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Kalte Dusche

Die Nacht war kurz, an Schlaf war kaum zu denken gewesen. Lyra hatte sie allein in ihrem Bett und mit einer Mischung aus Nostalgie und Wut verbracht. Zu viele Erinnerungen, zu viele Fragen, zu viel Ian.

Er hatte sie mit diesem kryptischen Satz, dass die Homosexualität sein geringeres Problem wäre, einfach stehengelassen und war zurück zu den anderen ins Wohnzimmer gegangen. Wütend war Lyra ihm nachgelaufen, doch die Anwesenheit ihrer Mutter und ihrer Tante hatten es ihr unmöglich gemacht, sich Gewissheit zu verschaffen. Irgendwann war sie ins Bett gegangen, allein und mit dem faden Beigeschmack der Zurückweisung.

Eigentlich hatte Ian sie nicht zurückgewiesen, jedenfalls nicht direkt. Andererseits hatten seine Worte ihr alles andere als Antworten gebracht. War er nun schwul oder nicht?

Auf dem Weg hinunter in die Küche dachte Lyra daran, Emily anzurufen und zu fragen, wie sie darauf kam, dass Ian nicht schwul war. Irgendetwas musste sie doch zu dieser Aussage veranlasst haben. Aber ihre Freundin hatte gerade wahrlich anderes zu tun, als mit Lyra über Ian zu quatschen. Ihr Vater war gestorben, ihre Mutter ein psychisches Wrack und ihr kleiner Bruder drehte komplett am Rad. Nein, sie würde Emily nicht anrufen, das musste warten.

Mürrisch hantierte sie an der Kaffeemaschine, die zum Glück noch die alte war. Während die Bohnen gemahlen wurden und ihren unvergleichlichen Duft verströmten, suchte sie im Kühlschrank nach Milch und etwas Essbarem. Der Hunger trieb Lyra an wie an jedem Morgen. Es würde bestimmt noch eine Weile dauern, bis sie mit Miranda und ihrer Mutter gemeinsam frühstücken konnte. Die beiden schliefen wahrscheinlich noch.

»Guten Morgen, Kätzchen!«

Ruckartig drehte sich Lyra um und starrte in graue Augen. Was macht Ian hier?, fragte sie sich und spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte, als der junge Wolf nur mit T-Shirt und Boxershorts bekleidet eine Kaffeetasse aus dem Küchenschrank holte, als wäre es das Normalste der Welt. Lyra erwischte sich dabei, wie sie auf seinen knackigen Hintern glotzte, dann auf seinen Rücken, der ein formvollendetes V darstellte. Die trainierten Muskeln seiner Oberarme waren ebenfalls eine Augenweide, dass Lyra sich mit sämtlichen Sinnen – den tierischen, magischen und menschlichen – darauf konzentrieren musste, ihm nicht direkt die wenigen Klamotten vom Körper zu reißen. Sie kam sich vor wie ein sabbernder Volltrottel, während sie Ian mit offenem Mund anstarrte. Er streckte sich und gähnte herzhaft, dann reichte er ihr lächelnd die dampfende Tasse und stellte eine leere unter den Auslauf der Kaffeemaschine. Während das Mahlwerk ein weiteres Mal lautstark seinen Dienst tat, kam Lyra endlich wieder zur Besinnung und schloss die Kühlschranktür. Mit zitternder Hand goss sie Milch in ihre Tasse und räusperte sich. »Willst du auch?«, fragte sie mit belegter Stimme.

»Danke, nein. Aber Zucker hätte ich gern.«

Umständlich schlängelte sich Lyra an ihm vorbei und hielt den Atem an, als sie dicht neben Ian die Zuckerdose aus dem Schrank holte. Er roch so gut. Nach Mann, nach Tier, nach Bett.

Was, wenn ich ihn jetzt einfach küsse?, schoss es ihr durch den Kopf. Aber irgendetwas hielt sie davon ab, eine innere Stimme, die ihr sagte, dass ER sie küssen musste oder gar nicht.

Oder gar nicht. Scheiße!

»Kommst du nachher mit?«

»Wohin?«, fragte sie, wandte sich ab und steckte ihre Nase in die Tasse. Der Geruch von Kaffee wirkte neutralisierend, das hatte sie mal irgendwo gelesen. Vielleicht half er auch gegen diesen alles einnehmenden Ian-Duft.

»In unser Haus. Ich muss im Auftrag des Rudels nach dem Rechten sehen, ein bisschen Staub wischen, die Wasserrohre checken.«

»Hm«, erwiderte Lyra, die kaum wusste, wie sie die nächsten zwei Sekunden in seiner Nähe überstehen sollte. »Warum hast du nicht dort übernachtet?«, fragte sie, um irgendetwas halbwegs Intelligentes zu sagen.

»Wieso fragst du, bin ich hier nicht willkommen?«

Verdammt, was sollte das nun schon wieder bedeuten? Natürlich war Ian willkommen, Lyra hatte sogar den Eindruck, dass ihre Mutter ihn mochte. Miranda sowieso. Aber ...

»Ich hatte gestern Nacht noch ein langes Gespräch mit deiner Tante und deiner Mutter. Sie baten mich, hierzubleiben, damit ...«

»Was?«, fiel Lyra ihm ins Wort. Die Leidenschaft war vergessen. Was zum Henker hatten die beiden mit Ian zu bereden? Ohne sie!

