Читать книгу #2 MondZauber: VERSUCHUNG - Mari März - Страница 15
Hoffnung
ОглавлениеSie rannte. Aus dem Dorf. Die Straße entlang. Wo zum Teufel war der Wald? Warum gab es auf dieser beschissenen Insel so viele grüne Wiesen und so verdammt wenig Bäume? Der Luchs würde jede Sekunde aus ihr herausbrechen, das spürte Lyra so deutlich, als hätte sie sich schon tausend Mal verwandelt. Deshalb beschleunigte sie ihre Schritte und versuchte, sich daran zu erinnern, in welcher Richtung die Höhle der Beanna zu finden war. Eine Krähe flog über ihr und stieß einen lauten Schrei aus.
Endlich sah Lyra den riesigen Apfelbaum. Als sie die reifen Früchte in dessen Krone erkennen konnte, brach der Luchs aus ihr hervor. In seinem Schatten lagen eine zerrissene Shorts und das T-Shirt, welches sich Lyra im Laufen noch abstreifen konnte, bevor sie sprang. Einen Wimpernschlag später saß sie auf einem dicken Ast etwa drei Meter über der Wiese, die sich wie ein grünes Meer unter dem Apfelbaum ausbreitete. In Sicherheit!, zuckte es durch ihren Geist. Die Krähe ließ sich neben ihr nieder. Wortlos erkannte der Luchs, was die Beanna dachte: Gut gemacht! Es besteht Hoffnung.
Das Herz der Katze schlug nun regelmäßig. Die gelben Augen erkundeten scheinwerfergleich die nähere Umgebung. Der Luchs witterte keine Gefahr. Also ließ er sich auf dem Ast nieder und schlief ein.
* * *
Als Lyra erwachte, hatte die Sonne ihren Zenit längst erreicht. Es musste bereits Nachmittag sein. Sie hatte offensichtlich mehrere Stunden auf diesem Ast geschlafen und fühlte sich so ausgeruht wie lange nicht. Der Wechsel der Gestalt hatte in jedem Fall etwas Positives: Als Tier musste sie nicht denken wie ein Mensch. Angst, Wut, Prophezeiungen … all das konnte sie im Körper eines Luchses komplett ausblenden. Das war großartig, änderte jedoch nichts an ihrem Problem. Die Eindrücke des Morgens strömten nun wieder auf sie ein. Und noch etwas anderes machte ihr Sorgen: Wie zum Henker komme ich von diesem Ast runter?
Dann erinnerte sie sich daran, wie sie vor einigen Wochen direkt zum Fenster ihres Zimmers hinaufgesprungen war. Was in die eine Richtung funktioniert, sollte doch bestimmt auch …
Federleicht wie eine Katze landete sie auf ihren Füßen. Dann sah sie die zerrissene Shorts unter dem Apfelbaum und zog sich das T-Shirt über. Zumindest das war heil geblieben. Und es war zum Glück so großzügig geschnitten, dass es ihr zumindest bis über den Hintern reichte. An diesem Klamottendingens musste sie dringend arbeiten, wenn sie nicht permanent halb nackt durch die Gegend marschieren wollte. Wenigstens das stimmte mit den zahlreichen Fantasy-Büchern überein, die sie noch vor Kurzem so sehnsüchtig verschlungen hatte.
Grinsend marschierte Lyra zurück ins Dorf. Sie musste unbedingt mit Miranda sprechen und fragen, was sie von diesem Prophezeiungsmist hielt. Lösungen waren jetzt gefragt. Heulen konnte sie dann immer noch. Und vielleicht war alles auch gar nicht so dramatisch, wie es die Druidin dargestellt hatte. Die Alte hatte vielleicht auch einfach nicht alle Nadeln an der Tanne.
»Hallo! Alles gut?« Eigentlich hatte Lyra vorgehabt, direkt zum Gästehaus zu gehen, in dem sie und Miranda untergebracht waren. Nun stand dieser wunderschöne junge Mann vor ihr. Ian. Wie lange war es her, dass sie ihr Serienidol von Vampire Diaries auf der übergroßen Mattscheibe in ihrem Elternhaus angeschmachtet hatte? Alles Bullshit! Ian Somerhalder war immer noch so weit entfernt wie die Sonne vom Mond. Und ihr Elternhaus mittlerweile auch. Dafür kam Ian ihr jetzt immer näher. Real und schön. Wo Schatten war, gab es eben auch Licht.
