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Erinnerungen

»Mama, was ist eigentlich aus meinem Zimmer geworden?«, fragte Lyra, als sie in die Küche zurückkehrte. Ihre Mutter war dabei, das schmutzige Geschirr wegzuräumen, hielt jetzt jedoch inne. Lyra wappnete sich innerlich, ihr einstiges Reich als steriles Gästezimmer vorzufinden, und verschränkte die Arme. Allerdings war sie nicht darauf vorbereitet, was ihre Mutter nun sagte. Miriam standen Tränen in den Augen, als sie auf ihre Tochter zuging. »Dass du mich noch mal Mama nennen würdest.« Wieder drückte sie ihre Tochter fest an sich. »Ich bin so glücklich, dass du hier bist. Und ich habe große Angst davor, was kommen wird.«

Miranda war mit Ian im Wohnzimmer. Aus dem Augenwinkel sah Lyra, wie ihre Tante gerade eine Flasche Whiskey öffnete und den Inhalt in vier Gläser goss. »Wenn ihr mit Heulen fertig seid, lasst uns endlich was Anständiges trinken. Vom süßen Glühwein habe ich schon Sodbrennen.«

Lyras Mutter wischte sich die Tränen weg und lächelte. »Miranda war schon immer die Sensiblere von uns, sie kann es nur nicht so zeigen.« Miriam strich ihrer Tochter eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Dein Zimmer ist immer noch dein Zimmer, Schatz. Es hat sich viel verändert, aber etwas musste auch bleiben. Ein paar Hexen haben in der Zwischenzeit dort übernachtet, aber jetzt ist das Bett frisch bezogen und alles hoffentlich so, wie du es in Erinnerung hast.«

Dankbar löste sich Lyra aus der Umarmung ihrer Mutter, griff nach der Reisetasche im Flur und stieg die Treppe hinauf. Als sie die Tür zu ihrem Kinderzimmer öffnete, strömten Erinnerungen auf sie ein. Tatsächlich wirkte alles so, wie sie es vor fünf Monaten verlassen hatte. Damals, in dieser vermaledeiten Nacht ihres Abschlussballs, als sie die Turnhalle ihrer Schule in Brand gesteckt hatte, als sie mit Ian nach Irland geflohen war.

Behutsam tippte Lyra an einen der Schmetterlinge ihres Mobiles, das noch immer über ihrem Bett hing. Da war der Standspiegel, in dem sie zum ersten Mal ihre körperlichen Veränderungen wahrgenommen hatte. Sie erinnerte sich an jenen Morgen, als ihrer Mutter die halb volle Kaffeetasse aus der Hand fiel, weil Lyra über Nacht eine andere geworden war. Wehmütig dachte sie an die Schmerzen, als sich ihr Körper binnen kürzester Zeit streckte und athletisch wurde, wie ihr Haar auf magische Weise gewachsen war und die Pickel verschwanden. Es war die Zeit ihrer Pubertät, wenngleich um ein Vielfaches stärker als bei normalen Mädchen. Es gab Zeiten, in denen hatte Lyra diese Normalität verabscheut, heute sehnte sie sich danach.

Ihr Blick fiel auf den Laptop, der immer noch auf ihrem Schreibtisch stand, und Lyras Gedanken schweiften zu jenem Tag, als sie im Internet nach Antworten gesucht und geglaubt hatte, ihr Vater hätte ihre Gene manipuliert. Heute wusste sie, dass Malthe nicht ihr Vater war und sich ihr Körper keineswegs mithilfe der Wissenschaft in den einer Katze verwandeln konnte. Dass es Rotkäppchen wirklich gab, würde wohl auch in keinem virtuellen Märchenforum oder auf irgendeiner Horror-Fanpage zu finden sein, genauso wenig, dass mit dem Blut eines Werwolfes blutrünstige Vampire erschaffen werden konnten.

Ja, es hatte sich vieles verändert – vor allem Lyras Vorstellung von Realität. Sie stellte ihre Tasche vor das Bett und schaute wieder auf die aus Papier gefalteten Schmetterlinge. An jenem Tag, als sie das Grimoire auf dem Dachboden gefunden hatte, waren auch die Erinnerungen zurückgekommen. Heute war Lyra klar, warum ihre Mutter damals mit ihr geschimpft hatte und weshalb dieses Mobile über ihrem Bett hing. Die Schmetterlinge sollten sie beruhigen, ihre magischen Kräfte besänftigen. Wahrscheinlich hatte sie schon als Kleinkind die Hexe in sich gespürt und instinktiv ihre magischen Fähigkeiten getestet. Und ihre Mutter hatte Lyra lediglich davor bewahren wollen, wenn Menschen wie Regina reagierten, sollten sie mit etwas konfrontiert werden, das sie nicht verstanden. Als die Verwandlung begann, hatte Miriam ihr das Diazepam verabreicht, um Schlimmeres zu verhindern. Doch letztlich war Lyra trotz all der Vorsichtsmaßnahmen von ihrer Großmutter weggesperrt worden.

