Читать книгу Mir kann doch nichts geschehen ... - Marianne Brentzel - Страница 4

Prolog

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Ein kleiner schwarzer Koffer.

Ein Ausstellungsstück, beschriftet mit weißer Farbe: ›Else Sara Ury Berlin Solingerstr. 10‹. Zu sehen in der Gedenkstätte der Wannseekonferenz zum Völkermord an den europäischen Juden.

Von Zuhaus nach irgendwo wird der Koffer reisen. Weisungsgemäß mit Name und Adresse versehen, fertig gepackt. Alles muss bereit sein. Vor allem der Koffer. Die Anweisung vom Reichssicherheitshauptamt ist zugestellt. Die Liste mit den Kleidungsstücken: Hemden, Socken, Unterhosen. Anzahl und Art sind genau festgelegt. Sie wird den Koffer nehmen, in den Abendstunden, wenn der Lastwagen sie abholt, um sie in die Deportationssammelstelle zu bringen. Von dort wird es zum Bahnhof Putlitzstraße in Moabit gehen, in den frühen Morgenstunden, in Kälte und Dunkelheit.

Der Koffer wird mit mehr als tausend anderen im Kofferwaggon landen, dann in einem Lagerraum von Auschwitz, ausgeleert, der Inhalt entwendet. Man wird ihr alles nehmen. Erst den Koffer, dann das Leben.

Sie seufzt und packt. Im Osten soll es kalt sein, sehr kalt. Warum stehen weder Wintermantel, Schal noch Handschuhe auf der Liste? Gehören sie nicht zu den erlaubten Dingen, die sie brauchen wird? Von Zuhaus nach irgendwo wird sie gehen.

Es klingelt. Ein Lastwagen mit laufendem Motor steht vor der Tür. Sie nimmt den Koffer und geht los. Aus der Solingerstr. 10, dem Judenhaus, in dem sie seit 1939 wohnt. Im Lastwagen stehend, sich aneinander festhaltend, zur Deportationssammelstelle, einst Altenheim der Jüdischen Gemeinde. Große Hamburger Straße 26 heißt die Adresse. Und dort? Wird sie lange warten müssen auf den Weitertransport? Nicht darüber nachdenken.

Zurückdenken. Der erste Gang in die Synagoge. Gelöste, feierliche Stimmung in der Heidereutergasse damals. Mit der Mutter ging sie durch den Torbogen, tauchte in die Dunkelheit des Vorraumes ein, stieg zur Frauenempore hinauf. Eine Welt voller fremdartiger Gerüche und wunderbares Licht umgaben sie. Einsamkeit und Todesangst umgeben sie jetzt. Da sind keine schützenden Hände mehr. Da sind Greifhände, denen alles erlaubt ist: die alte Jüdin blutig schlagen, töten. Nur nicht daran denken. Weit zurückdenken. Synagoge. Vater. Mutter. Licht. Duft. Sprechender Singsang. Frauen, die sie herzen und streicheln, ihr Süßigkeiten zustecken, bereitwillig Platz machen, um sie an die Balustrade zu lassen. Den Vater will sie sehen unter den betenden Männern und Knaben, die weiße Mäntel und silberschimmernde Tücher umgelegt haben. Rhythmischer Wechselgesang ist zu hören, der alte, bärtige Mann fährt mit dem riesigen Thora-Zeiger über eine große Rolle.

Schön war es damals.

Heute ist die Welt dunkel und kalt. Nichts mehr, was einst ihr Leben lebenswert machte. Parkbänke – für Juden verboten! Wälder – für Juden verboten! Die öffentlichen Verkehrsmittel – für Juden verboten!

Seit Tagen dreht sich alles nur um Listen. Sie hat sie ausgefüllt und unterschrieben: ›Else Sara Ury‹.

Letzte Nacht hat es geschneit. Das macht keine Freude mehr. Weiß wie Schnee – das war in den Märchen, als sie ein Kind war, im Grunewald, im Riesengebirge. Krummhübel-Welten entfernt.

Zurückdenken. Die Veranda im Haus Nesthäkchen, blühender Weißdorn, im Liegestuhl schreiben, frei atmen, die herrlich frische Luft nach den kurzen Gewittern. Weiter zurück: Ostseestrand, die kleinen frechen Jungen, die davonlaufen, braun oder blond – Kindersorgen. Ihre Tränen und die Arme des Fräuleins, sie schützend und liebkosend. Die Erinnerung füllt sie für eine kurze Zeit aus. Dann fällt die nahe Zukunft sie wieder an.

Die Handtasche mit den Papieren hat sie fest an sich gepresst. Links, dort, wo der Stern aufgenäht ist, mit winzig kleinen, ordentlichen Stichen. Der Herzschlag geht mal rasend, mal schleppend gegen das aufgenähte Zeichen. Sie ist da. Große Hamburger Straße 26. Ein Davidstern ist auf die Tür geschmiert. Jüdische Ordner mit weißen Armbinden helfen den Ankommenden aus dem Lastwagen. Von Zuhaus nach irgendwo wird es weitergehen. Else Ury, geboren am 1. November 1877. Es ist der 6. Januar 1943.

Mir kann doch nichts geschehen ...

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