»Du siehst ja schon wieder aus wie ein gerupftes Huhn. Zum Glück hast du genügend Zeit, in den nächsten Wochen die Verwandlung zu perfektionieren. Ich habe gehört, du bleibst uns noch eine Weile erhalten?«
Die Gerüchteküche funktionierte scheinbar überall auf der Welt gleich. Es war egal, ob in einer Kleinstadt in Brandenburg oder eben in einem wölfischen Village in Irland. Informationen verbreiteten sich in Windeseile. Die Frage war nur: Wie viel wusste Ian tatsächlich? Hatte der Alpha ihm alles erzählt? Auch das von der dunklen Seite?
»Was hat dein Vater gesagt?«, fragte sie deshalb ganz unverblümt.
»Hast du Hunger?« Das war nicht unbedingt die Antwort auf ihre Frage, allerdings begann just in diesem Augenblick ihr Magen laut zu knurren. Ian nickte anerkennend und lächelte sein wunderschönes Ian-Lächeln. Peinlich berührt stellte Lyra fest, dass sie keine Hose trug. Nervös zupfte sie am Saum ihres Shirts und überspielte ihre Unsicherheit mit einer gewissen Stringenz in ihrer Stimme, als sie ihre Frage wiederholte: »Was hat dein Vater gesagt?«
»Ich mache dir einen Vorschlag. Lass uns zum Strand gehen, dort wird dein Hunger gestillt werden. Sowohl der in deinem Magen als auch der in deinem Kopf. Einverstanden?«
Lyra dachte an ihr Vorhaben, Miranda nach ihrer Meinung über die Prophezeiung zu fragen. Aber das konnte sie auch noch später tun. Das Kribbeln in ihrem Bauch überzeugte Lyra, als Ian ihre Hand nahm.
* * *
Nachdem sie die grünen Weiten und eine störrische Kuhherde hinter sich gelassen hatten, lag das Meer vor ihnen. Nur ein mildes Lüftchen wehte, sodass die Wellen seicht ans Ufer plätscherten. Auch wenn hier im Süden Irlands nicht viel von den Gezeiten zu spüren war, hatte es für Lyra dennoch den Anschein, als würde der Ozean gerade eine Pause einlegen und sich während der Ebbe ausruhen. Es war traumhaft. Die Sonne tauchte die spärlichen Wolken am Himmel bereits in ein dezentes Orange. Kein Wunder, dass sie Hunger hatte. Ihre letzte Mahlzeit war ein Hase gewesen. Heute Nacht würde sie sich an einem Reh versuchen. Hoffentlich gab es hier überhaupt Wild in dieser Größe.
Für den menschlichen Appetit hatte Ian am Strand etwas vorbereitet. Lyra staunte nicht schlecht, als sie einen Picknickkorb und die passende Decke entdeckte. Hungrig vergaß sie ihre gute Erziehung und klappte den Deckel beiseite. Der Geruch von gebratenem Geflügel stieg ihr in die Nase.
»Mmh, lecker!«
Ohne weitere Förmlichkeiten zu verlieren, machte sie sich über das Essen her. Mit einem Hähnchenflügel im Mund fand sie Weintrauben, Äpfel und eine Flasche Cidre.
»Dich schickt doch wieder mal der Himmel«, stellte sie schmatzend fest und nagte genüsslich den Hühnerknochen ab.
Ian grinste und ließ sich auf die Decke fallen. »Ich weiß aus Erfahrung, dass eine Verwandlung immer hungrig macht. Vor allem dann, wenn das letzte Essen nur aus einem Hasen bestand.«
»Woher weißt du das? Seid ihr Iren allesamt Klatschtanten?« Gierig schnappte sie sich ein weiteres Stück Fleisch und setzte sich neben den jungen Wolf.
