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Entgleiste Liebe

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Sie hatte es gerade noch geschafft und war im letzten Moment aufgesprungen.

Als der Pfiff ertönte, scharf wie ein unwiderrufliches Urteil, stand Jana noch mit einem Fuß auf der Einstiegstreppe. Die Tür schloss sich automatisch und drängte sie in den Wagon hinein. Sie sah durch die abschiedstrübe Scheibe auf den Bahnsteig hinaus, horchte auf atemloses Fußgetrappel, einen zupackenden Schrei, auf irgendetwas. Doch nichts geschah. Mit einem Ruck fuhr der Zug an. Der Bahnhof entfernte sich und mit ihm die unbedeutenden Gesichter fremder Menschen. Die Reklametafeln. Die Stadt. Ihr altes Leben. Ihre Liebe.

Die Liebe hieß Erik und war in ihrer Zweizimmerwohnung in Neukölln geblieben. Dort, wo sie die letzten Monate gemeinsam gelebt hatten.

Die Intensität ihrer Beziehung hatte Jana zuerst erschreckt. Doch sie konnte sich nur lebendig fühlen, wenn sie seine Zahnbürste benutzte, in seinem T-Shirt schlief und aus seiner Kaffeetasse trank. Trennten sie sich morgens, musste sie unbedingt etwas von ihm dabei haben. Meist trug sie seine Hemden, manchmal auch eine seiner Boxershorts. In dieser Symbiose erlebte sie Weihnachten, dann Ostern und nun diesen schwülen, gewittrigen Sommer. Sie glaubte an diese Liebe, wie früher an den Weihnachtsmann, mit kindlicher Leidenschaft, die ihre großen Kulleraugen vor den Realitäten verschloss. Sie war überzeugt davon, dass nichts auf der Welt ihre Liebe erschüttern könnte.

Und dann kam der Brief. Ein unscheinbarer, flacher Umschlag, an einer Ecke leicht geknickt. Ein schmales, weißes Fallbeil, das blitzartig niedersauste und sie mit einem Schlag kopflos werden ließ:

– Opernhaus München. Eine Stelle als Bühnenbildnerin –

Sie war berauscht vor Glück und entsetzt zugleich. Sie fürchtete seine Reaktion, doch sie kam nicht.

Er hätte sie davon abhalten können, wenn er gewollt hätte. Sie zum Bleiben überreden, ihr eine Liebeserklärung machen können. Er hätte ihr aber auch folgen können. Doch er blickte sie nur an. Sein Gesicht hatte etwas Gedehntes, Unschuldiges, mit Augen die fragen wollten, aber nicht wussten, wie und wonach. Sie konnte nicht wütend werden. Stattdessen heulte sie.

„Warum weinst du denn?“, erkundigte er sich schließlich. „Du bist es doch, die mich verlässt.“

„Weil ich dich liebe.“

„Warum gehst du dann?“, fragte er weiter.

„Weil du mich nicht zurück hältst.“

„Wie könnte ich dich halten!“, rief er und fragte nicht mehr.

Damit war die Entscheidung gefallen, ohne dass sie daran beteiligt gewesen war.

Sie hatte bis zuletzt gewartet, dann erst war sie losgerannt.

Jana ließ sich auf das hellblautürkis melierte Polster ihres Sitzplatzes sinken. Im Sechserabteil, wie in einem Eierkarton. Schräg gegenüber am Fenster thronte eine ältere Frau mit blond gefärbter Toupierfrisur und einer Kanonenkugelbrust. Darüber spannte ein fliederfarbener Acrylpullover mit pinker Paillettenapplikation. Irritiert starrte Jana auf diese blinkende Büste, bis sie darauf das Gesicht einer Katze dechiffrieren konnte. Sie wandte sich angewidert ab.

Eigentlich mochte sie Katzen sehr gern. Sie liebte sie sogar, und früher, als sie noch bei ihren Eltern wohnte, gehörten immer ein oder zwei davon zur Familie.

