nicht mehr los, ... es ist sicher der letzte Besuch meines Vaters bei uns, seine Augen haben etwas eigenartiges an sich, was man nicht beschreiben kann, ... so wie leicht stechend und gleichzeitig trüb mit einem sehr hellen Ring um die Pupille, ... eben anders als sonst. Ich habe ein ungutes und schmerzhaftes Gefühl als meine Eltern wieder abfahren. - Kaum sind meine Eltern außer Sichtweite, ist es mit Udos Zusammenriss vorbei, das gleiche Spiel ist es auch, wenn sich seine Eltern angesagt haben. Manchmal glaube ich, er will mich als unglaubwürdig hinstellen, oder das Ganze von mir als bodenlose Übertreibung ausrufen, wenn ich seine Eltern damit genauer konfrontieren würde. Es gibt nichts, aber auch gar nichts worum sich dieser Udo gedenkt einmal zu kümmern. Manchmal fährt er gar nicht los und ich frage mich, ob er überhaupt noch einer geregelten Arbeit nachgeht. Oft erinnere ich ihn und frage ihn nach seiner Verantwortung uns gegenüber, aber meist hält er es nicht einmal für nötig wenigstens zu antworten. Ich schäme mich im Haus für ihn, vermeide es möglichst mit anderen Hausbewohnern zusammenzutreffen. Es ist kaum zu beschreiben, was Udo für ein Mensch ist, am Anfang, als wir hier nach Domstedt gezogen sind, habe ich wie gesagt recht bald gemerkt, was für einen krassen Fehler ich da wieder gemacht habe. Zu Carlo ist er in der ersten Zeit wenigstens noch recht freundlich gewesen, hat sich aber in keiner Weise um ihn gekümmert, geschweige denn, mir in diesem Zusammenhang bei irgendwas zu helfen oder mich zu unterstützen. Nach einer Weile ist er zu Carlo recht patzig geworden, ich muss ihn öfter verwarnen, aber nun spitzt sich sein Verhalten Carlo gegenüber zu, sodass ich mich einschalten muss, egal ob es die Schularbeiten oder das unaufgeräumte Zimmer betrifft. Ich kann wie schon mindestens tausendmal ganz ehrlich gesagt wirklich nicht behaupten, dass ich den Udo geliebt habe, aber zu Anfang habe ich ihn zumindest gemocht und auf eine traute Gemeinsamkeit gehofft, diese Vorstellung ruft bei mir noch heute einen gewissen Ekel hervor.

Ich bin froh, mit der kleinen Tessa zu Hause zu sein, um eine Gewisse Übersicht über alles zu haben und immer da zu sein, wenn Carlo aus der Schule kommt. Einkaufen gehe ich am Vormittag, ich nehme den Kinderwagen, dann brauche ich nicht alles schleppen. Udo bietet sich nicht ein einziges Mal an, die Einkäufe mit dem Auto zu erledigen, im Gegenteil, er trägt mir eines Tages noch auf, ihm das Bier mitzubringen, aber wenigstens dazu habe ich mich nicht erniedrigen lassen. Es ist sogar einmal so, dass ich gerade aus der Kaufhalle in Domstedt komme und sehe, wie er einen Kasten Bier im Kofferraum des Autos verstaut und vor meiner Nase davonfährt, obwohl ich hundertprozentig gemerkt habe, und mit Sicherheit weiß, dass er mich gesehen hat. Es ist an einem Freitag, ich habe entsprechend mehr einzukaufen, so dass ich nicht alles im Kinderwagen unterbringen kann, sondern noch eine große schwere Tasche zu schleppen habe, er schaut mir im Rückspiegel direkt ins Gesicht, ich weiß nicht mehr, ob ich entsetzt, traurig, enttäuscht, wütend oder sicher alles zusammen bin. