Читать книгу Aus Angst und Mut und Liebe - Maria Fangerau - Страница 10

Und vergib uns unsere Schuld

Оглавление

Du sollst nicht töten, sagt das fünfte Gebot. Und mein Vater. Unser Vater, der uns unser täglich Brot gibt und dessen Wille immer geschieht. Zumindest hätte er das gerne gehabt, aber ab und zu waren wir auch unartig, mein Bruder Hans und ich. Dann mussten wir auf nackten Knien eine Stunde im harten Kirchengestühl verbringen und beten, oder zumindest mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf so tun als ob, bis Vater uns wieder ins Haus holte. Man kommt direkt aus der Sakristei in unseren Flur, der Geruch von Kerzen und Bohnerwachs schleicht sich aus der Kirche in unsere Jacken, die an der Garderobe hängen.

Ich starre an die gegenüberliegende Wand. Sie ist gelb. Die Stühle, die nebeneinander davor aufgereiht stehen, haben rote Sitze und Lehnen aus Holzstäben. Die meisten davon sind von anderen Frauen besetzt, ich versuche, sie nicht anzustarren. Aber während ich mich bemühe, meine Aufmerksamkeit auf den Zeitungsartikel zu lenken merke ich, wie auch sie mich verstohlen mustern. Bestimmt fragen sie sich, ob ich den gleichen Eingriff vornehmen lassen will, wie sie, ob ich mir die Entscheidung leicht gemacht habe und wie ich überhaupt in diese Situation gekommen bin. Sie sind alle Sünderinnen, genau wie ich, das habe ich schon beim Eintreten bemerkt. Ich hebe den Arm und schnüffle unauffällig an meiner Adidasjacke. Der Kirchengeruch hängt immer noch in all meinen Klamotten, egal wie viele Zigaretten ich heimlich rauche.

Gebetet wird nicht nur in der Kirche. Vor allen Mahlzeiten danken wir dem Herrn, dass er uns vor Hunger und Armut bewahrt. Meine Mutter presst dabei die Lippen aufeinander und flüstert, als gäbe sie nur ungern ein gut gehütetes Geheimnis preis. Vater klemmt, anders als vor seiner Gemeinde, der er mit der mächtigen Geste erhobener Arme vorbetet, seine Ellbogen fest an den Körper und legt die Handflächen aufeinander. Dazu neigt er den Kopf und heftet die Augen auf den Tellerrand, was ihm das Aussehen eines katholischen Christus beim letzten Abendmahl gibt. Hans leierte bis er neunzehn wurde nur monoton ‘Ich bin klein, mein Herz ist rein’ hinunter. Dann zog er aus. Ich bete immer frei. Ich danke Gott wahllos für alles, woran meine umherschweifenden Augen hängen bleiben, vom Sonnenuntergang bis zum Salzstreuer. Das kommt immer gut an, führt aber dazu, dass Vater meistens mich zum Beten auffordert, wenn er, aus welchen Gründen auch immer, sich nicht berufen fühlt.

Ich hebe den Kopf und treffe die angstvollen Augen eines Mädchens, das mir gegenüber sitzt. Ungefähr mein Alter, schätze ich, siebzehn, achtzehn Jahre, sieht sie gebannt auf meine Hände, die ich unbewusst gefaltet habe, und mit den Daumen die Zeitschrift halte. Ihre Lippen bewegen sich lautlos. Ich wende schnell den Blick von ihr ab. Ich will es nicht sehen, ihr Zittern und Zagen. Ich habe meine Entscheidung getroffen. Auch Abraham sollte seinen Sohn Isaak töten. Gut, das war nur eine Probe, aber ich werde mich nicht davor drücken, ich werde dieses Kind opfern, werde mich von der Schuld befreien.

Eine letzte Eintagsfliege fräst herbstmüde gegen die Scheibe, ich schlage mit der Zeitschrift nach ihr und sofort stürzt sie ab.

