Читать книгу Mir kann doch nichts geschehen ... - Marianne Brentzel - Страница 5

Vorwort

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»Zeitzeichen. Stichtag heute: 13.1.1943. Todestag der Jugendbuch-Schriftstellerin Else Ury.« Ich sitze im Auto auf dem Weg zur Arbeit und höre Radio. Der Name Ury ist mir vertraut wie der Geschmack von Grießbrei aus meiner Kindheit. Nesthäkchen. Ich höre die Stimmen aus dem Radio, ich sehe die stolze Serie von neun Bänden in meinem Bücherschrank vor mir. Eine Altmännerstimme sagt: »Mir wurde in Amsterdam ein letzter Brief meines Vaters übergeben und da wurde berichtet, dass meine Tante am 6. Januar 1943 von der Gestapo verhaftet worden war. Wir wussten aber aus Dokumenten später, dass sie am 12. Januar nach Auschwitz deportiert wurde, also war sie anscheinend sechs Tage im Sammellager in Nord-Berlin, bevor sie in die Viehwagen nach Auschwitz kam.«

Ich fahre den Wagen an den Straßenrand. Kein Wort will ich verpassen. Das Gehörte ist mir neu, erschüttert und verwirrt mich. Der Name Else Ury war fest in meinem Gedächtnis haften geblieben, über dreißig Jahre lang, unbelastet und geschichtslos. Else Ury – eine Jüdin? Else Ury – Opfer des Völkermordes in Auschwitz? Dass die Vergangenheit uns immer wieder einholt, wusste ich bereits, aber so konkret hatte ich es selten erfahren.

Mit diesem Bericht leitete ich 1992 meine Else-Ury-Biografie Nesthäkchen kommt ins KZ. Eine Annäherung an Else Ury ein. Für mich war die Zeitzeichen-Sendung im Januar 1988 der Beginn einer intensiven Beschäftigung mit Else Ury. Zuerst nahm ich Kontakt zu Klaus Heymann, dem Alleinerben und Neffen Else Urys auf. Daraus wurde eine Freundschaft, die bis heute andauert. Klaus Heymann gab mir bereitwillig viele nützliche Hinweise, schenkte mir Familienbilder, überließ mir Briefe und Zeugnisse aus dem Leben Else Urys.

Das Echo auf das Erscheinen meines Buches war überwältigend. Offensichtlich waren Else Urys Bücher, insbesondere die Nesthäkchen – Serie, für die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen der Frauen ein Teil ihrer Identität und die Erschütterung über Else Urys Tod in Auschwitz groß. Seitdem wurde weiter über Else Urys Leben und Werk geforscht, Ausstellungen wurden entwickelt, neue Erkenntnisse gewonnen. In Berlin trägt eine Kinder- und Jugendbibliothek ihren Namen, am Savignyplatz gibt es inzwischen einen Else-Ury-Bogen. Noch heute ist auf dem restaurierten jüdischen Friedhof in Tangermünde ein Grabstein der Vorfahren mit der verwitterten Inschrift ›Treudel geb. Ury‹ zu sehen. An ihrem Ferienhaus in Karpacz, vormals Krummhübel, ist eine Plakette zum Gedenken an Else Ury in deutscher und polnischer Sprache angebracht und an der Wand von Haus Nesthäkchen prangt heute die Inschrift ›Dom Nesthäkchen‹. Eine Ausstellung in deutscher und polnischer Sprache erzählte von ihrem Leben und Werk. Else Ury hat Spuren hinterlassen, die weit über die Bekanntheit der Nesthäkchen – Bände hinausgehen.

Ihre Bücher waren in beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts – mit unterschiedlichen Begründungen – verboten. Im Nationalsozialismus vor allem aus rassischen Gründen, in der DDR wegen der ›bürgerlichen Dekadenz‹ der beschriebenen Verhältnisse. Wer genau hinsieht, erkennt, dass sich die Mädchen- und Frauengestalten Else Urys nicht in die üblichen Schubladen pressen lassen. Den nationalsozialistischen Zensoren war Nesthäkchen zu aufmüpfig, zu wenig unterwürfig und obendrein noch studiert. Das passte nicht in das geforderte Bild von der führergläubigen Mutter zukünftiger Soldaten und selbstverständlich auch nicht in die Vorstellungen der Kulturfunktionäre der DDR. In Romanen, die heute lange vergessen sind, beschreibt Else Ury den harten Kampf der ersten Ärztin mit eigener Praxis in Berlin und auch den Versuch, eine partnerschaftliche Ehe zu führen, in dem Mann und Frau ihrem Beruf weiter nachgehen.

Else Ury – die geistige Mutter einer ›heilen Welt‹? Dieses Klischee hat ausgedient. Die Neugier und Zuneigung für die Verfasserin der Nesthäkchen – Bücher sind bis heute ungebrochen. Else Ury ist, das macht das nicht nachlassende Interesse an ihr deutlich, den einfachen Zuordnungen längst entwachsen.

Mir kann doch nichts geschehen ...

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