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich gehofft habe, alles würde noch einmal besser werden. Ich weiß nur, dass ich einzig und allein wegen Carlo koche, es macht mir keinen Spaß mehr für Udo, diesen Kerl irgendetwas zu machen, ... egal was es ist. Ich tue es, weil ich es wohl muss, ... wenn ich seine Klamotten nicht waschen würde, ... er täte es ganz sicher nicht, ... aber es würde auf mich zurückfallen und ich habe keinen Bock darauf, dass die Leute mit ihren Fingern auch noch auf mich zeigen. Ich koche aber das, was Carlo und ich gerne essen, für Udo bleibt es ohnehin egal, er stochert in jedem Essen herum, egal was es ist. Wenigstens hat sich Gottlob diese leidige, ekelige Bettangelegenheit, dank Mariannes hilfreiche Information erledigt, endlich ist diese Qual vorbei und bleibt es auch. Udo merkt oder weiß wohl noch immer nicht, warum ich um ihn einen großen Bogen mache und kleinste Annäherungsversuche strikt abwehre, aber das ist mir nun wiederum wurscht wie nur irgendetwas. Ich konzentriere mich auf Carlo und mein Baby. Ich beziehe Carlo viel mit ein, wenn ich mit seiner kleinen Schwester zugange bin, damit er nicht auf die Idee kommt jetzt benachteiligt zu werden, um Gottes Willen, ... mein kleiner Mann doch nicht, zudem man ja nun fast schon junger Mann sagen kann. Er stellt sich nicht einmal ungeschickt an, wenn er Tessa solange auf dem Arm halten soll, bis ihr Fläschchen fertig ist, ich kann zwar auch stillen, aber es reicht nicht aus, diesmal sind meine Quellen nicht so ergiebig wie bei Carlo damals. Carlo amüsiert sich über das zur Grimasse verzogene Gesicht seiner kleinen Schwester, die vor Zorn schon ganz rot im Gesicht ist, weil ihr das alles nicht schnell genug geht. Wie jedes Baby probiert es auch Tessa aus, mich nachts auf Trab zu halten, aber auch sie muss lernen, dass es in der Nacht nichts gibt, weder etwas zu essen, bzw. zu trinken, ... noch Unterhaltung. Auch noch heute bin ich der Meinung, der kleine Körper und Magen des neuen Erdenbürgers brauchen nachts ihre Ruhe, wie bei jedem anderen auch, genauso wie regelmäßige Mahlzeiten zu festgelegten Zeiten. Wie sonst soll sich eine wichtige Regelmäßigkeit und ein Rhythmus dahingehend entwickeln?. Wie bei ihren Geschwistern vorher, lege ich die Zeiten zuerst an die des Krankenhauses angelehnt fest. Am Abend um 22.00 Uhr gibt es die letzte Mahlzeit, ... solange wie es von den Kleinen gemocht wird, ... dann ist Schluss bis zum frühen Morgen. Ein Baby darf durchaus auch einmal schreien, um seinem Protest Ausdruck zu verleihen, ... man muss es eben aushalten. Steht man einmal auf, ... steht man immer auf. Die kleinen Geister merken sehr schnell worum es geht. Ich bin nicht für das Füttern nach Bedarf, ... nein, ... wie gesagt muss eine Regelmäßigkeit erlernt werden. Ein gesundes Kind merkt und lernt sehr schnell, dass nachts Ruhe herrscht. Man kann schnell feststellen, ob ihnen wirklich etwas fehlt oder nicht. Wenn es nachts schreit und man schaltet das Licht an und das mitunter kräftige Stimmchen verstummt sofort, dann kann man sich sicher sein, dass dem neuen Familienmitglied schlicht und einfach nur die Unterhaltung fehlt. Weint es trotzdem weiter, dann ist unter Umständen etwas nicht in Ordnung, Anlass dazu, kann durchaus eine volle Windel sein, ... na man muss halt mal schauen. Anders natürlich ist es, wenn das Kind krank ist, dann gibt es genug durchwachte Nächte und da darf man natürlich, besonders bei Erkältungen nicht mit Flüssigkeitszugaben sparen,..zweckmäßig ist etwas ungesüßter Tee. Nach etwa vier Wochen hat auch Tessa ihren Rhythmus gefunden, die nächtlichen Protestaktionen