Wenn Vater nicht verbal gegen den Teufel in all seinen Gestalten zu Felde zieht, predigt er am liebsten über Tiere. Die Löwen, Wale, Fische, Spatzen, Esel, Ochsen, Schafe und Kamele, die seine Predigten bevölkern, lassen ihn als großen Tierfreund erscheinen. Doch wir wissen es besser. Hans und ich haben ihn beobachtet, wie er die gesamte Nachkommenschaft unserer Hauskatze in einem Sack gegen die Friedhofsmauer knallte. Wieder und wieder. Der Sack verschwand in der Mülltonne und als wir den Deckel hoben, war kein Mucks mehr zu hören. Wir hielten uns an den Händen, unfähig zu sprechen, die Angst wie Rasierklingen in der Kehle. Beim Abendbrot bekam ich keinen Bissen hinunter. Hans legte seinen Arm um mich und schob mich in sein Zimmer, das Schluchzen brach in hohen Wellen aus mir heraus, ich lag in seinem Arm und er futterte mich mit Süßigkeiten als nähre er einen Säugling an seiner Brust, solange, bis mein Weinen und ich eingeschlafen waren. Unsere Katze strich noch tagelang desorientiert umher und maunzte die Friedhofsmauer an.

Ich werde aufgerufen. Durch die Tür trete ich in eine andere Welt. Hier im Operationstrakt herrscht gekachelte Sterilität. Die Luft ist schwül, es riecht nach Heizung und ich zittere trotzdem, als ich mich ausziehe. Man reicht mir ein Hemd, hinten geschlitzt. Ich lege mich auf die Liege, das kalte Kunstleder heftet sich wie der Saugnapf eines Riesenkraken an meinen nackten Po und ich schaue direkt in die summenden Balken aus Neonlicht.

Sobald Vater durch die Wohnungstür tritt, wird aus ihm ein anderer Mensch. Er hat den Ruf, ein verständnisvoller und gütiger Pfarrer zu sein. Er hält den Sterbenden im Krankenhaus lächelnd die Hände und drückt tröstend die Schultern der Witwen nach der Beerdigung. Er kümmerte sich im Gefängnis um das Seelenheil eines Konfirmanden, der im Suff seine Mutter mit einer Bierflasche erschlagen hatte und überzeugte ihn davon, dass Gott ihm vergibt. Doch uns verzieh er niemals. Wochenlang machte er uns Vorhaltungen, wenn wir den Gottesdienst durch Gekicher gestört hatten, oder zu spät nach Hause gekommen waren, um noch am gemeinsamen Abendessen teilzunehmen. Jede Störung seiner Mittagsruhe brachte ihn zur Raserei. Dann hofften wir immer auf den erlösenden Anruf eines Gemeindemitglieds. In diesem Fall verwandelte er sich vor unseren Augen zurück in den fürsorglichen Seelsorger, der mit freundlicher Stimme leise in den Telefonhörer sprach. Geschah das nicht, konnte es passieren, dass er gänzlich die Nerven verlor. Dann prügelte er mit einem Rohrstock auf uns ein, trieb uns mit Fußtritten in unsere Zimmer.

– Wer seine Kinder liebt, züchtige sie –

Wir flohen vor dieser Art der Liebe. Zitternd suchte ich Schutz unter der Bettdecke von Hans. Er war stark, immerhin zwei Jahre älter als ich, und er roch so gut nach Pfefferminz. Ich vergrub die Nase im Frottierschlafanzug an seiner Brust und fühlte seine Hände mit zarten Strichen die Angst aus meinem Körper ziehen. Wenn ich das Wort Geborgenheit höre, denke ich immer an Hans’ Bettdecke und den warmen Geruch seines Kinderkörpers.

Eine Krankenschwester beugt sich über mich. Eine Haarsträhne hat sich aus ihrer Hochfrisur gelöst und baumelt wie ein dickes, faseriges Tau direkt vor meinen Augen. Wäre es ein Tau, ich würde mich gerne daran herausziehen aus meinem Dilemma. Doch sie steckt mit einer kurzen Bewegung die Strähne wieder fest und erkundigt sich nach meinem Befinden. Ich sage ihr nicht, wie beschissen ich mich fühle.

