Читать книгу Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer - Страница 8
in Bad Aussee
ОглавлениеJedes zweite Jahr im November fuhr Gerda nach Bad Aussee, um das Grab ihrer ehemaligen Schulfreundin Edith zu besuchen. Edith war vor zwölf Jahren an einem Lebkuchenbrösel in der Altausseer Konditorei Zandler erstickt. Der Zandler war eigentlich für seine Steirische Nusstorte mit Cremefüllung berühmt, Edith aber hatte an jenem Tag im Frühling trockenen Lebkuchen bestellt. In ihrer Jugend hatte sie sich während eines Schulausfluges ins Salzkammergut in einen Altausseer Förster verliebt. Einen Mann mit Oberlippenbart und schmalem Gesicht, der stets in Tracht und mit Hut zu sehen war und der von gut dreizehn Jahren mehr Vergangenheit erzählen konnte als Edith. Dafür war Fritz Rauhnagel kurz nach ihrer Hochzeit bei Waldarbeiten tödlich verunglückt: Ein starker Westwind hatte dazu geführt, dass sich eine am Berg wachsende Fichte entwurzelte und wuchtig in Richtung Tal donnerte. An der Stelle, die der Baum rammte, löste sich ein Brocken vom Kalkfels, der nach seinem Weg hinab, auf dem er immer wieder gewaltig an den Berg stieß, nur noch als Kieselstein an der Bergsohle ankam und dort Hubert Rauhnagel, Fritzens Bruder, so am Kopf traf, dass er vor Schreck hastig um sich schlug und dabei vergaß, dass er eine Hacke in der Hand hielt. Fritz war neben ihm gestanden. Vom »Brudermord auf der Seewiesen« war die Rede im Ort.
Gerda liebte die Seewiese vom Altausseer See. Weil hier an diesem »geografischen Mittelpunkt Österreichs« alles aussah wie in Kanada. Und Gerda liebte Kanada. Für die Seeumrundung hatte sie sich in einem kleinen Trachtengeschäft in Bad Aussee neue Stiefel gekauft. Sie stellten sich schnell als schick und praktisch heraus, ein Eindruck, den sie mit anderen zu teilen schien. Denn als sie gerade einmal eine halbe Stunde unterwegs war, erhob sich eine Frauengestalt im blassblauen Umhang aus dem Wasser, die von einem Licht umgeben war und ihre Hände gütig gebend ausbreitete. »Gib mir deine Schuhe«, sprach sie. Dabei rieselte Salz von ihren Lippen, klatschte laut ins ansonsten glatte Wasser. Die Salzkruste in ihrem Gesicht war so dick, dass man weder Augen noch Nase sehen konnte. »Deine Schuhe!«, wiederholte die Erscheinung Salz bröckelnd.
Gerdas Weg führte vorbei am sparsam beleuchteten Seehotel, das Balkone aus der Fassade stöhnte, an verlassenen Fischerhütten, die einen frischen Anstrich hätten vertragen können, am Seerestaurant, das für diese Saison längst geschlossen hatte, über die Laichschonstation bis zur Jägerhütte auf der Seewiese, von wo aus sie den einmaligsten Blick über den See und auf den Loser (1838 m) hatte. Sie machte Rast auf der Veranda der Jägerhütte, wo sich die wenigen Gäste um die aufgestellten Heizstrahler gruppierten. Die Worte der Wanderer waren wenige und in einem Dialekt gewechselt, den Gerda nur mit Mühe verstehen konnte. Von Blättern war die Rede, die durch den plötzlichen Wintereinbruch an den Bäumen hängend erfroren waren, noch bevor sie überhaupt zu Boden fallen konnten. Zu sterben, ohne mit dem Leben fertig zu sein. Von Tieren, die irgendetwas spüren würden, sprach der Wirt. Vielleicht Neuschnee, oder etwas anderes. Jedenfalls würden sie mehr wissen als »wia aulle«.
Gerda konzentrierte sich auf jedes Geräusch: die Worte des Wirtes, das Rutschen des Schnees, der noch am Dach liegen geblieben war, das Knacksen der Holzbank, das Surren der Heizstrahler. Kleine Geräusche wurden ganz groß. Wenn das jetzt ein Film wäre, dachte sie, würde in dieser Verdichtung bald etwas Großes passieren. Sie stellte die Teetasse ab, wünschte den übrigen Gästen einen guten Tag und bemühte sich, den Rundgang ohne ihre Schuhe zu beenden. Ein Förster hatte ihr auf halbem Weg angeboten, sie im Jeep mit in den Ort zu nehmen. Doch Gerda wusste bereits, dass Müßiggang aller Psychologie Anfang war, und ging weiter.