bleiben aus und sie schläft durch, entwickelt sich ganz normal. Über die sogenannten Baderituale habe ich schon in einem anderen Zusammenhang gesprochen, ... wenn nicht, ... dann fragt mich doch einfach!. - Es kommt wie in jedem Jahr der November, alles ist beim alten, Carlo geht zur Schule, freut sich, weil ich zu Hause bin wenn er kommt. Tessa ist bald drei Monate alt und fängt an, Gegenstände mit den Augen zu verfolgen, Udos Verhalten bleibt das gleiche wie gehabt. Am Donnerstag, den 26. November 1992 gibt es einen orkanartigen Sturm, Dächer werden zum Teil abgedeckt, Bäume knicken um, die Heizung fällt aus, es gibt über 30 Stunden keinen Strom. Die Wohnung ist kalt, es kann sich nur spärlich gewaschen werden. Zum Glück kann ich noch etwas stillen, aber ich muss zufüttern, es ist sehr umständlich, mit Hilfe von Kerzenlicht, bzw. dessen Flamme muss ich die Babynahrung fertigstellen. Udo macht sich wie immer keinen „Kopf“, wie zum Beispiel einen Spirituskocher aufzutreiben, er geht einfach aus dem Haus, so als ginge ihm tatsächlich alles am Arsch vorbei. Ich habe Glück und kann so einen Kocher bei einer Bekannten im Ort besorgen. Die Wäsche bleibt zwangsläufig liegen, da sind nun heutzutage die Wegwerfwindeln für so einen Fall dienlich, trotzdem wird es in allen Dingen einen Nachholebedarf geben, wenn der Strom wieder da ist. Der Staubsauger hat Pause und wischen kann ich nur notdürftig mit kaltem Wasser. Am 28. November gegen Morgen ist der Strom wieder da, ich mache mich auf den Weg zur Kaufhalle und plane dabei die Reihenfolge meiner häuslichen Arbeiten, ... jetzt, wenn der Strom zurück ist, ... zudem möchte ich Plätzchen backen, am Sonntag, den 29. November 1992 ist der 1. Advent. Ich habe noch nicht richtig alles in der Küche ausgepackt, als es an der Tür klingelt, es ist ein Telegramm von meiner Mutter: ... Papa ist heute, am 28. November um 7.30 Uhr gestorben, ... . Ich halte das Papier in meinen zittrigen Händen, ich bin wie gelähmt und kann nichts sagen. Ich gehe in die Küche, … setze mich hin, ... kann mich nicht rühren. Ich sitze stumm da bis ich durch Tessas Gebrülle nach ihrer nächsten Mahlzeit aus meinen stummen Schreien gerissen werde. Taumelnd erhebe ich mich und sehe nach Carlo, er ist in seinem Zimmer und spielt mit den Dinos. Ich sage ihm erst mal nichts und gehe Udo wecken, der sich durch Tessas Geschrei nicht einmal angesprochen fühlt. Ich teile ihm mit was los ist, er fragt nur blöd und teilnahmslos: „Und was jetzt weiter?“. „Ach, Mensch, ... was soll denn sein?, wir müssen ein paar Sachen packen und zu meiner Mutter fahren, ... was denn sonst?!“, sage ich während Tessa noch immer schreit. „Jaaa, ... wann denn?, ... jetzt gleich nachher?“. Ich bin wütend über seine abnorme Gleichgültigkeit. „Ja, ... natürlich, ... was glaubst Du denn?, ... so schnell es geht, ... oder dachtest Du, nächstes Jahr zu Ostern?“. Langsam erhebt er sich und ich sage: „Vielleicht könntest Du ja eventuell mal zur Telefonzelle gehen und Deinen Eltern Bescheid sagen, … und sie fragen, ob Carlo bei ihnen bleiben kann bis wir zurück sind, für die paar Stunden müssen wir doch den Jungen nicht herumzerren. Ich habe ihm auch noch nichts gesagt, ich habe nur gesagt, wir müssen mal schnell kurz nach Seelstein fahren, weil mit dem Opa etwas nicht in Ordnung ist. Für Tessa bleibt es gleich, sie versteht noch nichts und ihr ist es egal, ob