Das Kind unter meinem Herzen ist immerhin ein Kind der Liebe. Ich würde es lieber in meinen Armen sehen als in einem Mülleimer. Mir wird schlecht, wenn ich nur daran denke. Meine Hände werden plötzlich taub, ich kann meinen Körper nicht mehr fühlen. Vielleicht ist es die Angst, die mich lähmt, vielleicht ist es eine Gnade, nicht richtig mitzubekommen, was mit mir geschieht.

– Du sollst nicht töten –

Das fünfte Gebot hämmert in meinem Kopf. Wie viele Sünden werden eigentlich vergeben? Ist es die Art oder die Anzahl der Sünden, die uns in die Hölle bringt? Ich stelle mir die Hölle vor wie diesen Operationssaal und schließe kurz die Augen.

Geht es Ihnen nicht gut, fragt die Krankenschwester mit gerunzelter Stirn.

Ich öffne die Augen wieder, versuche zu lächeln, nein, es ist alles okay.

Sie streicht mir sacht, fast zärtlich über die Stirn, dann quietschen ihre grünen Gummiclogs, als sie sich entfernt.

Unsere Mutter küsste uns nur an Weihnachten. Anlässlich der Geburt Christi erinnerte sie sich ihrer eigenen Kinder und verteilte hilflos ihre Zärtlichkeiten wie getrocknete Feigen, saftlos und schrumpelig. Es schien, als seien all ihre Gefühle in der Glut ihrer Frömmigkeit verdunstet, übrig war nur die harte Kruste einer sorgenvollen Mütterlichkeit geblieben. Ich habe mich immer gefragt, warum sie nicht Nonne geworden ist. Wahrscheinlich erschien ihr dieser Weg zu einfach. Wenn sie den Leidensweg Christi nachfolgen wollte, dann war sie bei unserem Vater an der richtigen Adresse. Sie ertrug seine Launen und seine Liebe in Demut. Gebar ihm zwei Kinder, sie, die jede körperliche Berührung verabscheute, jede Zärtlichkeit als Unzucht deutete. Als ich in die Schule kam erklärte sie mir, dass die Fleischeslust zu entsetzlichen Krankheiten führt und man zwischen den Beinen verfaule. Daher war ich überzeugt, dass mich die Rache des Herren träfe, als ich das erste Mal meine Periode bekam. Womit ich seinen Zorn herausgefordert hatte, war mir allerdings unklar und so betete und fastete ich tagelang. Erst als man mich ohnmächtig und blutend in einer Kirchenbank fand, klärte meine Mutter mich auf. Ich glaubte ihr kein Wort. Bis heute fühle ich mich während meiner Menstruation wie eine Aussätzige, der Hölle näher als dem Himmel.

Ich habe meine Mutter nie verstanden. Selbst Pflanzen wachsen besser, wenn man ihnen ein wenig Zuspruch und Liebe entgegenbringt. Doch sie schaffte es, mir ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn ich mich nur von meiner Freundin mit einer Umarmung verabschiedete.

– Und führe uns nicht in Versuchung –

Die Trage wird in die Mitte des Raumes geschoben, meine Beine werden auf kalte Beinhalter gelegt. Festgeschnallt wie eine Wahnsinnige liege ich auf dem Rücken. Vielleicht ist es wirklich der reine Wahnsinn, eine Sünde durch eine andere wieder gut zu machen. Aber Minus mal Minus gibt Plus.

Hans war der stärkere Teil meiner Selbst. Er schien das Himmelszelt zu stützen und gleichzeitig jedes Knöchelchen in meinem Rückgrat zu sein. Ich teilte jede Sorge mit ihm und jeden Triumph. Wenn wir gemeinsam über die ausgetretenen Platten des Schulhofs schlenderten, wagte sich kein Junge näher als nur einen Meter an mich heran. Hans zerriss dann einen Pfefferminzkaugummi und reichte mir die eine Hälfte. Gleichmütig kauend blickten wir auf die rotznasigen Heidenkinder aus der Nachbarschaft, die uns zu provozieren suchten. Ihr Anführer trat frech auf Hans zu und schlug ihm ins Gesicht. Der Schlag war leicht, fast fragend streiften die Finger seine Wange, aber es reichte, um demütigend zu sein.