»Auf unserer Insel gibt es nicht viel zu erleben. Wir Iren arbeiten hart für unser Geld, gehen in die Kirche und starren in unserer Freizeit stundenlang aufs Meer. Und damit wir vor lauter Langeweile nicht sterben, trinken wir Whiskey.«
Lyra schaute ihn fragend an. »Meinst du das ernst?«
»Nein. Das sind Klischees, die die Welt von uns Iren hat. Na ja, obwohl … das meiste davon stimmt sogar. Was unseren Clan anbelangt, leben wir schon so lange, dass wir mit der Kirche nicht viel anfangen können. Wir Wölfe existieren weit länger als Kruzifixe und Dornenkronen. Nach der letzten Eiszeit hat es uns hierher verschlagen, als die irische See entstand und unsere Insel vom Festland trennte. Damals lebten hier noch keine Menschen, nur das magische Volk. Erst sechstausend Jahre später entstanden die ersten Siedlungen, dann kamen irgendwann die Wikinger, später die Mönche, dann die Engländer. In dieser Zeit sammelte sich so einiges an, was uns die harte Arbeit ersparte. Allerdings holzten die Siedler fast die komplette Insel ab. Unser natürlicher Lebensraum war bedroht, weshalb wir in den vergangenen hundert Jahren dafür sorgten, dass wenigstens hier ein neuer Wald entstand. Auch starren wir Wölfe nicht stundenlang aufs Meer, wenngleich es diesen Zeitvertreib bei uns ebenfalls gibt. Und der Whiskey? Ja, davon fließt hier reichlich. Denn die gute Nachricht ist, dass wir das Zeug fast endlos in uns hineinkippen können, ohne betrunken zu werden. Unsere Regenerationskräfte verhindern einen Leberschaden, was an sich schon einer der großen Vorzüge des Lebens als Gestaltwandler ist.« Ian holte eine Flasche aus dem Picknickkorb. »Hast du schon mal Cidre getrunken?«
»Nee. Weder den noch Whiskey. Aber ich habe so den leisen Verdacht, dass sich das ab sofort ändern wird.« Grinsend wischte sich Lyra den fettigen Mund mit einer Serviette ab und beobachtete durstig, wie Ian den Cidre in zwei Gläser goss.
»Wow! Das ist echt köstlich. Was ist das genau?«, fragte Lyra schließlich, nachdem sie das Glas leergetrunken hatte.
»Cidre ist im Grunde nichts anderes als vergorener Apfelsaft.« Ian drehte das Etikett der Flasche in Lyras Richtung. In typisch keltischen Buchstaben stand dort der Name McTire.
»Aha! Euer Hauswein?«
Ian nickte. »Eine unserer Einnahmequellen. Der magische Apfelbaum der Beanna schenkt uns das ganze Jahr über reichlich Früchte, die wir unter anderem zu Cidre verarbeiten. Natürlich kommen die übrigen Äpfel von einer Plantage etwas weiter südlich. Doch Beannas Äpfel machen ihn zu etwas ganz Besonderem, weshalb wir auch ein gutes Sümmchen dafür erhalten. Unser Alleinstellungsmerkmal, du verstehst?«
Lyra trank noch einen Schluck vom Cidre und konstatierte: »Also, ich bin natürlich keine Kennerin, aber mir schmeckt er hervorragend. Magisch eben.«
»Ja, kann man so sagen. Aber Magie gibt es viel auf unserer Insel, deshalb lässt es sich hier im Grunde auch ganz gut leben.«
»Im Grunde?«
»Na ja, wir haben so unsere Probleme mit einigen Viehzüchtern in der Gegend. Du weißt schon …«
Lyra lachte laut auf. »Ha, das nächste Klischee stellt sich als wahr heraus.«
»Ja, kann sein.« Ians Blick wurde ernst, als er auf das Meer schaute.
»Aber da ist noch etwas anderes, stimmt’s?« Lyra wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Picknick nicht ausschließlich einen romantischen Hintergrund hatte. Dabei hätte es das werden können, schließlich trug sie immer noch keine Hose. Das Zucken in ihrem Unterleib versuchte sie zu verdrängen und sich dem Problem zu widmen, das Ian augenscheinlich auf der Seele brannte. Deshalb klemmte sie den Saum ihres T-Shirts unter ihre Pobacken und fragte: »Was ist es? Rück schon raus!«
Ian blickte weiter auf das Meer, dessen Wellen sanft ans Ufer glitten. »Hat dir mein Vater von der Prophezeiung erzählt?«
Jetzt ging das wieder los. Eigentlich hätte sie viel lieber knutschend im Sand liegen wollen. Doch Lyra riss sich zusammen, hatte sie doch den Eindruck, dass es Ian wichtig war, darüber zu sprechen. Deshalb nickte sie nur stumm und wartete darauf, dass er weitersprach.