sie hier im Bett oder im Auto schläft,… außerdem muss sie gestillt werden solange es geht“. Schlürfend macht sich Udo auf den Weg, ich versorge das schreiende Bündel, packe für Tessa alles notwendige ein und auch für Carlo das, was er braucht, um bei den Schwiegereltern übernachten zu können, für Udo und für mich ebenfalls ein wenig Wechselwäsche. Alles andere lasse ich im wahrsten Sinne des Wortes stehen und liegen. Wegen dem langen Stromausfall konnte ich wie schon gesagt verschiedene Arbeiten nicht ausführen, wie Wäsche waschen, durchsaugen, etc., aber das muss halt nun eben liegenbleiben. Es wird niemand kommen und es für mich machen, die Arbeit nimmt mir keiner weg, sie würde schon noch da sein, wenn ich zurück bin. Durch das aufgeregte Hin und Her ist Carlo hellhörig geworden: „Ist etwas passiert Mutti?, fahren wir weg?“, fragt er. „Carlo, der Udo und ich, ... wir müssen nach Seelstein fahren, ... wir bleiben nicht lange, ... ist es in Ordnung, wenn Du mal bei der Wiesenstädter Oma schläfst?“. „Was ist mit dem Opa in Seelstein?“. Carlo hat wohl von dem Gespräch etwas aufgeschnappt und ich muss mich sehr zusammenreißen. „Dem Opa geht es nicht so gut weißt Du, wir müssen nach ihm sehen, wir müssen hinfahren“. Ich weiß, dass Carlo nicht gern in Wiesenstadt ist, ... aber ich weiß auch nicht, wie ich es hätte anders machen sollen. „Und Tessa?“, möchte mein Sohn wissen. „Deine Schwester müssen wir mitnehmen, ... Du weißt doch, ... kleine Babys brauchen Milch, wie sie nur ihre Mamas für sie haben, ... verstehst Du das?“. Er nickt nur mit dem Kopf und sagt: „Aber Du holst mich bald wieder ab?“. „Ja, natürlich, morgen kommen wir zurück, aber sehr spät am Abend, Du weißt wir müssen sehr lange fahren, ... es ist weit bis nach Seelstein“. Wir bringen Carlo nach Wiesenstadt und fahren gleich weiter.Tessa liegt im Oberteil ihres Kinderwagens auf dem Rücksitz und schläft, sie weiß von alledem zum Glück noch nichts. Während der Fahrt müssen wir dreimal anhalten, damit ich Tessa versorgen kann, gleichzeitig muss ich aufpassen, dass Udo vom Bier fern bleibt, damit wir heil ankommen. Ansonsten ist es mir schon ziemlich egal, ob er säuft oder nicht, Alternativen habe ich ihm indessen genug aufgezeigt, aber nun bin ich mit Tessa im Auto und Carlo wartet auf mich, ... und wir möchten schon ganz gerne überleben. Mir ist ganz elend zumute, ich denke an meine Mutter, in welcher Verfassung werde ich sie vorfinden, ich denke an meinen Vater, den es nun nicht mehr gibt. Es tut mir weh, dass ich nicht einmal die Möglichkeit hatte, mich von ihm zu verabschieden, genau wie bei meinem Bruder Hagen damals. Sehr spät, fast nachts kommen wir in Seelstein an, meine Mutter ist ganz verwirrt als sie die Tür aufmacht, ich glaube, sie hat etwas getrunken, gleichzeitig scheint sie erleichtert zu sein. Tessa macht keinen Mucks, sie schläft gleich weiter, wie gesagt konnte sie gut mit dem Kinderwagenoberteil transportiert werden. Meine Mutter geht erst mal wieder zu Bett, wir legen uns für ein paar Stunden auf das ausgeklappte Sofa. Am nächsten Morgen sagt meine Mutter: „Mensch, ... Mädchen, ... da fahrt Ihr mit dem kleinen Kind die ganze Strecke bis in die Nacht hinein, ... das hätte ich nicht gedacht, ... das arme Kind, ... wo ist Carlo?