Nun halt mir auch deine andere Wange hin, kreischte der Herausforderer. Hans blieb cool. Bis zu seinem achtzehnten Geburtstag. Seitdem schlägt er zurück.

– Auge um Auge, Zahn um Zahn –

Die Ärztin kommt rein. Lächelt. Sie legt mir die Hand auf den kalten Arm und sieht mir in die Augen.

Sie sind ganz sicher in ihrer Entscheidung? Ich nicke und sie sticht mir eine rosafarbene Kanüle in die Vene auf meinem Handrücken. Es tut nicht weh. Der Schmerz sitzt woanders.

Hans ist fort und kämpft. Er hatte sich gleich nach der Schule für zehn Jahre verpflichtet. Vor drei Monaten wurde er zum Auslandseinsatz berufen. Am Abend des Abschieds kam er zu mir wie der Engel Gabriel zur Jungfrau Maria. Seine gelben Locken fielen in mein Gesicht, als er mich küsste. Er küsste mich lange, ließ dabei die Augen offen und sah mich an wie der Gekreuzigte persönlich. Liebevoll und leidend. Mein Herz trommelte wild und ich fühlte mich verrucht und keusch zugleich, als ich seinen Zungenschlag erwiderte. Er war immerhin Blut von meinem Blut. Wenn ich mich in den Finger schnitt war nichts Verbotenes daran, das Blut abzulecken. Also leckte ich, andächtig, seinen Gaumen.

– Die Liebe Gottes, welche höher ist als alle Vernunft, erleuchte unsere Herzen und Sinne –

Ja, es fühlte sieh unheimlich gut an. Gott zeigte mir seine Liebe durch meinen Bruder. Und Hans war voll von göttlicher Liebe. Heiße Wellen durchströmten mich, als er mich erleuchtete.

Der Gedanke an Hans treibt meinen Puls hoch und die Ärztin, die gerade mein Handgelenk zwischen ihren Fingern hält, wirft mir einen besorgten Blick zu. Ich erröte und drehe den Kopf zur Seite. Sie soll mein Herz nicht in meiner Halsschlagader klopfen sehen. Es fühlt sich riesig an, fett und fröhlich wie eine junge Kröte, und ich habe das Gefühl, es spränge mir gleich über die Zunge, aus dem Mund und läge zuckend da, auf dem graumelierten Linoleum, für alle sichtbar in seiner Verzweiflung und leicht zu durchschauen. Ich habe Angst, sie könnten ihre Instrumente dafür verwenden, dieses meine wehrloses Herz zu sezieren, bis sie in jeder Faser und jeder Zelle die Liebe entdecken, und nicht die Reue. Und ich stände als Lügnerin da, hätte mein Herz verloren und einen Bastard im Leib. Aber ich will es genau anders herum. Also schlucke ich meine Erregung herunter und versuche, nicht mehr an Hans zu denken.

Sind sie soweit, fragt die Ärztin und greift nach der Narkosemaske.

Gibt es Vergebung für das Töten des eigenen Kindes? Wie kann das Leben danach weitergehen?

Während sich die ersten Atemzüge Lachgas in meine Mundwinkel kerben, wird mir plötzlich klar, dass der Stammvater unseres Menschengeschlechtes ein Mörder war. Kain, der Sohn von Adam und Eva, der Vater Abrahams. Paradoxerweise fühle ich mich durch diese Erkenntnis erleichtert. Ich registriere ein Kichern, das von meiner Körpermitte aus nach oben steigt und, bevor es explodieren kann, in der Dunkelheit, die mich plötzlich umgibt, verebbt.

Aus Angst und Mut und Liebe

Подняться наверх