Mit Erreichen ihrer Unabhängigkeit hatte sie ihre Katzen verloren. Und Erik wollte nichts von Haustieren wissen. Sie machten Dreck und zu viele Umstände, behauptete er. Das konnte sie so nicht stehen lassen, es hatte den ersten Streit gegeben. Eher eine Auseinandersetzung, denn Jana hatte nicht weiter insistiert und Erik hatte sich durchgesetzt. Erst jetzt fiel ihr auf, was für ein großes Opfer sie damals gebracht hatte. Sie war plötzlich ganz krank vor Sehnsucht nach einer Katze.

Die andere Frau neben ihr hustete verschämt. Sie saß sehr tief in den Sitz gelehnt und hielt sich ein Buch vor die Nase, von dem der Dalai Lama herab lächelte. Durch die runden Gläser ihrer Nickelbrille flitzten ihre Augen über die Seiten wie kleine Wiesel, auf der Suche nach Nahrung. Seelennahrung, dachte Jana, die Frau sah sehr esoterisch aus. Sie trug eine bordeauxrote Bluse, die sich wie ein Kimono um ihre Gestalt schlang. Darunter leuchtete ein langer, weizengelber Seidenrock, der sich bei jeder ihrer Bewegungen bauschte. Zahlreiche Ketten klimperten um ihren Hals und ein irgendwie vertrauter, aber gleichzeitig exotischer Duft ging von ihr aus. Während die Laubenpieperkolonien am Fenster vorüber ratterten, fiel es Jana plötzlich ein: Patchouli. So hatte es immer in dem Indienladen gerochen, in dem sie während ihres Studiums ab und zu gejobbt hatte.

Doch jetzt hatte sie eine richtige Anstellung an einer staatlichen Bühne, sie war nicht mehr angewiesen auf Gelegenheitsjobs. Vorbei, die Patchouli-Zeit.

Die Esoterikerin zerbiss knackend eine Karotte. Dann reichte sie eine davon an den Teenager weiter, der wie ein Semikolon im Sitz ihr gegenüber hing und mit wippenden Kabeln den Takt zu einer, sich leise aus den Kopfhörern quälenden Musik schlug. Ihr Sohn. Bartlos, mit riesigen Füßen in zentimeterhohen Turnschuhen.

Janas Magenwände zogen sich knurrend zusammen. Sie hatte heute Morgen keinen Bissen herunter bekommen und jetzt schlug der Hunger zu wie eine heimtückische Krankheit. Sie fühlte sich ganz schwach und begann sich auszumalen, was sie jetzt am liebsten essen würde: Vollkornquiche, Trinkjoghurt und eine saftige Nektarine. Alles Sachen, die sie seit Monaten nicht gegessen hatte.

Eriks Speiseplan war eher schlicht, und bestand überwiegend aus Cornflakes zum Frühstück, Ravioli oder Würstchen zum Mittag, einer Tüte Chips und Bier zum Abendessen. Wenn sie ausgingen, bestellte er meist Steak mit Salat oder Hamburger. Immer Bier, niemals Wein. Als Jana am Anfang ihrer Beziehung, in einem Anfall von Optimismus, Obst und Gemüse aus dem Naturkostladen mitbrachte und anfing, eine vegetarische Lasagne zu kochen, hatte er sie einfach ausgelacht. Und keinen Happen davon probiert. Also hatte sie alle Sorten von Ravioli, die halbmondförmigen und die quadratischen, die mit Tomaten- und die mit Fleischsoße zu variieren gelernt, und sogar das ein oder andere Mal Bratwurst statt Bockwurst durchsetzen können. Das war aber schon alles.

Das Wasser lief ihr im Mund zusammen, als sie an die Köstlichkeiten dachte, die sie ab jetzt verzehren würde. Von wegen Liebe geht durch den Magen. Kulinarisch gesehen hatte sie eine Menge nachzuholen!

Mit einem Mal wurde es dunkel. Schwere Wolken drückten den Himmel herab. Wie dicke, graue Schwämme, triefend vor Feuchtigkeit, legten sie sich über die Vorstadt. Erste Tropfen fädelten sich am Fenster zu feinen, kurzen Glasperlenketten auf. Dann wurde ein wahrer Sturzbach aus dem Wolkenmopp gewrungen, und irgendwo hinter dem Regenvorhang starb die Sonne.