»Ich denke, es gibt keine Geheimnisse mehr!«, stellte sie trotzig fest. Es war keine Frage. »Was musstet ihr denn so Dringendes ohne mich bereden?«, fügte sie zähneknirschend hinzu. »Ich bin kein kleines Kind mehr, verdammt!«

»Nein, das bist du weiß Gott nicht.« Ian schenkte ihr ein sanftes Lächeln, dann wurde seine Miene ernst. »Deine Mutter und auch Miranda machen sich Sorgen um dich. Nach der Sache mit Ceara in Venedig ...«

»Da konnte ich ganz gut allein auf mich aufpassen«, unterbrach Lyra ihn erneut. »Außerdem wollte Redrubi mir nichts tun und sie hat sich bis zum 16. März verabschiedet. Es gibt also überhaupt keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«

»Aber sie ist die Tochter der Geisterkönigin, ein wahrlich unberechenbares Wesen, das ...«

»Ach, hör doch auf! Ihr redet hinter meinem Rücken, als wäre ich fünf oder so. Das ist ein Riesenhaufen Scheiße, Ian!«

Er nickte und rührte Zucker in seinen Kaffee. Lyra knallte ihre Tasse auf den Küchentresen und stiefelte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Mit ihrer Zahnbürste stürmte sie ins Bad und knallte die Tür zu. Bei all der Veränderung war doch eines gleich geblieben: In diesem Haus fühlte sie sich bevormundet, was auch immer das Schicksal für sie bereithielt, hier würde sie wohl immer ein kleines Mädchen bleiben.

Als Lyra die Dusche anstellte, steckte Miranda ihren roten Lockenschopf ins Badezimmer. »Na, Kätzchen, mit der falschen Pfote aufgestanden?«

»Ach, leck mich!«, rief Lyra, trat unter den eiskalten Wasserstrahl und hoffte, so ihr erhitztes Gemüt herunterkühlen zu können. Miranda ließ sich von ihrem Wutausbruch keineswegs beirren. Sie drehte ihre Locken zu einem Zopf, zog ihr Höschen nach unten und setzte sich auf das Toilettenbecken. Als sie fertig war, schlüpfte sie aus ihrem Nachthemdchen und folgte Lyra unter die Dusche.

»Sag mal, bist du irre?« Kopfschüttelnd drehte Miranda den Hahn in den roten Bereich und seufzte, als das Wasser wärmer wurde. »Ich verstehe ja, dass dich dieser irische Wolf da unten in Wallung bringt, aber das ist noch längst kein Grund, deinen Körper tiefzukühlen.«

Tränen schossen in Lyras Augen. All der Frust, der sich in Venedig aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Schluchzend seifte sie sich ein, sagte aber kein Wort.

»Kätzchen, es gibt so viele heiße Kerle. Warum ausgerechnet er?«

Weinend klammerte sich Lyra an ihre Tante. »Ich kann doch nichts dafür. Meinst du, ich mache das mit Absicht?«

Miranda griff zur Shampoo-Flasche und wusch ihrer Nichte die Haare. »Nein, Kätzchen. Und ich weiß, es ist schwer für dich, aber ...«

»Was stimmt denn nicht mit mir? Warum kann ich denn bei all dem Scheiß nicht auch ein bisschen Glück haben?« Lyras Tränen mischten sich mit dem Wasser, das sie fortspülte. »In Venedig habe ich versucht, ihn zu vergessen«, schluchzte sie und schniefte.

»Ich weiß, Kätzchen. Das war auch der Grund, warum ich Daris gebeten habe ...«

»Ja, Scheiße! Das ist auch so ein Mist, den du dir zukünftig stecken kannst. Ich bin erwachsen, ich soll die verfickte Welt retten, also werde ich auch allein entscheiden, wen ich in mein Herz oder mein Bett lasse. Kapiert?«

Als Lyra nichts von ihrer Tante hörte, drehte sie sich um und schaute ihr wütend ins Gesicht. »Hast du das verstanden, Miranda?«

Ihre Tante nickte und stieg hektisch aus der Dusche. »Kätzchen, deine Augen sind gelb. Du wirst mich jetzt nicht fressen, oder?«

»Ach, leck mich!«, fluchte Lyra ein weiteres Mal und drehte das Wasser wieder kalt. Sie hörte, wie Miranda sich die Zähne putzte und das Bad verließ. Erst dann drehte sie den Hahn zu und trocknete sich ab.

Nachdem sie geschlagene fünf Minuten ihre Zähne geschrubbt hatte, stampfte Lyra immer noch wütend zurück in ihr Zimmer. Dort zog sie sich Unterwäsche, Socken und ihre Jeans über und wühlte in ihrem Kleiderschrank auf der Suche nach einem dicken Pullover. Sie war im Juli von hier fortgelaufen, den Herbst über in Venedig gewesen und hatte keine warmen Klamotten außer jene von früher, die auch Emily mittlerweile zu groß waren.

Passend zu ihrer Stimmung entschied sich Lyra für eines ihrer pechschwarzen Langarmshirts und einen Cupcake-Hoodie in der gleichen Farbe mit Voodoo Chu Pikachu auf der Vorderseite. Beides schlabberte, weshalb sie das Shirt in die enge Jeans steckte und die Ärmel des Hoodies bis zu den Ellenbogen hochschob. Die noch feuchten Haare band sie zu einem Knoten und blieb dann unschlüssig vor dem Standspiegel stehen. Wenn sie später mit Ian ins Haus der Wölfe ging, könnten ein wenig Parfüm und Mascara nicht schaden, oder?

Seufzend holte sie ihre Kosmetiktasche hervor und schminkte sich die Wimpern. Hoffnung war doch alles, was ihr blieb.

#3 MondZauber: VERBANNUNG

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