Читать книгу #3 MondZauber: VERBANNUNG - Mari März - Страница 14
ОглавлениеDer letzte Tanz
Ian hatte Miranda und Miriam vor deren Haus abgesetzt, ihnen mit spitzen Fingern Jennys Medaillon ausgehändigt und war mit Lyra weitergefahren zum Haus der Wölfe. Hier hatte sie sich im Sommer mit Emily für den Abschlussball zurechtgemacht. Nach ihrer Flucht aus der Nervenklinik und einem Leben, das ihr unfassbar weit weg vorkam. Und damals war ihrem Besuch in diesem Haus ebenfalls ein Abschied gefolgt. Wieder musste Lyra ihre liebste Freundin seit Kindertagen verlassen ... und ihre Heimat.
»Was bedeutet Heimat für dich?«, fragte Lyra, als sie aus dem Auto stiegen. Ian griff unter die Treppe, die zur Haustür führte, holte einen Schlüssel hervor und drehte ihn nachdenklich in der Hand. Es verstrichen ein paar Sekunden, dann blickte er auf. »Ich zeige es dir.« Er zog Lyra mit sich und schloss die Haustür auf.
Der eigentümliche Geruch von Stille und Zeit strömte ihnen entgegen. Ian steckte den Schlüssel in die Hosentasche, machte Licht und schloss die Tür.
»Das hier ist Heimat.«
Lyra stutzte. »Dieses Haus steht überwiegend leer und ist meilenweit von deinem Zuhause entfernt.«
Ian schüttelte den Kopf. »Du kennst sicherlich den Spruch: Heimat ist dort, wo dein Herz wohnt. Oder?«
Nur mit Mühe konnte sich Lyra eine bissige Antwort verkneifen, für solche kitschigen Sprüche hatte sie nie viel übriggehabt. Außerdem dachte sie an den alten und den jungen Cathán – beide waren verbannt worden, beide hatten kein Herz, das irgendwo wohnen konnte.
Doch Ian ließ nicht locker. Er führte sie durch den Eingangsbereich, vorbei an alten Gemälden, auf denen Männer, Frauen und Kinder zu sehen waren. Lyra fragte sich, ob es sich dabei um Angehörige des Clans der McTires handelte und weshalb die Gemälde gerade hier in Deutschland hingen. Stumm folgte sie Ian ins Wohnzimmer, wo er vor einem antiken Kamin stehenblieb, wie ihn Lyra lediglich aus Filmen kannte. Dieses Haus war in der Tat sehr alt, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ians Familie jemals hier gelebt hatte. Warum sollte sie auch? Irland war doch so viel schöner.
»Wahrscheinlich wunderst du dich, weshalb die McTires gerade hier, am nördlichen Berliner Stadtrand, ein Haus besitzen.« Er hielt inne und beobachtete Lyra, die wortlos nickte.
»Zwischen 1845 und 1849 kam es in Irland zu Unruhen«, fuhr Ian fort. »Viele Menschen starben oder wanderten aus. Während und unmittelbar nach der großen Hungersnot, die durch einen kleinen Kartoffelpilz entstand, starben mehr als eine Million Iren, über sechs Millionen verließen in den kommenden sechzig Jahren ihre Heimat. Niemand wusste damals so recht, wie es weitergehen sollte. In halb Europa wütete die Revolution. Mein Großvater war seinerzeit der Alpha, er pflegte eine lange Freundschaft mit einem Rudel hier in Brandenburg. Damals zogen sich unsere Familien zurück, die Menschen machten Jagd auf die Wölfe und rotteten sie nahezu aus.«
Ian schaute über den Kamin, wo ein riesiges Ölgemälde hing, das eine Familie zeigte, die ihrem Aussehen und ihrer Kleidung nach eher preußisch wirkte. »Dieses Haus hier gehörte einst dem Clan der Wolfarts. Um ihre Auswanderung nach Amerika zu finanzieren, verkaufte Adam Wolfart es damals an meinen Großvater, der wiederum hier eine gute Möglichkeit sah, Teile unseres Familienbesitzes in Sicherheit zu bringen. Seit dem Act of Union im Jahre 1801 stand Irland unter dem Protektorat des nunmehr Vereinigten Königreiches. Die Engländer herrschten über unser Land und nahmen sich alles, was sie gebrauchen konnten. Deshalb wurde dieser alte Kasten hier unser Exil.«
Liebevoll strich Ian über den Kaminsims und strahlte dabei eine Melancholie aus, die Lyra nicht nur spüren konnte, sondern verinnerlichte. Am liebsten hätte sie Ian jetzt umarmt, der so viele Geheimnisse in sich barg.