Jana wollte nicht lesen. Sie wollte auch nicht aus dem Fenster sehen, von dem sich die Stadt allmählich zurückzog. Am liebsten hätte sie ihre Mitreisenden ins Universum gebeamt. Das Sommergewitter würde die verkrusteten Reste ihrer vergangenen Beziehung von ihr abwaschen, und sie wollte ungestört die ersten Minuten ihres neuen Lebens verbringen. Vielleicht, überlegte sie tapfer, würde es gar nicht so übel werden.

Sie stellte sich schon mal eine Wohnung voller Katzen und einen prallen Gourmetkühlschrank vor. Was fehlte noch zu ihrem Glück?

Ihr Blick fiel auf die zischenden Kopfhörer.

Musik. Sie würde endlich wieder ihre eigene Musik hören können.

Plötzlich konnte sie es gar nicht mehr erwarten, ihre vier Umzugskartons, die als Beiladung gerade in irgendeinem Lastwagen durch den Regen rollten, nach ihren CDs zu durchwühlen. Bach würde sie finden und in seiner Matthäuspassion schwelgen – Erik hätte sie dafür gekreuzigt.

Sie stellte sich vor, endlich wieder einen Liter Walnuss-Eis zu verdrücken, während Eros Ramazotti im Hintergrund dahin schmolz. Ein lustvolles Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie würde ab jetzt nur noch tun, worauf sie Lust hatte, und sie würde es genießen!

Das Kreischen der Bremsen und ein heftiger Ruck wischten ihr das Lächeln aus dem Gesicht und zerrissen ihren Gedankenfilm. Durch den plötzlichen Halt wurde sie aus ihrem Sitz gehoben und dem jungen Mann in den Schoss geschleudert. Dabei riss sie ihm den Kopfhörer vom Scheitel und landete mit der Nase an seinem Hals. Ein Geruch nach Talg und alter Wäsche, gemischt mit dem schwindenden Hauch eines frischen Aftershaves erregte ihre Riechhirnrinde. Sie wich vor dem tomatenroten Jüngling zurück, entschuldigte sich und glitt wieder auf ihr Polster.

Der Geruch von Erik. Sie dachte an seine musikalischen Finger, die mit der Sicherheit eines Solopianisten ihren Körper zu spielen wussten. Er hatte sie als hingebungsvolle Liebhaberin bezeichnet, weil er alles von ihr bekommen konnte. Und sie war stolz darauf gewesen. Sie gab ihm Aufmerksamkeit, Liebe, Sex, Macht. Vor allem Macht.

So wie sie Eriks Zahnbürste benutzt hatte, benutzte er ihren Körper. Sie hatte mitgemacht, hatte es genossen, auch wenn ihre Glieder danach tagelang schmerzten.

Als der Zug anhielt, stand die blondierte Katzenfreundin als erste am Fenster. Ächzend stemmte sie die Scheibe herunter und ließ ihren Blick sensationslüstern hin und her sausen.

„Wird wohl wieder einer von diesen Selbstmördern sein“, schnaubte sie unwillig. „Warum musste der sich auch ausgerechnet unseren Zug aussuchen? Erst vor zwei Wochen stand ich vier Stunden zwischen Berlin und Magdeburg. Vier Stunden! Stellen sie sich das einmal vor! So lang hat das gedauert, bis die den von den Schienen gekratzt hatten. Da ging nichts mehr sage ich Ihnen!“ Die rosa Pailletten auf ihrer Brust bebten empört.

„Ach du meine Güte“, entsetzte sich die Esoterikerin und kreuzte angewidert ihre Gesundheitsschuhe.

„Wenn sie nur sich selbst umbringen ist das heutzutage doch ein Fortschritt“, nölte ihr Sohn provokant und zog sich wieder seine Musik über die Ohren.

