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Ruhe vor dem Sturm

»Da seid ihr ja!«

Ihre Mutter hatte Tränen in den Augen und auch Lyra weinte vor Glück. Fünf Monate war es her, dass sie dieses Haus verlassen hatte. Fünf Monate, in denen sich ihre Welt auf rasante Weise veränderte. Und damit war es noch längst nicht vorbei. Ihre Verwandlung und auch die Versuchung in Venedig, dem Schicksal zu entfliehen, waren nur der Beginn einer Zukunft, deren Ausgang niemand kannte.

Damals wollte Lyra nur noch weg aus diesem Kaff, weg von den Hertzbergs und einer Familie, von der sie so viele Jahre belogen worden war. Jetzt kehrte sie heim nach Birkenwerder. Hier in diesem Haus, das mit Mirandas Hilfe zu einem magischen Treffpunkt geworden war, sollten sie nun den Heiligen Abend verbringen. Zwei Tage blieben Lyra, um nach all dem Irrsinn der vergangenen Monate Kraft zu tanken und im Kreis ihrer Liebsten die friedvolle Stimmung des Lichterfestes zu genießen.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Auch wenn Redrubi ihr ein Geheimnis offenbart hatte, das die magische Welt hoffentlich vor einem Krieg bewahren würde, war die Zeit knapp. Alternativen mussten her. Denn Cathán hatte seine Armee untoter Gestaltwandler gezüchtet. Bald würde er kommen, um gegen seinen Bruder zu kämpfen. Gegen ihn, sein Werwolfrudel und letztlich sogar gegen den Rest der magischen Welt. Zwei Tage blieben Lyra in ihrer Heimat, dann würde sie ihr Weg nach Island führen – in eine ungewisse Zukunft.

Einer nach dem anderen betraten sie das Haus. Emily, Ian, Miranda. Lyra erkannte es kaum wieder. Das praktische Interieur war verschwunden, stattdessen wirkten Wohn- und Essbereich gemütlich. Der Duft von Holz empfing sie, von Weihrauch und Tannengrün. Unzählige Kerzen brannten. Der Küchentresen, an dem Lyra einst mit ihrem vermeintlichen Vater Malthe gestritten hatte, war gedeckt mit allerlei Köstlichkeiten.

»Es ist doch erst der 23. Dezember, heute ist noch gar nicht Weihnachten«, stellte Lyra fest und schaute sich neugierig um.

»Ja und nein«, erwiderte ihre Mutter und nahm sie ein weiteres Mal fest in den Arm. »Mein Mädchen, Weihnachten hat nichts mit unseren Traditionen zu tun. Wir sind zwei Tage zu spät, trotzdem wollen wir heute die Nacht der Wintersonnenwende feiern. Mit ihr beginnen die Raunächte, die Sonne wird wiedergeboren, wir feiern das Licht, das Leben und gedenken unserer Ahnen.«

Verwirrt löste sich Lyra aus Miriams Umarmung und fragte spöttisch: »Was hast du mit meiner Mutter gemacht?«

»Eine berechtigte Frage, Kätzchen«, mischte sich Lyras Tante Miranda in das Gespräch. »Deine Mutter wird allmählich wieder zu der Hexe, die sie einmal war. Eine Bewahrerin der Traditionen, nicht die stocksteife Bitch mit dem Strebervorgarten.«

Miriam lachte. Eine Gefühlsregung, die Lyra von ihrer Mutter kaum kannte. Miriam Hertzberg war eine ausgezeichnete Ärztin, eine Frau, die im Leben stand. Der Umstand, dass sie eine Hexe wie ihre Schwester Miranda war, kam Lyra seltsam vor. Aber mit diesem Attribut hatte sie sich mittlerweile angefreundet. Was blieb ihr auch anderes übrig?

»Nun zieht endlich eure Jacken aus und lasst uns essen!«, forderte Miriam sie auf und lief geschäftig in die offene Küche. Sie konnte eben doch nicht aus ihrer Haut. Lyra hängte ihre Jacke an einen Haken im Flur. Ein vertrautes Gefühl, das ihr Herz wärmte. Nach all dem Wahnsinn der vergangenen Monate und dem, was ihnen noch bevorstand, genoss sie es, heimgekommen zu sein. Lächelnd folgte sie den anderen, nahm sich einen Teller und stapelte hungrig selbstgebackene Plätzchen, einen Bratapfel sowie zwei Schreiben rohes Rindfleisch darauf.

Ihre Mutter bedachte sie mit einem liebevollen Blick. »Ich dachte, dir und Ian ist die Rohkost lieber.«

Lyra grinste und setzte sich. Sie erinnerte sich daran, wie sie vor nicht mal einem Jahr das erste rohe Fleisch gegessen und genossen hatte. Damals war ihre Mutter alles andere als begeistert gewesen, genau wie Regina.

»Wie geht es Großmutter?«, fragte Lyra und schnitt das Rindfleisch in Häppchen. Am liebsten hätte sie es weniger kultiviert verschlungen, aber sie war nicht mehr allein in ihrer kleinen Wohnung in Venedig.

