Читать книгу Die Sprachlosigkeit der Fische - Margit Mössmer - Страница 9
in love
ОглавлениеAm 27. April hatte Gerda bei ihrem täglichen Weg vom Kindergarten in der Blackfriars Road zum Haus der Scotts in der Upper Thames Street den Künstler und späteren Knopfproduzenten Gilbert Rose kennengelernt. Gilbert nutzte seine freien Nachmittage, um am Ufer der Themse auf sich aufmerksam zu machen. Manchmal grub er tiefe Löcher in den Sand, die er mit alten, veralgten Fischernetzen bedeckte, oder er häufte Steine und Unrat zu großen Bergen, um diese dann mit roter und blauer Farbe zu begießen. An jenem Nachmittag hatte Gilbert gerade eine Unmenge an rostigen Schiffsteilen ans Ufer geschleppt, auf denen er wie selbstverständlich puren Punk in den Wind trommelte. Die Töne trafen die vorbeigehenden Menschen wie ein magischer Trank, der sie ganz vergessen ließ, wo sie ursprünglich hinwollten.
Gerda hatte Gilberts Aktionen schon öfter gesehen. Immer wenn sie von Weitem eine manchmal kleine, manchmal größere Menschengruppe an der vom Ufer erhöhten Promenade sah, ließ sie die beiden Kinder ins Eisgeschäft laufen, um in einem Moment der Ruhe und im Schutz der umstehenden Menschen Gilbert zu beobachten, was sie auch diesmal tat.
Emma D’Antal, das ältere der beiden Mädchen, konnte nicht wissen, dass sie Gerdas Leben bald in neue Bahnen lenken würde. Sie kehrte mit ihrer Schwester zum Ufer zurück und entdeckte ihr Kindermädchen beim Rauchen.
»Don’t tell your mom and dad, hm?«, sagte Gerda, ohne den Blick von Gilbert abzuwenden. Sie sagte es wenig eindringlich, weil sie wusste, dass sie sich der Verschwiegenheit der Kinder sicher sein konnte.
Zur selben Zeit war Gilbert bereits dabei, die Einzelteile seines Instrumentariums einzupacken und die Geldstücke, die die Leute vom Gehweg zu ihm hinunter in den Sand geworfen hatten, einzusammeln. Gerda, die im Haus der D’Antals zwar mit Essen versorgt wurde, deren Taschengeld aber selten für ein schönes Konzert in Chelsea oder einen bescheidenen Einkaufsbummel in Soho reichte, konnte und wollte nichts geben. Emma D’Antal aber verspürte den dringlichen Wunsch – sei es aus kindlicher Nächstenliebe oder aus Freude an der Schwerkraft –, etwas zu Gilbert hinunterzuwerfen. Sie griff in ihre Manteltasche und holte einen rosafarbenen Knopf heraus, den Gerda ihr schon vor Wochen an ihr Kleid hätte nähen sollen. Sie strich noch einmal mit ihren zarten Fingern über die glatte Oberfläche und warf den Knopf zwei Meter nach unten in den Sand. Es dauerte nicht lange, bis ihn Gilbert, der seinen Kopf auf den Boden gerichtet hielt, um bloß keine Münze zu übersehen, entdeckte. Er blickte nach oben und sah Gerda und die Kinder am Geländer stehen. Die übrigen Menschen waren inzwischen weitergegangen, was Gerda gar nicht aufgefallen war. Gilbert machte einen Satz auf die Mauer, drückte sich auf einem herausstehenden Holzstumpf balancierend nach oben und hielt sich am unteren Teil des Geländers fest, sodass er gerade die Füße seiner stehengebliebenen Zuschauer hätte fassen können.
»Is it yours?«, schaute er Gerda von unten an. »There’s nothing more worthless than a button.«
Gerda schwieg. Sie hatte Angst, er würde wütend werden, hätte die Geste der Kleinen als Beleidigung empfunden, also nahm sie die Kinder an der Hand, wobei sie die Augen immer auf ihn richtete, ihn, den sie nach so langer Zeit zum ersten Mal aus der Nähe sah, dessen Gesicht von vielem gleichzeitig erzählte und dessen Schultern schmal, aber voller Stolz in der Haltung waren. Gilbert war angestrengt vom unsicheren Stand auf dem Pfosten.
»But …, but a button meeting a buttonhole«, fing er wieder Gleichgewicht, »… means combining textures and receiving warmth, coherence and beauty!«
Gerda wusste nicht, ob Gilbert dumm oder ein Philosoph war. Und daher wusste sie den ganzen Weg nach Hause über, beim Nachmittagstee, abends beim Hausaufgabenmachen und während der Nacht, in der sie aus dem Fenster starrte, auch nicht, ob ihr Herz vor Anspannung oder Begeisterung rasen sollte.
Als sie und die Kinder am nächsten Tag die Uferpromenade erreichten, winkte ihnen Gilbert, der in der Luft über einer noch nie dagewesenen Menschenmenge zu schweben schien, aus der Ferne zu.
»Mesdames! Come closer!«, rief er wie ein schaukelnder Zirkusdompteur, der sein Publikum ins Zelt locken möchte. Als sie näher kamen, bemerkten sie, dass er nicht schwebte, sondern auf dem Dach eines riesigen Palastes aus Knöpfen stand. Eines Palastes mit großartigen Zwiebeltürmen, dicken Säulen und meterhohen Treppen, die von einer Dachterrasse auf die nächste führten, und in dessen Anlage sich Springbrunnen, Pflanzen, Elefanten und Paradiesvögel in ihrer Schönheit übertrafen. Tausende, abertausende, Millionen und Milliarden Knöpfe hatte Gilbert dafür gestapelt. Sie waren aus Plastik, stoffbezogen, mit Löchern oder Ösen, es gab Perlmuttknöpfe, Hornknöpfe, Holzknöpfe und Metallknöpfe, Knöpfe in Lila und mit bunten Streifen, Knöpfe in strahlendem Gelb, Kobaltblau und Rubinrot, poppige Knöpfe, pelzige Knöpfe und welche mit kleinen Motiven darauf, winzig kleine und tellergroße. Und sie alle spielten Bausteine in Gilberts riesigem Bau, der die vorbeifahrenden Frachtschiffe wie Spielzeugboote aussehen ließ. Bald wurde klar, dass Gilberts Einladung, den Palast zu betreten, nur Gerda und den Kindern galt. Über eine wankende Hängebrücke aus sechseckigen, knallroten Knöpfen stiegen sie von der Promenade hinunter zum Palast, während die umstehenden Leute ihren feierlichen Gang verblüfft und durchaus neidisch mitansahen. Gilbert begrüßte seine Gäste und zeigte ihnen die schönsten Ecken des Palastes. Emma durfte auf einem der Elefanten reiten, und ihre Schwester rutschte vergnügt die Zwiebeltürme hinab, während Gerda und Gilbert im Schatten der Bäume Tee tranken und sie bald wusste, warum ihr Herz raste. Sie traute sich nie, ihm zu sagen, dass es gar nicht ihr Knopf gewesen war.