Und Ian hat mich befreit, ging es Lyra durch den Kopf. Kaum hatte sie diesen Gedanken zugelassen, spürte sie das vertraute Kribbeln.

»Geht es dir gut?«

Ian stand im Türrahmen, die Hände lässig in den Taschen seiner Jeans vergraben. Er war so schön und so verdammt nah.

»Das sollte ich dich fragen«, erwiderte Lyra, bückte sich und kramte nervös in ihrer Reisetasche, obwohl sie eigentlich gar nichts suchte.

»Darf ich reinkommen?«

Sie nickte und griff nach dem Grimoire. Hitze stieg in ihr auf, als sich Ian neben sie aufs Bett setzte. Lyra warf das Hexenbuch zurück in die Tasche und schaute auf. Sie musste das jetzt hinter sich bringen. Entweder er würde ihr jetzt gestehen, dass er schwul war und sie niemals küssen würde, oder ...

»Erzähl mir von Spitzbergen!«, hörte sie sich fragen. Es war nicht das, was sie sich vorgenommen hatte. Zu sehr tobte die Angst in ihr, dass ihre Liebe zu Ian nur eine Illusion war.

Er strich durch sein dunkles Haar und wischte sich müde übers Gesicht. Ian war immer noch wunderschön, doch die jüngsten Ereignisse hatten offensichtlich ihre Spuren hinterlassen. Unter seinen grauen Augen waren deutlich Schatten zu sehen, er wirkte abgemagert und irgendwie krank. Aber wie konnte das sein? Seine Regenerationskräfte ließen das eigentlich gar nicht zu. Lyra beobachtete ihn, während er davon erzählte, wie er in Spitzbergen nach seinem Onkel Cathán gesucht hatte. Nur widerwillig berichtete Ian von der Überfahrt zurück nach Irland und dem infizierten Werwolf, den er gefangen und in die Höhle der Beanna gesperrt hatte.

»Was ist aus ihm geworden?«, fragte Lyra und stand vom Bett auf.

»Er ist schwach. Wenn wir nicht bald ein Gegenmittel haben, wird er sterben.«

»Vampire können sterben?«

Ian lächelte freundlos. Lyra wandte sich von ihm ab, schaute aus dem Fenster auf die schneebedeckte Landschaft und hätte gern die widersprüchlichen Gefühle ignoriert, die in ihr tobten.

»Vergiss den Holzpfahl, das Silber, Knoblauch und Weihwasser! Vampire sind untot, sie sterben. Wenn sie Blut bekommen, nur sehr langsam. Wenn sie keins bekommen, dann eben schneller. Und noch schneller geht es, wenn man ihr Gehirn zerstört – also ähnlich wie bei Zombies.«

Ruckartig drehte sich Lyra um. »Es gibt Zombies?«

Wieder lächelte Ian, diesmal wirkte er jedoch tatsächlich amüsiert. »Nein, also nicht wirklich. Ich meine, wie du es sicherlich aus Zombie-Geschichten kennst. Bei jedem Individuum, das höherentwickelt ist als eine Amöbe, ist das Nervenzentrum quasi die Schaltzentrale. Ohne Gehirn ist kein Leben möglich, nicht mal in der magischen Welt.«

Die Zombies waren Lyra gerade egal, selbst die absurde Realität interessierte sie in diesem Moment keine Bohne. Ian stand jetzt hinter ihr, nur wenige Zentimeter entfernt. Sie waren allein in diesem Zimmer, neben ihrem Bett, in dem sie so viele Nächte von der großen Liebe geträumt hatte. Sie dachte an ihren Schulschwarm Niklas, an den sinnlichen Faun Daris und all die schönen Momente mit Ian.

»Was ist mit dir und Kenneth? Ich meine ...« Lyra rang nach Worten. Ihr Herz klopfte laut in ihrer Brust, sie konnte kaum atmen, doch sie musste diese Frage jetzt stellen. »Ich meine, bist du ... also ... bist du, ähm ...«

»Ob ich schwul bin?« Ian überwand die letzten Zentimeter, streichelte sanft über Lyras Wange und raunte: »Kätzchen, das wäre das geringere Problem.«

#3 MondZauber: VERBANNUNG

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