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2 Epistolographie und Narratologie

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Moderne Erzähltheorien haben sich in der Klassischen Philologie mittlerweile gut etabliert, insbesondere die Methoden der narratologischen Analyse, wie sie etwa Gérard Genette entwickelte, erweisen sich auch für die Arbeit mit antiken Texten als fruchtbar.1 So existieren inzwischen zahlreiche Studien, in denen Epen, Dramen, historische und biographische Werke, Reden, Romane sowie gelegentlich auch kleinere poetische Genres unter Zuhilfenahme narratologischer Ansätze analysiert werden.2 Was die antike Epistolographie betrifft, hat man sich hier insbesondere auf Briefromane und fiktionale Briefe konzentriert,3 wohingegen Sammlungen von Privatbriefen wie diejenige des jüngeren Plinius noch wenig aus der Perspektive der modernen Erzählforschung untersucht worden sind, wenn man von Interpretationen einzelner Briefe einmal absieht.4 Dies liegt einerseits sicherlich daran, dass dieses Briefkorpus lange Zeit eher als historische Quelle denn als literarischer Text angesehen wurde, und andererseits an der formalen Struktur der Briefsammlung. Im Gegensatz zu durchgängig narrativen Texten wie Epen, Historien oder Romanen, die in der Regel den Gegenstand narratologischer Analysen bilden, zerfallen Briefsammlungen in zahlreiche Einzeltexte, die sich an unterschiedliche Adressaten richten können, je nach Thema und Adressat durch verschiedene Sprechhaltungen des Briefschreibers auszeichnen und in denen jeder Brief räumlich und zeitlich ganz unterschiedlich verortet sein kann. In seiner Studie zu Ciceros Briefen weist Hutchinson (1998) auf die Schwierigkeit hin, epistolare Narrationen mit den gängigen modernen Theorien zu erfassen:

„These narrative letters…cut across the categories of narrative most considered by modern discussions…the narratives that we find in the letters look a peculiar mixture. Here we find accounts of actual events, but narrated from shortly after them, and often by a first person identified both with a principal character in the action and with the writer.“5

Durch ihren kommunikativen Rahmen unterscheiden sich briefliche Narrationen zwar von anderen Gattungen, machen sich jedoch auch die Konventionen dieser Genres zunutze. Ciceros Briefe wurden in der Form, wie sie uns überliefert sind, wohl nicht vom Verfasser selbst publiziert, sondern von späteren Herausgebern zusammengestellt.6 Anders verhält es sich mit dem Briefkorpus des jüngeren Plinius, der sein Werk selbst edierte; neben den einzelnen „narrative letters“ muss bei Plinius somit auch der Buch- bzw. Sammlungskontext mitberücksichtigt werden. Eine narratologische Untersuchung der auf den ersten Blick heterogen wirkenden Plinius-Briefe kann nach ähnlichen Kriterien erfolgen, wie es Liveley und Salzman-Mitchell (2008: 2) am Korpus der römischen Elegien demonstriert haben:

„Although this body of literature does not tell a continuous story in the sense of Callimachus’ ’aisma dienekes [sic], yet many stories surface in the web of the poems at different narrative levels…Throughout elegy there are many embedded tales – narratives in their own right – located within and interacting with the primarily nonnarrative structure of the external frame-text.“

Auch im Fall des Jüngeren Plinius, der sein Briefkorpus in Anlehnung an Gedichtbücher bewusst komponiert und arrangiert sowie selbst publiziert hat,7 dürfte eine narratologische Analyse lohnend sein. Ähnlich wie das elegische „web of poems“8 weist auch das dem Prinzip der variatio verpflichtete „web of letters“ des Plinius mehrere narrative Linien auf, die der Leser im Zuge der Lektüre zu rekonstruieren animiert wird.9 Anstelle einer linearen Narration haben wir es dabei meist mit einer fragmentierten bzw. elliptischen Form der Erzählung zu tun. So betont etwa Altman (1982): „Letter narrative is elliptical narration. Paradoxically many of its narrative events may be nonnarrated events of which we see only the repercussions.“10 Newlands (2010) argumentiert, dass die Briefe des Plinius sich, ähnlich wie die Silvae des Statius, mit Zeitgeschichte befassen, jedoch nicht „in a grand narrative“, sondern „as a series of isolated occasions“.11 Ash (2013a) weist im Rahmen ihrer Analyse des Briefzyklus über Regulus darauf hin, dass die Briefsammlung unterschiedliche Modi der Lektüre suggeriert: Während der Leser der publizierten Bücher eine sich von Buch 1 bis Buch 6 erstreckende „Regulus narrative“ mitverfolgen kann, erhalten die verschiedenen Adressaten dieser Briefe nur die Fragmente dieser Narration.12 Ähnliches gilt auch für andere Briefzyklen, die sich über das Korpus erstrecken und die einzelnen Bücher miteinander verbinden. Die narrative Organisation des epistolaren Korpus sowie einzelner Bücher, wo narrative Linien zwar angedeutet, jedoch nicht stringent durchgezogen werden, lässt sich mit dem Konzept der „weak narrativity“ beschreiben, wie es von McHale (2001) entwickelt wurde.13 McHale konstatiert im Rahmen der Analyse von Lyn Hejinians Gedicht Oxota: a Short Russian Novel (Great Barrington, MA, 1991) Folgendes (McHale 2001: 162):

