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London

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Ich werde ein Fax an Hatsumi Haruki schicken. Die Mandelaugen der Meerjungfrau haben mich an sie erinnert. Meine erste Liebe, platonisch aber glutvoll, die mir auf dem Campus der Universität begegnete als Literaturstudentin aus Japan. Diplomatentochter. Reich und scheinbar unnahbar, jedoch an mir oder meinen prosaischen Studien interessiert, schrieb sie doch damals bereits ihre ersten Kriminalgeschichten. Nun lebt sie wieder in Tokio, schreibt mehr oder weniger erfolgreiche Bücher und mir, zuweilen, eine kurze E-Mail. Ich faxe ihr ein Bild der Meerjungfrau, schlafend mit dunklem Haarfächer und geschlossenen Mandelaugen. Vielleicht verlasse ich mich zu sehr auf meine kriminologisch gebildete Literatin. Wenn sie nämlich Koreanerin, Vietnamesin oder gar Chinesin sein sollte, bin ich keinen Schritt weiter. Meine Ignoranz ödet mich an und dieser uneingestandene Rassismus, mit dem Asiatinnen in meinen Augen eine wie die andere aussehen.

„Wie spät ist es denn jetzt in Tokio“, fragt mich mein Kollege mit einem kurzen Blick auf das kreischende Gerät, das die Fotos gerade wieder ausspukt. Zeitverschiebung, an die habe ich überhaupt nicht gedacht, habe vergessen, dass die Sonne, die durch die Milchglasscheibe unseres Himmels schimmert, in diesem Moment nicht über Hatsumis Haus steht. Dort wird es Nacht sein. Ich kann nicht einmal ahnen, wie viel Uhr es ist, aber dunkel wird es sein und Hatsumi wird im Bett liegen und schlafen. Allein? Ich versuche meine Gedanken zu zähmen. Aber vielleicht küsst sie gerade jemanden, während ich nur die Kaffeetasse an meine Lippen führe. Vielleicht sitzt sie auch in einer Bar und trinkt ein Glas Champagner, den liebt sie sehr, das weiß ich noch genau, Champagner und Erdbeeren, wie alle Frauen, die ich danach kannte. Aber sie war die erste, sie war einzigartig. Mit meiner Kaffeetasse proste ich ihr zu. Die Vorstellung dieser Gleichzeitigkeit tröstet und irritiert mich gleichermaßen, und auf einmal ist die Welt mit einer neuen Spannung erfüllt, einem Grund mehr, sich wieder ins Auto zu setzen und nach Cornwall zu fahren zu der schönen, rätselhaften Schaumgeborenen.

Als das Fax um Mitternacht durchrattert, war sie gerade eingenickt. Hatte den Kopf auf die Arme gelegt mit dem Kinn nach vorne, das Gesicht dem Bildschirm zugewandt wie einer Höhensonne, die ihr neue Gedanken einbrennen, die Erstarrung lösen soll.

Wie im Traum starrt sie auf das Bild, das sich quietschend aus dem Leib des Faxgerätes hervor schiebt, eine digitale Geburt, der sie umso faszinierter zusieht, je klarer ihr wird, was das Resultat ist: Midoris Gesicht. Eine schlafende, wunderschöne Midori, ihres Gewandes, ihrer Waffen beraubt, aber den Charakter umso eindrücklicher in ihre Züge geschrieben. Sie fragt sich, wieso die Bilder aus England kommen, von ihrem alten Freund Yeats, und woher er zum Teufel weiß, dass sie Midori sucht. Die Meerjungfrau, wie er sie nennt, die große Unbekannte, die Fantasien beflügelt. Nur ihre, Hatsumis, nicht mehr.

Sie sieht auf die Uhr. Es ist Nachmittag in England, da wird er noch im Büro sein. Also sollte sie gleich anrufen, den geteerten Himmel vor ihrem Fenster, in dem die Lichter Tokios wie Glühwürmchen zappeln, ignorieren und die Müdigkeit auch.

Es knackt in der Leitung und tutet einmal mehr, als sie ertragen kann, doch dann hat sie seine leicht näselnde Stimme in der Leitung.

„Yeats“, sagt er kurz und atemlos, als sei er gerade zum Telefon gesprintet. Sie ist froh, seine Stimme zu hören, nicht die einer Telefonistin, sie kann sich kurz fassen, denn sie war noch nie sehr gesprächig und das weiß er.

„Ich kenne die Frau. Deine Meerjungfrau.“

„Hatsumi, bist du das?“ Er klingt überrascht. Als müsse er sich erstmal setzen.

„Ja. Die Frau heißt Midori und ist eine Samurai, eine Meisterin des Kyu-do Bogenschießens. Sie kommt aus dem Japan des fünfzehnten Jahrhunderts.“

„Hatsumi, hast du Drogen genommen?“ Ich wundere mich über die Sicherheit, mit der sie meine Unbekannte als Mensch einer anderen Epoche zu identifizieren meint.

