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Zur selben Zeit in Tokio

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Der Bildschirm flimmert hellblau, wie ein großer Ozean, in dem sich ihre Augen verlieren, ihre Gedanken auch. Normalerweise schlägt sie im Stakkato auf die Tastatur ein, Buchstaben, ein ganzer Satz tauchen dann vor ihr auf, die Geschichte geht weiter, erzählt sich über eine ganze Seite hinunter bis ein neues flirrendes Blatt vor ihr liegt. Doch heute ist es anders. Sie hat die Vorhänge zugezogen, 16 Uhr steht auf dem Leuchtzifferblatt, das im Schein des Computers schimmert und ihr Zimmer mit dieser Atmosphäre erfüllt, wie auf dem Meeresgrund.

Hatsumi zieht ihre Augenbrauen zu einem Balken zusammen. Seit mehreren Stunden, ach seit Tagen, kommt sie nicht weiter. Es ist wie verhext. Sie liest noch einmal ihre letzte Seite durch, die sie vor einer langen Woche, einer von diesen Ewigkeiten in denen die Welt erschaffen wurde, geschrieben hat:

Midori lief so schnell sie konnte. Hinter sich hörte sie das Klappern der Schwerter und den keuchenden Atem der Samurai, die sie jagten. Sie, die es gewagt hatte, sich als Frau unter die edelsten Kämpfer des Landes zu mischen. Die Schwerter hatte sie immer verabscheut, sie wollte die Kunst des Bogenschießens erlernen und hatte es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Nur war ihre Tarnung zu früh aufgeflogen.

Mit flinken Schritten rannte sie um ihr Leben, sprang von Fels zu Fels, den schweren Bogen fest in der rechten Faust. Der Köcher schlug rhythmisch gegen ihre Waden, die Federn der Pfeile kitzelten ihren Nacken. Vielleicht war es auch ihr Schweiß, der an ihr herab rann, sich mit den langen dunklen Haarsträhnen vermischte, die wie tiefe Risse an ihrem Hals klebten. Sie konnte bereits das Rauschen der Brandung hören, hoffte, dass die kleine Holzdschunke noch zwischen den Steinen lag, dort, wo sie sie vormals versteckt hatte. Doch als sie an die Stelle kam, leckten die Wellen wütend an der Küste, gruben ihre scharfen weißen Zähne in den Sand und hatten das Boot längst verschluckt.

Das Geschrei der Samurai drang von der Böschung herab, trieb sie ins Wasser hinein, in das sie zielstrebig watete, den mannsgroßen Bogen hoch über dem Kopf, den schwarzen Rock wie eine Schleppe sich hinter ihr auf der Oberfläche bauschend. Mit einem Wirbel schloss sich das Wasser über ihr, bevor die nächste Welle an den Felsen sprang.

Seitdem war sie verschwunden. Hatsumi fragt sich, wo sie geblieben ist, weiß nicht, wie es weiter gehen soll und starrt vergeblich auf ihren Flat-Screen. Was war geschehen? Würde Midori überleben? Wo würde sie wieder auftauchen? Oder würde sie wieder geboren werden als anderes Wesen, als Tier womöglich oder als Fremder?

Ihre Gedanken picken wie die Geier auf Hatsumis Gehirn ein. Chaos entsteht in ihrem Kopf, das sich umso enger verquirlt, je länger die Tastatur schweigt.

Sie lehnt sich gegen die wippende Stuhllehne, legt den Kopf zurück und blickt zwinkernd an die Decke, als wäre Midori dorthin aufgestiegen, als Engel vielleicht. Doch es sind nur die Tränen der Enttäuschung, die ihr Nebelwesen, Wunschbilder vorgaukeln. In Wirklichkeit hat sie Midori längst verloren.

Aus Angst und Mut und Liebe

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