Oxota lacks a “main” narrative; rather, it incorporates a proliferation of “minor” narrative genres: anecdotes, gossip and hearsay, jokes, dream narratives, ekphrases of paintings with a narrative content. Moreover, it fragments these minor narratives and disperses them across noncontinguous lines or even noncontinguous chapters, interleaving alien materials. To us readers, then, falls the task of determining what belongs with what, of reassembling the scattered narrative fragments.“

Das von McHale Gesagte lässt sich auch an Briefsammlungen wie derjenigen des jüngeren Plinius beobachten, in der wir anstelle einer „main narrative“ mehrere „minor narratives“ vorfinden. Von der „weak narrativity“ eines Briefbuches oder Briefkorpus, das in chronologischer, räumlicher und thematischer Hinsicht heterogene Texte vereint, ist jedoch die „narrativity“ einzelner Briefe zu unterscheiden, die man mitunter keinesfalls als „weak“ bezeichnen kann: So bilden etwa Plinius’ Berichte über Prozesse, verschiedene Mirabilien und andere Vorfälle stringente und in sich geschlossene Erzählungen, wie in den folgenden Kapiteln noch stärker herausgearbeitet werden soll.

Eine narratologische Analyse ausgewählter Pliniusbriefe unter Rekurs auf die theoretischen Ansätze Genettes hat Illias-Zarifopol (1994) unternommen.14 Gegenstand ihrer Arbeit sind die Briefe 4,11, 3,16 und 7,19 („Historical Narratives“) bzw. 1,5, 3,11, 7,33 und 9,13 („Personal Narratives“), in denen immer wieder die Regierungszeit Domitians ein zentrales Thema darstellt. Illias-Zarifopol bietet überzeugende Interpretationen der einzelnen Episteln, in denen sie narrative Strategien aufdeckt und darlegt, wie Plinius „the reader’s perception of the material“ (3) kontrolliert. Die Untersuchung konzentriert sich allerdings stark auf einzelne Briefe, die als „self-conscious narrative entities“ bezeichnet werden (3). Auf den Buchkontext und die Organisation bzw. lineare Entfaltung dieser „Domitian-Narration“ sowie ihre Interaktion mit weiteren narrativen Linien bzw. Briefzyklen im Korpus wird hingegen wenig Rücksicht genommen. Die vorliegende Arbeit verdankt der Studie von Illias-Zarifopol wertvolle Anregungen und hat unter anderem das Ziel, die dort angestellten Beobachtungen weiterzuführen und zu vertiefen.

Mehrere Forscher haben bereits darauf hingewiesen, dass die Briefsammlung, in der die Selbstdarstellung des Epistolographen eine wichtige Rolle spielt, an eine Autobiographie erinnert15 und die Lektüre dieses Makrotextes durch die Anordnung der Briefe gesteuert wird. Unter Rückgriff auf die narratologische Terminologie könnte man also zwischen den drei vertikalen narrativen Ebenen text (der Text, den ein Leser/Hörer rezipiert), story (die vom Erzähler präsentierte Geschichte) und fabula (die der story zugrunde liegenden Ereignisse, die der Rezipient selbst rekonstruiert)16 unterscheiden, d.h. zwischen den literarischen Strategien, mit denen der Epistolograph verschiedene Aspekte seiner Vita und sozialen Interaktionen durch Auswahl und Anordnung einzelner Texte präsentiert (story) sowie der Biographie des Plinius, die der Rezipient durch die Lektüre des Briefkorpus chronologisch rekonstruiert und ergänzt (fabula). In diesem Zusammenhang sind nicht nur solche Briefe relevant, die nach antiker Auffassung die Funktion des narrare erfüllen, indem sie von konkreten Handlungen und Ereignissen berichten, sondern auch solche Schreiben, die stärker dem Prinzip des loqui/iocari verpflichtet sind; innerhalb der die Briefsammlung durchziehenden bzw. vom Leser rekonstruierten narrativen Linien können somit auch Briefe der letzteren Kategorie – nicht selten hat man sie als bloße „Fülltexte“ abgetan und nicht weiter beachtet17 ‒ wichtige Informationen liefern (indem sie z. B. verschiedene Stimmungen und Emotionen ausdrücken), wenn man sie im Kontext liest.