„Vielleicht war das auch nur so eine Mutprobe.“ Seine Mutter klemmte den Dalai Lama unter die Armstütze und stellte sich ebenfalls hin. „In letzter Zeit soll das eine wahre Manie bei den Jugendlichen sein. Sich vor einen Zug setzen und warten, wer als letzter aufspringt“, raunte sie, mit einem warnenden Blick auf ihren Sohn, der Pailettenträgerin in den Rücken.

„Wahrscheinlich ist gar nichts passiert“, versuchte sie sich dann selbst zu beruhigen, als der Rücken stumm blieb.

Jana schloss die Augen. Das hatte alles nichts mit ihr zu tun. Sie hatte Zeit.

Ihr war, als befände sie sich in einer Zwischenwelt, hier, irgendwo auf den Wiesen zwischen Berlin und Potsdam. Ein angenehmes Gefühl machte sich in ihr breit. Es schmeckte nach Freiheit. Nie wieder würde sie Egozentrik mit Charakter und Intimität mit Liebe verwechseln. Nie wieder!

Sie beobachtete, wie sich die durchsichtigen Kristalltropfen in sumpfige Schlieren verwandelten und an der Scheibe hinunter liefen. Das Fenster war bereits wieder geschlossen, der Sturm hatte die Neugier zurück gepeitscht.

Die Zeit blähte sich. Zäh und grau wurde sie immer größer und jeder wartete nur darauf, dass der anfahrende Zug die Blase zum Platzen bringen würde. Die Katzenfreundin trommelte mit den Fingern auf die ungepolsterte, türkisfarbene Kunstlederlehne, der linke Teenagerunterschenkel zerschnitt die Wartezeit in rhythmische Takte und Jana sprang plötzlich auf. Ihr neues Leben sollte so schnell wie möglich beginnen. Ungeduldig schritt sie die Gangfenster ab, ein Tier in Gefangenschaft, kurz vor der Auswilderung.

Da sprang plötzlich aus der Dämmerung ein weißer Fleck ihre Netzhaut an. Ihr Kopf fuhr herum. Wie eine Kapitulationsflagge wehte ein Bettlaken zwischen zwei Büschen auf dem Bahndamm. Ein paar Buchstaben waren darauf gepinselt, doch die Nachricht war kaum zu entziffern:

LIEBE stand dort, ganz groß.

Und BLEIB, mit Ausrufezeichen.

Jana wurde unruhig. Das hatte doch alles nichts mit ihr zu tun.

Gegen ihren Willen schweiften ihre Augen suchend umher wie desertierte Späher. Und dann sah sie ihn. Er wurde weggeschleppt wie einer der berüchtigten Kreuzberger Erster-Mai-Demonstranten. Zwischen den beiden Polizeibeamten wirkte er spitz und dünn wie ein nasser Ratz. Doch der Blick, den er erhobenen Hauptes hinter sich warf, war der eines Romeo. Er schien zu allem fähig, sogar zur Liebe. Wie Glühwürmchen bohrten sich seine Augen durch den grauen Regenvorhang und trafen leuchtend auf Janas Gesicht, bevor sie in der grünen Minna verschwanden.

Da fuhr der Zug wieder an. Janas Gesicht presste sich heiß gegen die regenkalte Scheibe. Ihr Herz hämmerte das Blut durch die Adern. Langsam ratterte der Zug in den Potsdamer Bahnhof ein, wo die Tropfen blubbernde Blasen auf dem Bahnsteig schlugen.

Jana versuchte den Pfützen auszuweichen, als sie zum Taxistand rannte. Der Regen hatte ihren neugewonnenen Stolz bereits in die sprudelnden Gullis gespült, als sie sich japsend in die schwarzen Polster fallen ließ und die Füße aus den schwappenden Schuhen zog.

„Berlin, Neukölln bitte“, wies sie den Fahrer an.

Hinter ihr ertönte ein scharfer Pfiff und kurz durchzuckte sie der Gedanke an ein verlorenes Spiel. Dann schob sich der Zug zögernd davon, die Türen schlössen sich automatisch.

Aus Angst und Mut und Liebe

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