“. „Ja Mutti, wir müssen doch kommen, das geht doch nicht, ich muss doch mit Dir über alles sprechen, ... Carlo ist bei den Schwiegereltern, ich wollte ihn nicht mit herumzerren und habe ihm auch noch nichts gesagt“. „Ja, heute kommt jemand vom Bestattungsinstitut und wir müssen die Osterfelder anrufen, ... und auch in Ostfriesland, … und Onkel Bertram“, meint sie. Zum Glück hat wenigstens meine Mutter Telefon, sodass wir alles erledigen können, gleichzeitig geben wir in Wiesenstadt Bescheid, dass wir es erst schaffen am Montag zurück zu sein. Am Montagmorgen versorge ich Tessa und wir fahren gleich los, um Carlo rechtzeitig abzuholen. Es ist wie ein Alptraum, ich kann es nicht realisieren, denke dauernd daran, wie ich es Carlo sagen soll. Ich ärgere mich über Udos Gleichgültigkeit, der nichts anderes im Kopf hat als sein Bier, welches er gleich zu Hause trinken will wenn wir zurück sind. Auch Henny kam im Laufe des Sonntages mit ihrem Trabi den sie nun erwerben konnte, nachdem sie vor kurzem ihren Führerschein bekommen hat. Ein paar Tage zuvor war sie noch mit ihrem Opa zum Tanken gefahren , er hat ihr gezeigt, wie es an der Tankstelle vor sich geht. Auch sie hat natürlich schwer zu kämpfen, dass ihr Opa nicht mehr da ist, schließlich war sie zwanzig Jahre lang seine Püppi.

Am 14. Dezember 1992 ist die Beerdigung meines lieben Papas in der kleinen Friedhofskapelle in Seelstein. Es ist trübes, kaltes und feuchtes Wetter. Beerdigungen sind so ziemlich das schlimmste, was es für mich gibt. Ich gehe überhaupt äußerst ungern an ein Grab auf dem Friedhof, es ist alles so endgültig und vorbei, jedenfalls in dem Leben, indem man sich gerade befindet. - Ich höre gar nicht zu, was der Pfarrer sagt, ich bin mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Viele Bilder ziehen an mir vorbei, ich sehe meinen Vater in verschiedenen Situationen wie in einem Film vor mir. Angefangen von dem ersten rekonstruierbaren Bild, was ich als Säugling von ihm wahrgenommen habe, bis hin zu Situationen der letzten Begegnungen. Ich erinnere mich an den Tag, als mein Vater seine Hand beruhigend auf meinen Kopf gelegt hatte, als mein Bettchen mit meinem Bruder Hagen belegt war, ... an spätere Erlebnisse am Steiger und Hagens frühen Tod. Bilder, in denen mein Vater über den Rand seiner Brille hinaus lugt kehren zurück, zum Beispiel, als ich mein erstes Geld in den Ferien verdient habe, und er mir etwas dazu gab, weil es für den Wunsch den ich hatte nicht ausgereicht hat, ... als er auf seine Armbanduhr zeigte, als ich die erlaubte Ausgangszeit als junges Mädchen damals überschritten hatte, ... und wie versprochen, nimmt er auch unser Geheimnis mit sich fort, meiner Mutter von der Schulschwänzerei in Halle, in den ersten Wochen meiner Ausbildung nichts zu verraten. Die Gedankenreise geht weiter bis zur Geburt des ersten Enkelchens, seiner Püppi, den später dazugekommenen Lausebengels und die Erlebnisse mit ihnen im Garten, die sich, man kann sagen, ja nun traditionsgemäß wie in meiner eigenen Kindheit wiederholt haben, ... sein letzter Besuch bei uns in Domstedt, ... seine letzten Stunden bei uns mit Tessa, der neuen kleinen Püppi auf dem Arm. - Ein Leben ist zu Ende gegangen, ein neues hat angefangen, ... wir werden den Fluss des Lebens nicht aufhalten können, ... auch wenn wir es uns oft so sehr wünschen. So leise, wie mein Vater in seinem Leben war, ... so leise ist er auch gegangen.

Stehaufmännchen - Die Kraft zu leben

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