»Bitte?« Emily war während des Rückflugs nach Brandenburg recht still gewesen, auch auf der Fahrt hierher, aber jetzt platzte es förmlich aus ihr heraus. »Deine sogenannte Großmutter hat dich in die Klapsmühle einweisen lassen, dich wie ein Monster behandelt und du fragst, wie es ihr geht?«

Lyra schaute kauend in die Gesichter der Anwesenden. Miranda drehte sich gerade die rote Lockenmähne zu einem Dutt, Miriam wischte verlegen mit einer Serviette über ihre Mundwinkel und Ian ... Nein, ihn konnte Lyra nicht ansehen. Sie hatte noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt, zu sehr fürchtete sie sich davor, ein weiteres Mal von ihm abgewiesen zu werden. Er war schwul, konnte sie nicht lieben, auch wenn Emily etwas anderes gesagt hatte. Ihre Freundin starrte sie immer noch fassungslos an. Lyra dachte über das nach, was sie gesagt hatte, und zuckte schließlich mit den Schultern.

»Regina ist eine blöde Kuh, natürlich. Und auch wenn sie nicht meine leibliche Großmutter ist, bleibt sie doch zumindest ein Teil meiner Vergangenheit.« Lyra stopfte sich ein Stück Fleisch in den Mund und erinnerte sich an all die Sticheleien ihrer Großmutter. Als Kind hatte Lyra nicht verstanden, weshalb sie es dieser Frau nie rechtmachen konnte. Heute wusste sie, warum Regina Hertzberg so abweisend gewesen war. »Also, wie geht es ihr? Ist sie jetzt glücklich, keine missratene Enkelin mehr zu haben? Oder bin ich es offiziell immer noch, um des guten Rufs der Familie Hertzberg wegen?«

»Lyra, deine Großmutter wusste es von Anfang an. Wir sprachen nie darüber, aber Regina konnte eins und eins zusammenzählen«, erklärte Miriam und goss Glühwein in die bereitgestellten Tassen. »Als ich seinerzeit aus Island zurückkehrte, auf eine Heirat mit Malthe drängte und nur acht Monate später dich zur Welt brachte, mein Schatz, wurde ihr klar, was Sache war. Sie ist eine garstige Frau, aber ich werde ihr auf ewig dankbar sein, dass sie mich und dich in ihre Familie ließ.«

In Miriams Worten war so viel Wärme. Lyra wurde bewusst, dass sie ihre Mutter immer falsch verstanden hatte. All das, was sie als ungerecht empfunden hatte, war letztlich zu ihrem Schutz gewesen. Vielleicht mussten Kinder erst erwachsen werden, um ihre Eltern zu verstehen.

»Ihr seid jetzt geschiedene Leute«, warf Miranda in die Stille. »Lyra, du wirst bald deinen richtigen Vater kennenlernen, deine wahre Familie. Natürlich sind ... waren ... die Hertzbergs ein Teil von dir und deiner Vergangenheit, doch diese liegt nun hinter dir. Glaube mir, es ist besser für dich, wenn du damit abschließt.«

»Warum?«, fragte Lyra. Sie kannte ihre Tante mittlerweile ein bisschen und wusste, dass ihre coole Art nur eine Oberflächlichkeit war, eine Art Schutzschild, wenn man so wollte. Im Grunde ihres Herzens war Miranda eine weise Frau, deren Gedanken und Gefühle weit tiefer gingen als ihre spitzen Kommentare.

»Weil sie mit dir abgeschlossen hat, Kätzchen«, brachte Miranda es auf den Punkt. So war ihre Tante eben, sie empfand jede Menge Empathie, nur fehlte ihr diese bisweilen in der Kommunikation. Lyra schluckte, obwohl sie letztlich genau das wusste. Regina Hertzberg hatte sie als Missgeburt all die Jahre maximal toleriert und war jetzt wahrscheinlich froh darüber, diese Bürde nicht länger tragen zu müssen. Deshalb gab Lyra ihrer Tante im Stillen recht, auch wenn es wehtat.

»Lasst uns anstoßen auf all das, was war, und all das, was noch kommt!«, gab Ian von sich und hielt seine Glühweintasse hoch. Lyra hatte Mühe, ihm in die Augen zu sehen. Diese wunderschönen Augen eines Wolfes, eines Fressfeindes, eines Mannes, der ihr ungewollt das Herz brach. Ihre Blicke trafen sich, das vertraute Kribbeln war wieder da. Lyra erhob nun ebenfalls ihre Tasse, stieß mit den anderen an und hoffte, ihre Trauer um die nicht-gelebte Liebe herunterspülen zu können.

»Und jetzt lasst uns endlich nach draußen gehen und das Jul-Feuer entzünden! Wir sind nicht hier, um Trübsal zu blasen, sondern verdammt noch mal zu feiern!« Verblüfft schaute Lyra zu ihrer Mutter. Sie hatte das gerade gesagt, nicht ihre Schwester Miranda. Diese grinste zufrieden und war bereits dabei, ihre Jacke wieder anzuziehen. »Schwesterchen, ich bin sehr glücklich, dich endlich wiederzuhaben. Also Schluss mit dem Katzenjammer, jetzt feiern wir das Leben! Wer weiß, wie lange wir noch können.«

Mirandas letzter Satz trübte ein weiteres Mal die Freude, wieder daheim zu sein. Aber sie hatte recht. Schon in zwei Tagen mussten sie in eine ungewisse Zukunft aufbrechen, also hatten sie allen Grund, das Leben zu feiern. Lyra aß den letzten Bissen Fleisch, schnappte sich eine Handvoll Kekse sowie ihre Jacke und folgte den anderen in den Garten. Sie würde die Ruhe vor dem Sturm genießen, denn niemand wusste, was das Schicksal für sie bereithielt.

#3 MondZauber: VERBANNUNG

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