„Nein, ich sitze an meinem Manuskript über diese weibliche Samurai und vor einer Woche ist sie dabei im Meer verschwunden und nicht wieder aufgetaucht. Ich konnte nicht weiter schreiben, sie war einfach weg und ist bei euch an der Küste wieder aufgetaucht. Gib ihr nur einen Bogen in die Hand, dann wirst du sehen.“ Sie ist zu aufgeregt um zu bemerken, wie unsinnig ihre Geschichte in den Ohren eines Kriminalkommissars klingen muss.

„Eine Japanerin also?“ frage ich, um mein Entsetzen über ihre offensichtliche Verwirrtheit zu kaschieren und trotzdem noch sinnvolle Informationen zu bekommen.

„Sagte ich doch. Japanerin, fünfzehntes Jahrhundert, dreiundzwanzig Jahre alt, Jungfrau und kinderlos, mit einem Leberfleck in Form eines Schmetterlings auf der Innenseite des rechten Oberarmes und einer Vorliebe für rohe Muscheln.“ Hatsumi hält plötzlich inne, sorgt sich mehr um ihre Heldin als sie dem Freund zu Gefallen sein möchte.

„Schickt sie zurück und tut ihr nichts. Sie ist keine Verrückte, sie ist meine Heldin.“

„Hatsumi, ich bitte dich, es gibt keine Zeitreisenden, das wissen wir doch beide.“ Ich danke ihr für ihre Hilfe, doch die Erklärung ist zu absurd. Schnell mache ich mich auf den Weg nach Cornwall.

Der Arzt nickt, als ich ihn frage, ob sie noch Jungfrau ist, kinderlos und ein Schmetterlingsmal am inneren Oberarm trägt. Bevor ich in ihr Zimmer gehe, besorge ich frische Muscheln und lege sie wie einen Köder vor ihr aus.

Sie lässt den Stift fallen, mit dem sie einen Zettel nach dem anderen voll gekritzelt und jedem hingehalten hat, der sie in ihrem Zimmer besuchte. Sie stürzt sich auf die Muscheln, nach einem kurzen, beinahe animalischen Zögern, mit dem sie eine einladende Handbewegung meinerseits abgewartet hat, und beginnt zu schlürfen. Ich sammle die Zettel vom Boden auf, betrachte sie nun genauer. Geschwungene Bögen. Es sollen tatsächlich Kyu-do-Bögen sein, mit der asymmetrischen Aufteilung, die die Schießübung zum anspruchsvollen Sport hat werden lassen. Doch ihre Darstellungen sind ungelenk, schwer zu erkennen. Ich nehme Midori dennoch mit, sobald die Muschelschalen wie leere Augenhöhlen vom Teller blicken, und bringe sie in ein Geschäft, in dem Sportbögen verkauft werden. Es ist gar nicht weit, ein kleines Dorf auf den Klippen Cornwalls dort, wo regelmäßig Wettkämpfe im Zen-Bogenschießen stattfinden.

Ein Jubelschrei schnellt in dem Moment aus ihrer Kehle, in dem sie mit Rechts nach dem größten der ausgestellten Holzbögen greift, mit Links nach den Pfeilen. Dann macht sie auf dem Absatz kehrt und läuft aus dem Laden, über die Straße, aus dem Dorf.

„Halt!“ rufen der Besitzer des Ladens und ich gleichermaßen empört und erschrocken und nehmen die Verfolgung auf. Doch sie ist schneller. Gelangt auf die Wiesen, auf die der Wind die Gischt peitscht. Sie verlangsamt nicht ihren Schritt, lässt sich von Zäunen nicht aufhalten und als sie an die Klippe kommt, läuft sie einfach weiter, in die untergehende Sonne. Der Meeresschaum, auf den sie aufschlägt, verschluckt sie sofort.

Hatsumi wird plötzlich wach. Fährt den Computer hoch und ruft die letzte Seite ihres Manuskriptes auf. Als sie umblättert, sieht sie Midori vor sich, der Brandung entstiegen und entschlossener als je zuvor. Hatsumis Finger fegen über die Tasten. Die Müdigkeit ist verflogen.

Wir schicken Suchtrupps los, tagelang gehen sie die Küste ab, doch die Meerjungfrau bleibt versunken. Eine Leere breitet sich in mir aus und eine unerklärliche Traurigkeit. Ich maile Hatsumi, bekomme aber keine Antwort.

Erst im nächsten Frühjahr schickt sie mir ihren neuen Roman und zwischen den Seiten finde ich sie wieder, meine kleine Meerjungfrau.

Aus Angst und Mut und Liebe

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