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Zeitverschiebung London

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Das Telefon klingelt noch vor dem Wecker, reißt scharfzackige Löcher in meinen Traummantel, durch die der feuchte Tag langsam in mich einsickert, bis ich sie abwerfe, die zerfetzte Hülle und nach dem Hörer greife.

„Sie ist aufgewacht. Vor drei Stunden.“ Mein Kollege seufzt seine Nachtdienstmüdigkeit in mein Ohr.

„Und?“

„Sie sitzt auf dem Bett. Gesprochen hat sie noch nicht, zeichnet immer nur merkwürdige Striche. Geschwungene Linien, gerade Linien. Sehr rätselhaft.“

Dankbar dafür, dass er mich die letzten drei Stunden noch nicht geweckt hat, schäle ich mich aus meiner Decke und lasse den Schlaf hinter mir im Bett wie eine leidenschaftliche, junge Geliebte. Ich drehe mich nicht um, zu groß die Gefahr, dem Verlangen nachzugeben und sich wieder neben sie, mit dem Gesicht nach vorne, in die weichen Kissen fallen zu lassen.

Ich ziehe mich an, die Socken, dann erst die Unterwäsche, stülpe eine Schicht nach der anderen über meinen fröstelnden Körper, bis ich mich mit den letzten Handgriffen und einer blau-weiß gestreiften Krawatte zu der kompakten Person verschnüre, die in den langen Fluren von Scottland Yard als Kommissar Yeats gegrüßt wird.

Ich trete auf die Straße, die den gleichen Grauton hat wie der Himmel, und suche meinen Weg durch diese Melasse von einem Tag, der mit einer Überraschung begann: Sie ist also aufgewacht. Das junge Mädchen, das an der Küste von Cornwall angeschwemmt wurde wie ein Stück Treibholz, bewusstlos und mit Seegras im Haar wie ein immergrüner Hochzeitskranz. Gekleidet in einen ausladenden Faltenrock von feinstem Leinen und eine vom Wasser durchsichtig gewordene Bluse, die an ihr klebte wie die Fruchtblase auf dem Leib eines Neugeborenen.

Meerjungfrau, das war der Name, den ihr die lokale Presse vor einer Woche gegeben hatte, gleich nachdem sie von einem Touristen entdeckt und ins Krankenhaus gebracht worden war, mit einem vor Unterkühlung kaum noch schlagenden Herzen und in tiefster Bewusstlosigkeit, von der man nicht wagte, sie als Koma zu bezeichnen. Denn jeder wünschte sich, sie würde die Augen wieder aufschlagen. Man stellte sich vor, sie seien blau, wie das Meer aus dem sie gekommen war, und sie würde sie auf uns richten und wichtige oder tröstende Neuigkeiten bringen. Doch sie blieb leblos, das lange schwarze Haar wie ein Fächer um ihre Stirn gebreitet. Ihr flacher Atem ließ die Reporter auch noch nach Tagen vor der automatischen Schiebetür der Notaufnahme ausharren.

Und nun ist sie wach. Spricht nicht. Vielleicht eine Ausländerin. Wie mysteriös, denke ich, als ich das Zimmer betrete, eigentlich ein Dreibettzimmer, in das man nur ihr Bett geschoben hat, zu weiträumig für die zarte Gestalt, die noch immer auf den gestärkten Kissen sitzt und malt. Sie sieht kurz auf: Ihre Augen sind schwarz.

Aus Angst und Mut und Liebe

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