Читать книгу Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer - Страница 10

in Bled

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Als Gerda schwimmend zur Kirche Sveta Marija gelangen wollte, die trotz der beachtlichen Entfernung vom Ufer verlockend geduldig und zartrosa auf einer kleinen Insel in der Mitte des Bleder Sees lag, verlor sie einmal ihr Leben. Sie verfing sich in einer dicht gewachsenen Seerose, die sie augenblicklich auf den Grund zog. Gerda hatte schon immer vermutet, dass man von Seerosen nicht halten konnte, was man von den lieblichen Namensgleichen an Land zu halten gewohnt war. Der wässrige Rosenname, war sie sicher, verschleierte nur deren böse Absichten. Meterlange Beine stemmten die Blättermonster hier in die Tiefe und krallten sie, sich niedrigster Instinkte bedienend, in den Schlamm. Nymphaea, du ausdauernde krautige Pflanze, willst mich Romantik empfinden lassen, wo keine ist, hatte Gerda bei ihrem Spaziergang noch am Tag zuvor gedacht. Du willst mir ein Gefühl aufzwingen, dabei bist du nichts weiter als eine Narzisstin, eine Effekthascherin, die von ihrer Spiegelung lebt. Du schlachtest die Möglichkeit aus, deine Blüten zu öffnen und zu schließen, um sie erneut zu öffnen, Tag für Tag, Abend für Abend. Als wäre die Sonne daran interessiert.

Gerda öffnete ihre Augen, um einen Weg nach draußen zu suchen. Das gletscherkalte Wasser berührte ihre Netzhaut, und sie wünschte sich eine dickere. Sie blickte nach oben und sah die gigantische steinerne Treppe, die vom Inselufer zur Kirche führte und in keiner Relation zu deren Größe stand, durch einen zittrig blaugrünen Filter. Sie schob ihr schwimmendes Haar zur Seite, das um ihr Gesicht tanzte, versuchte, den Blick zu halten, und blubberte: »Wenn mein einziger Weg hinaus über diese Treppe führt, dann helfe mir Gott.« Das war der letzte Satz, den Gerda dem Wasser schenkte. Tage, Wochen oder Monate verbrachte sie unter einer meist unbewegten Wasseroberfläche, die eine lichtdurchlässige Mauer eines riesigen Hauses war, das sie mit Seemuscheln, Zandern und anderem von nichts zu beeindruckenden Getier teilte. Es war eine große Stille, in der sie wohnte, und sie versuchte auch nicht, sich gegen diese Stille zu wehren. Sie nahm die Sprachlosigkeit mit in den Schlaf, und bei den ersten Sonnenstrahlen, die ins Wasser tauchten, mit in den Tag. Nur manchmal ließ sie sich an den Uferrand treiben, um die menschliche Stimme nicht zu vergessen, die an wenigen Stellen als verwässertes Echo von den Spazierwegen zu hören war. Worte, Laute, klatschnasses Slowenisch.

An einem dämmrigen Dienstagabend im August zog sie der Italiener aus dem Wasser. Francesco Albani war Jahr und Tag damit beschäftigt gewesen, Dinge aus dem Wasser zu ziehen. Er fühlte keine Notwendigkeit, dem Ereignis besondere Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Vielmehr packte er Gerda bestimmt, aber vorsichtig mit einem Arm an der Taille und legte sie auf den steinigen Boden einer kleinen Bucht, die vom Ufer aus unzugänglich war. Gerda regte sich anfangs nicht, was Albani nicht weiter beunruhigte. Er packte seinen Proviant aus der Tasche und schälte einen Apfel. Langsam warf Gerda die Wassertropfen von ihren Wimpern, indem sie ihre Lider leise hin und her bewegte. In Umrissen erkannte sie den neuen Boden, auf dem sie lag. Boden. Eine unbegreifliche Schwere bekam sie zu spüren. Albani drehte sich um und warf ihr einen Blick zu, den Gerdas nasse Augen noch nicht deuten konnten:

»Na, kleine Nymphe, bist du schon da?«

Sie rollte ihren nackten Körper auf einen sonnengewärmten Stein und atmete. Zum ersten Mal hörte sie den Ruf eines Vogels. Wunderbar laute Welt. Es war ein Steinadler, der über dem Triglav kreiste, einem Berg, der sich, obwohl er die Kulisse einer weitläufigen Szenerie bestimmte, seiner Vordergründigkeit nie bewusst geworden war und deshalb auch niemals eitel werden konnte.