»Nun, die eine Hälfte bezieht sich auf meinen Onkel. Er ist der ältere Bruder meines Vaters und war schon als Kind darauf erpicht, eines Tages der Alpha des Rudels zu werden. Doch das ist keine Frage des Alters oder gar ein Geburtsrecht. Jedes Jahr wählen die Clanmitglieder ihren Anführer. Die letzten hundertsiebzig Jahre hatte meine Familie die Ehre, dieses Amt zu bekleiden. Als mein Großvater eines Tages nicht mehr willens war, wieder den höchsten Rang im Rudel zu übernehmen, sollten seine Söhne sich der Wahl stellen. Natürlich war mein Onkel der Meinung, dass nur ihm das Recht zustand, Alpha zu sein. Doch die Clanmitglieder wählten meinen Vater, obwohl dieser noch recht jung war. Mein Onkel wollte die Wahl als ungültig erklären lassen. Als ihm dies nicht gelang, wurde er von Tag zu Tag missmutiger. Dann rief ihn die Beanna zu sich und schlug vor, ihn zu reinigen. Während des Rituals muss etwas schiefgegangen sein, denn mein Onkel war ab diesem Zeitpunkt nicht mehr da. Einfach weg. Verschwunden. Seither wurde mein Vater jedes Jahr zum Alpha gewählt. Und mit jedem Jahr rückt eine Gefahr näher, die ich nicht verstehen kann. Niemand im Rudel weiß etwas Genaues, nur dass es mit meinem Onkel zu tun haben soll und prophezeit wurde, dass ein weiblicher Hybrid, geboren aus dem Wasser und dem Feuer …«
»Jaja, ich weiß. Das habe ich heute schon mal gehört.«
Lyra trank ihr Glas leer und warf es mürrisch in den Picknickkorb. Dann stand sie auf und schaute nun ihrerseits auf die Wellen am Strand, die jetzt weniger friedlich wirkten. Die Flut schien zu kommen. An den steilen Klippen ringsum brachen sich die Wellen jetzt höher. Eigentlich war es hier wunderschön und doch war Lyra gerade nicht in der Stimmung nach … Ja, was eigentlich? In jedem Fall hatte sie keine Lust, länger irgendwelchen irrwitzigen Geschichten zu lauschen. Warum musste neuerdings alles so kompliziert sein? Okay, sie war keine normale Achtzehnjährige, aber irgendwie hatte sie sich die Volljährigkeit anders vorgestellt. Was Emily jetzt wohl machte? Ob sie mit ihrem Ben glücklich war und ihr Leben und die Liebe genoss? Heimweh überkam Lyra und der Wunsch nach Normalität. Der aufkommende Wind zerrte an ihren Haaren, die ihr mittlerweile fast bis zur Hüfte reichten. Nachdenklich hob sie die goldbraune Lockenmähne über die Schulter und flocht sich einen Zopf.
Erschrocken zuckte Lyra zusammen, als sie ein Vibrieren auf ihrer Haut spürte. Dann entspannte sie sich ein wenig, schloss die Augen und atmete die salzige Luft ein, die vom Ozean hinüberwehte. Ian war hinter sie getreten und nahm sie in seine kräftigen Arme. »Es ist alles nicht leicht, ich weiß. Und ich würde dir gern helfen, besser mit dieser Situation klarzukommen. Doch ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie.«
Mir würde da schon etwas einfallen, sinnierte Lyra und dachte dabei an einen Kuss auf ihren Nacken, dann auf ihren Mund … und auf jeden anderen Millimeter ihrer nackten Haut. Mit verträumtem Blick kuschelte sie sich an Ians warmen Körper. Jetzt wäre der perfekte Zeitpunkt für ein bisschen Zärtlichkeit. Allerdings machte Ian keine Anstalten, sondern hielt Lyra einfach nur fest. »Ist es okay, wenn ich dich umarme?«
Genervt verdrehte Lyra die Augen. Was war mit diesem Typen los? Warum konnte er sie jetzt nicht einfach küssen? Er fühlte sich so gut an und roch fantastisch. Ohne ihn anzusehen, flüsterte sie: »Es fühlt sich wunderbar an. Von mir aus darfst du gern noch mehr tun.«
Entgegen aller romantischen Vorstellungen löste Ian seine Arme von ihrem Körper und verschränkte die Finger stattdessen hinter seinem Rücken. Dann trat er neben sie und schaute wieder auf das Meer.
Männer!, dachte Lyra. Was sollte das? Sie hatte sich ihm angeboten und er machte einfach einen Rückzieher – nach allem, was sie zusammen erlebt hatten? Entgeistert sah sie zu ihm hinüber und schüttelte den Kopf. Sie hatte noch nicht viele Erfahrungen sammeln können, abgesehen von der ziemlich miesen mit Niklas damals auf der Party, dennoch war sie überzeugt, dass da etwas zwischen ihnen war. In jedem beschissenen B-Movie hätte der Kerl jetzt das Mädchen geküsst. Warum konnte Ian das nicht?
»Findest du mich hässlich?«
Ians Kopf zuckte herum. Sein Blick war ernst. »Ganz im Gegenteil.«