»Als die Nazis Deutschland regierten und auch später, als die Russen kamen, half deine Familie uns, dieses Haus mit Schutzzaubern vor den Augen der Menschen zu verbergen.«
Lyra blickte auf. Ian lächelte.
»Ja, die Hexen waren schon immer unsere Verbündeten gewesen. Deine Ahnen sorgten dafür, dass die Wölfe in diesem Teil Europas überlebten. Auch wenn wir nicht verwandt sind, gehören wir doch alle zu einer großen magischen Familie.«
Mit zwei Schritten war Ian bei ihr und nahm Lyra in den Arm. »Egal, wo du bist, deine Heimat kann überall sein. Nicht nur du musstest fliehen, meine Schöne, sondern viele von uns. Wir alle gehören zusammen und sind Teil eines globalen Schicksals.«
Es fühlte sich so gut an, in seinen Armen zu sein, Ians Wärme zu spüren, seinen klugen Worten zu lauschen.
»Aber warum ...?«, begann Lyra. Sie wollte fragen, weshalb er sie dann nicht so lieben konnte, wie sie ihn, doch wieder war da etwas in ihr, das sie zurückhielt. Sie brachte es einfach nicht über sich, diese Frage zu stellen. Doch Ian wusste auch so, was sie bedrückte.
»Aber auch wenn wir McTires schon immer für den Zusammenhalt des magischen Volkes eintraten, ist unser Clan streng konservativ. Wir brechen nicht mit Traditionen, wir glauben an das Althergebrachte, und die Reinhaltung des Blutes gehört zu den ehernen Regeln, genau wie die Verbannung.«
Da war nun also jene Antwort, die Lyra nicht hören wollte, die sämtliche Hoffnungen zerstörte, mit Ian zusammen zu sein. Miranda hatte es ihr bereits gesagt, niemals würde der Alpha einer Verbindung zwischen seinem Sohn und einer Hybridin zustimmen, die noch dazu eine Katze war. Der Vater würde seinen eigenen Sohn verbannen, nur um die Regeln einzuhalten und nicht mit alten Traditionen zu brechen. Harten Traditionen, die in all den Jahrhunderten wahrscheinlich nötig waren, um das magische Volk und den Clan der McTires zu schützen. Anders ergab es keinen Sinn. Andererseits waren ebenjene strengen Regeln dafür verantwortlich, dass der einstige Cathán als verbannter und einsamer Wolf auf Redrubi traf und damit ihr aller Schicksal besiegelte. Denn ohne den Urvampir wäre es dem jungen Cathán niemals möglich, eine Zombie-Armee zu erschaffen. Und Ian wäre wahrscheinlich nie nach Deutschland gekommen, weil die Prophezeiung damit nichtig gewesen wäre, nur irgendeine Geschichte wie die vom Rotkäppchen. Vielleicht wäre Lyra auch nie als Hybrid geboren worden, wer wusste das schon ...
»Deshalb wäre es also dein geringeres Problem, schwul zu sein«, flüsterte Lyra und schmiegte sich an Ians Schulter. »Dein Vater würde ausflippen, Homosexualität in seinem Clan nicht dulden, aber zumindest wäre die Reinheit des Blutes gewahrt. Richtig?«
Sie spürte, wie Ian nickte.