Sowohl die Struktur der Briefsammlung macht es nötig, narratologische Ansätze entsprechend zu adaptieren, als auch das Problem, dass wir die Plinius-Briefe weder eindeutig als fiktionale noch rein faktuale Texte klassifizieren können. In seiner Korrespondez mit verschiedenen Zeitgenossen sowie Kaiser Trajan suggeriert Plinius dem Leser, dass es sich hier um authentische Briefe handelt, die der Epistolograph, wie er in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 betont, auf Wunsch eines Freundes gesammelt und publiziert hat, ohne sich um eine weitere Überarbeitung oder Organisation der Texte zu bemühen. Der Rezipient nimmt somit in weiterer Folge die Rolle des stummen Zeugen verschiedener Phasen der Kommunikation zwischen Plinius und seinen Briefpartnern ein. In Spannung zu diesem Eindruck von Authentizität stehen Pliniusʼ literarische Kunstgriffe und seine wiederholten Anleihen an poetischen Werken.18 Zudem kann der Leser der Briefsammlung Zusammenhänge zwischen den einzelnen Texten herstellen, die sich den jeweiligen Adressaten nicht erschließen. Dass eine eindeutige Scheidung zwischen „real“ oder „fiktiv“ im Falle der Plinius-Briefe schwierig ist, betont etwa Shelton (1990: 171): „The debate about whether Pliny’s letters are real or fictitious has no objective solution“. Einen Mittelweg zwischen den beiden Gegensätzen schlägt Altman (1982) in ihrer Studie zum Briefroman mit dem Konzept der „epistolarity“ ein, das sich auch für die Untersuchung der Korrespondenz des Plinius als nützlich erweist: Unter dem Begriff „epistolarity“ versteht Altman „the use of the letter’s formal properties to create meaning“.19 An die Stelle der Einordung eines Briefes bzw. eines darin behandelten Ereignisses als entweder real oder fiktiv20 tritt hier die Frage, wie die Gattungskonventionen der Epistolographie die Darstellung von Handlungen, Personen, Gegenständen etc. beeinflussen. Dadurch, dass Pliniusʼ Prosabriefe zwar vorgeben, reale Ereignisse zu thematisieren, dabei aber verschiedene literarischer Kunstgriffe anwenden, sind sie in mancherlei Hinsicht mit der antiken Historiographie vergleichbar, deren Nähe zur Poesie bereits von antiken Lesern konstatiert wurde.21 Dafür, dass sich historiographische Erzählungen nach denselben narratologischen Kriterien untersuchen lassen wie fiktionale Texte, haben sich Theoretiker wie Roland Barthes, Hayden White und Gérard Genette22 ausgesprochen, wohingegen Dorrit Cohn23 dafür plädierte, zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken bei folgenden Aspekten („signposts of fictionality“) stärker zu differenzieren:24 Den drei vertikalen narrativen Ebenen text, story und fabula müsse bei historiographischen Texten noch eine vierte hinzugefügt werden, die sie als material bezeichnet, und die Quellen, Prätexte, frühere Versionen und dergleichen umfasst.25 Auch in Bezug auf die Organisation der Zeit sowie die Möglichkeiten zur Fokalisierung unterscheiden sich Cohn zufolge fiktionale und nicht-fiktionale Erzählungen; zudem müsse man in nicht-fiktionalen Texten nicht zwischen Autor und Erzähler unterscheiden, wie es bei fiktionalen Texten üblich ist.26 Diesen Forderungen hat Irene de Jong entgegengehalten, dass sich in der antiken Historiographie sehr wohl diejenigen Merkmale beobachten lassen, die Cohn nur fiktionalen Texten zusprechen will: Dazu gehören etwa vielfältige Methoden der Fokalisierung, Dramatisierung und Einbettung bühnenhafter Szenen, das Auschmücken von Ereignissen (amplificatio) und auch das Konstruieren einer persona des Historiographen, die sich nicht ohne weiteres mit dem historischen Autor gleichsetzen lässt.27 Allerdings zeichnen sich John Marincola zufolge historiographische Werke eben dadurch aus, dass der Autor zwar eine den historischen Stoff vermittelnde persona kreiert, der Text seine Glaubwürdigkeit jedoch dadurch generiert, dass der Leser diese persona mit dem realen Autor identifiziert.28

Wie im Laufe der Analyse der Plinius-Briefe ersichtlich wird, lässt sich auch das Briefkorpus mit ähnlichen narratologischen Fragestellungen untersuchen, wenngleich an die Stelle einer durchgängigen Historie die fragmentierte Textualität einer Sammlung von Einzelbriefen sowie das die Darstellung bestimmende Prinzip der „epistolarity“ tritt. Im Folgenden sei das Briefkorpus im Hinblick auf zentrale Kategorien, die in narratologischen Studien immer wieder diskutiert werden,29 kurz skizziert: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Autor, Sprecher/Erzähler und Rezipient (narrator/narratee)? Welche Techniken der Perspektivierung bzw. Fokalisierung wendet Plinius an? Wie sind Zeit und Raum im Briefkorpus organisiert? Wie werden Adressaten und handelnde Figuren charakterisiert?

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