Читать книгу Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer - Страница 7
in London
ОглавлениеGerda hatte das West End schon immer verabscheut. Diese heuchlerische Gegend, die einem ein London vorspielt, das es nie gegeben hat, nie geben wird. Diese schicken Häuser von Notting Hill, deren rote, blaue, türkise Türen ja nur in die Bedeutungslosigkeit einladen. Darum hielt sich Gerda seit Jahren im Osten der Stadt auf. Authentizität, sagte sie sich, Authentizität. Zum Jahreszeitenwechsel ging sie zu Anoop Akhtar, dem Schneider. Anoop war nicht der beste Schneider in Whitechapel, aber er hatte die schönsten Stoffe. Gerda liebte deren Gerüche und Beschaffenheiten. Samt, Spitze, Besticktes, weich fließende Baumwolle oder Leinen.
Anoops Geschäft lag am Ende der Brick Lane, in einem kleinen aus Backstein gebauten Haus, das zur Straße hin keine Fenster hatte, nur eine Tür mit bunten Glasscheiben. Anoop ließ das Maßband von Gerdas Schulter bis zur Hüfte hinunterhängen und fasste ihre Taille damit ein.
»You lost weight«, sagte er.
»Lost?«, fragte Gerda.
Er ging ins Lager, um die neuen Stoffe, die er gerade erst aus Bangladesch bekommen hatte, zu holen. Gerda schaute sich in der Zwischenzeit um. Staubig war es. Richtig verdreckt. In der Ecke unter der Schneiderpuppe saß Anoops Leguan. Er sah viel größer aus als sonst. Und warum konnte sie ihn hören? Die knackenden Geräusche, die er machte, weil er gerade einen Wurm verschlang?
An der Garderobenstange, die von der Tür bis zum Verkaufstisch reichte, hingen fertige Kleidungsstücke zur Abholung. Gerda ging die Stange entlang, streifte mit ihren Fingern über die Anzüge, Kleider und Blusen. Mrs. D’Antal, Mr. Ryosuke Ho, Mrs. Brown … Anoop hatte jedes Kleidungsstück sorgfältig mit einem kleinen Zettel gekennzeichnet. Sie zog ihre Hand von Miss Deedles Leinenhose. Ihre Finger waren völlig verschleimt. Die Masse rann schneller als Wasser zu ihrem Ellbogen hinab. Sie warf einen Blick zu der zum Lager hin offen stehenden Tür. Eine Maschine hatte angefangen zu arbeiten. Taktaktaktaktak. Zu laut für eine Nähmaschine. Mit ihrer linken Hand griff sie nach einem roten Samtkleid. Das Namensschild fehlte. Es war ein klassisch geschnittenes Etuikleid, an den Rändern des Dekolletés mit dunkelblauer Baumwolle eingefasst.
Wie von selbst legte sich der Stoff an Gerdas Haut, bewegte sich das Kleid über ihren Kopf, ihren Körper hinab. Sie blickte an sich herab, als sich der Saum am Dekolleté zu öffnen schien. Ihr Gesicht, dann ihr Kopf, dann ihr ganzer Körper wurden von einer angenehm mächtigen Sogwirkung in den Saum gezogen und verschlungen. Es war nun ganz dunkel. Nur in einer Ecke, vielleicht am Boden, sah sie verkümmerte, weinerlich schreiende Lipizzaner. Die Pferde waren dicht aneinandergedrängt, und über ihre strahlend weißen Körper flossen Blut und Eidotter. Sie gab einem der Ekel Zucker. Das Tier verschlang ihre Hand, und schließlich Gerda selbst.
Gerda hörte dumpfe Stimmen und klapperndes Geschirr. Und jetzt sah sie auch wieder Licht. Das Pferd hatte sie ausgespuckt. Auf den Michaelerplatz, in den Gastgarten des Café Griensteidl. »Haben gnä’ Frau noch einen Wunsch?«, fragte der Kellner. Gerda nickte. Sie gefiel sich in der neuen Bluse und leerte ihre Melange darüber.