»Mein Leben lang tauche ich nach Fischen«, reichte Albani ihr eine Flasche Wein, die er aus einem modrigen Leinensack geholt hatte. Gerda zog an der schmalen Öffnung, noch nie zuvor war ihre Kehle ähnlich trocken gewesen. Sie suchte nach Worten, fand eine Frage, legte sie auf ihre Zunge, wo sie aber keinen Tropfen Speichel fand und zu Staub zerbröselte.

»Das wird schon wieder … Du fragst dich bestimmt, warum ich tauche.«

Gerda fragte sich nicht, warum er tauchte, zwinkerte aber zustimmend, ohne die Flasche abzusetzen.

»Ich trage die ganze Welt auf meiner Netzhaut. Warum sollte ich sie nicht den Fischen zeigen?«

Immer tauchte er mit offenen Augen, um auch keinen einzigen Fisch zu übersehen.

»Also auch dich nicht, kleine Nymphe.«

Er riss ihr die Flasche aus der Hand, um selbst einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Sein Körper sei das Boot, sagte er, Augen und Hände wie Netz und Haken. Das Eisen der Fische habe sich mit der Zeit aber leider auf seinen Wimpern abgelegt und seine Tränenkanäle völlig verstopft.

»Irgendwann werde ich blind sein, kleine Nymphe, keine Fische mehr finden und sterben.«

Tatsächlich hatte Albani metallene Wimpern, was Gerdas Wasseraugen entgangen war. Er krachte mit seinen eisernen Augenvorhängen und warf ihr ein modriges Tuch aus seinem modrigen Sack zu.

»Ich bin aus Neapel hierhergekommen. Vor dreißig Jahren.«

Gerda wickelte das Tuch um ihren Körper und rieb das nasse Haar mit ihren aufgeweichten Handinnenflächen. Langsam strömten kleine Bäche aus ihren Gehörgängen, und sie konnte Albanis Worten immer besser folgen. Er erzählte eine Geschichte. Seine Geschichte. Eine Süßspeise hatte er hier in Bled erfunden. Die kremna rezina, die eigentlich trancio di crema hieß, die aber vom slowenischen Tourismusverband im doppelten Sinne einverleibt wurde und nun als traditionelles Dessert in sämtlichen Restaurants der Umgebung serviert wurde. Gerda hörte ihren Bauch. Wunderbar lauter Körper.

»Vanillepudding, geschlagenes Obers, Blätterteig, so einfach war das.«

Albani erzählte, dass die Slowenen im Ort über ihn sagten, er trage das Herz auf der Zunge und den Magen im Herzen und alles in den See hinein, und er gab zu, dass er sich an Land kaum mehr blicken ließ.

»Wie heißen Sie?«, hörte sich Gerda das erste Mal seit Langem wieder reden.

»Albani. Francesco Albani.«

»Ich danke Ihnen, Herr Albani. Ich vermute, Sie haben mein Leben gerettet.«

Da lachte er laut, wobei Wein oder Wasser aus seinem Mund spritzte, und ging Richtung See. Ohne sich nach ihr umzusehen, rief er »In bocca al lupo, piccola ninfa!« und verschwand im Wasser. Gerda bedankte sich ein weiteres Mal, ohne dass er es hören konnte. Sie nahm den Sack, der neben ihr liegen geblieben war, an sich, weil sie das Gefühl hatte, Albani wollte es so.

Das Abteil hatte Gerda für sich allein, wofür sie sehr dankbar war. Sie öffnete das Fenster, und die vergilbten Stoffvorhänge wölbten sich augenblicklich nach außen. Sie nahm Albanis Sack, hielt ihn aus dem Fenster und schüttelte ihn. Unzählige kaltnasse Tiere klatschten irgendwo zwischen Jesenice und dem Rosental auf das Bahngleis und störten das metallene Rattern des Zuges nicht weiter. Beim Zugfahren deutet alles auf das Reisen hin, nichts will mich hier vergessen lassen, dass ich unterwegs bin. Sie schob das Fenster wieder nach oben und die Vorhänge zur Seite. Der Triglav zeigte noch ein letztes Szenenbild für sie. Und Gerdas Haut war wunderbar warm.

Die Sprachlosigkeit der Fische

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