»Richtig. Die Vermischung des magischen Blutes wäre für ihn weitaus schlimmer als die Liebe zwischen zwei Männern oder vielmehr ...« Ian seufzte, es fiel ihm nicht leicht, darüber zu sprechen. »Kenneth und ich sind seit Kindertagen befreundet, ähnlich wie du und Emily. Als wir Teenager waren, wurde aus Freundschaft mehr. Bei Kenneth, nicht bei mir. Als ich aus dem Internat zurückkam, gestand er mir seine Liebe. Ich war völlig überfordert, wollte ihn jedoch nicht verlieren. Uns verbindet so viel, ich müsste ihn kompromisslos zurückweisen, aber es fällt mir so verdammt schwer.«
Lyra lief es kalt den Rücken runter, was nicht nur daran lag, dass die konservativen Ansichten von Ians Vater sie an ihre kaltherzige Großmutter Regina erinnerte. Sie schaute an Ian vorbei auf den Kamin und schnippte mit dem Finger. Das ordentlich aufgeschichtete Holz brannte jetzt und füllte den Raum mit Behaglichkeit. Lyra drehte sich und entzündete die umstehenden Kerzen. Ihr Herz verkrampfte sich, doch aufzugeben war keine Option. Sie wollte endlich Gewissheit und sie wollte mit Ian zusammen sein – egal, wie hoch der Preis dafür war. Mit einem Mal verstand Lyra den jungen Wolf, der mit diesen ehernen Prinzipien aufgewachsen war, und sie begriff, in welchem Zwiespalt Ian steckte.
»Dieses Haus ist wunderschön, aber es wohnt kein Leben in ihm. Seine Mauern bergen Jahrhunderte Geschichte, wahren Traditionen und doch ist keine Liebe darin. Es ist eine Heimat, ja. Aber sie ist tot.«
Aufmerksam schaute Lyra zu Ian, hoffte auf eine Reaktion, aber er senkte nur traurig den Blick. Sie schritt durch das Zimmer und fand vor einem der hohen Fenster ein altes Grammophon, auf dem eine Schellackplatte lag. Sie pustete den Staub fort und las auf dem kleinen runden Aufkleber in der Mitte Clair de Lune. Viele kannten den dritten Satz aus der Suite Bergamasque von Claude Debussy lediglich aus den Twilight-Verfilmungen und glaubten, dabei handele es sich um einen modernen Soundtrack, dabei stammte er aus dem Jahre 1890.
Der fast volle Mond warf sein fahles Licht durch die Fenster der Wolfsvilla und wie von selbst setzte sich die Grammophonnadel in Bewegung. Die ersten Klaviertöne erklangen und Lyra erfüllte plötzlich eine Zufriedenheit, die sie niemals zuvor gespürt hatte.
»Tanz mit mir«, sagte sie. Es war keine Frage, keine Bitte, sondern ein Wunsch, von dem sie wusste, dass Ian ihr diesen niemals abschlagen könnte. Lyra spürte plötzlich die Gewissheit, dass er sie liebte wie sie ihn.
»Ich glaube daran, dass es möglich ist, Traditionen zu bewahren und dennoch mit der Zeit zu gehen. Leben bedeutet Fortschritt«, flüsterte Lyra und lehnte sich an Ians starken Körper. Er zog sie erneut in seine Arme und begann, mit ihr zu tanzen.
»Wir könnten hier im Exil leben, uns lieben, die Freiheit genießen«, schlug Lyra mutig vor.
»Das wäre schön«, brummte Ian und wiegte ihre beiden Körper zum Takt der Musik. Seine Hände strichen über Lyras Rücken, verharrten in ihrem Haar, das sie offen trug, und fanden den Weg zu ihren Wangen. Seine Finger lagen heiß auf ihrer Haut, als er innehielt und sie ansah.
»Aber ich bin Teil eines Rudels. Das Leben in der Verbannung würde meinen Tod bedeuten. Es geht nicht nur um Konventionen, sondern um das, was wir sind. Katzen können allein leben, sie sind naturgemäß Einzelgänger, aber wir Wölfe brauchen die Gemeinschaft, sie ist Teil unserer Genetik.«
Lyra schluckte schwer. Sie wusste, dass ihr Traum von einem Leben und ihrer Liebe in diesem Haus eine reine Illusion war, und doch hielt sie daran fest.
»Und wenn wir nur für diese Nacht so tun, als wäre die Welt da draußen nicht existent? Niemand ist hier, der uns sehen und daran hindern kann. Dieses kollektive Wolfsdingens reicht wohl kaum von Irland bis hierher, oder? Was wäre, wenn wir frei entscheiden könnten, würdest du mich dann ...?«
Weiter kam sie nicht. Ians Lippen verschlossen ihren Mund. Die Welt schien stillzustehen, als er sie küsste. Ein Sturm der Hoffnung wütete in Lyra, der ihr die Gewissheit gab, dass alles möglich war, solange Ian sie liebte.