Читать книгу Mir kann doch nichts geschehen ... - Marianne Brentzel - Страница 6
Eine jüdische Kindheit
1877 – 1889
ОглавлениеDie angesehene Vossische Zeitung in Berlin meldete am 1. November 1877:
›Durch die heut Nachmittag 4 Uhr erfolgte glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden erfreut Emil Ury und Frau Franziska, geborene Schlesinger.‹
Else Ury, die Tochter des Tabakfabrikanten Emil Ury, wurde in eine Welt hineingeboren, in der die Berliner Juden und mit ihnen das kaisertreue Bürgertum an die Unaufhaltsamkeit des Fortschritts glaubten. Man flanierte Unter den Linden, machte gute Geschäfte, applaudierte dem Hof bei seinen Ausritten und bewunderte den Eisernen Kanzler Bismarck, der das Deutsche Reich geeint und den Fortschritt der Geschäfte damit mächtig befördert hatte. Als der Jubel über die Reichseinigung verklungen war und die überstürzte Industrialisierung zu schweren Wirtschaftskrisen und sozialen Missständen führte, musste ein Sündenbock gefunden werden. Der Historiker Heinrich von Treitschke sprach aus, was die Zukurzgekommenen aller Schichten gern nachplapperten: ›Die Juden sind unser Unglück.‹ Um die Jahrhundertwende gab es heftige Auseinandersetzungen um die Judenfrage. Doch eine Familie Ury kümmerte sich nicht darum, wollte in Ruhe den Geschäften nachgehen, den Kindern eine anständige Ausbildung ermöglichen und anerkannter Bürger unter anerkannten Bürgern gleich welcher Konfession sein. Daher galt Anpassung der Mehrheit der Juden als das Gebot der Stunde.
Der Stammbaum der Familie Ury reicht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Namen wie Davidsohn, Wallenberg, Rosenstein, Friedländer und Schlesinger tauchen darin auf. Schon in der dritten Generation war die Familie Ury in Berlin ansässig. Aus Tangermünde kommend, erhielt der Großvater von Else Ury, der Kaufmann Levin Elias Ury, 1828 vom preußischen König Stadtbürgerrecht in Berlin. Er wurde in Berlin-Mitte Vorsteher der jüdischen Gemeinde und organisierte aus demokratischer Gesinnung eine Trauerfeier für die Gefallenen der Märzrevolution von 1848 in der Alten Synagoge Heidereutergasse. Als der wohltätige Mann starb, folgte seinem Sarg ein langer Zug weinender armer Juden.
Die Urys lebten als angesehene, dem liberalen und demokratisch gesonnenen Bürgertum verbundene Familie. Im kaiserlichen Deutschland waren sie den herrschenden Verhältnissen loyal ergeben und in der familiären Privatheit zufrieden. Es war der autoritäre Staat des wilhelminischen Kaiserreichs, der diese fortschrittsgläubige, assimilierte Schicht von Kaufleuten und Intellektuellen hervorbrachte, die dem aggressiven Antisemitismus eines Hofpredigers Stöcker ebenso misstrauisch und distanziert gegenüberstand wie dem entstehenden Zionismus.
Else Urys Bücher spiegeln diesen Teil der deutschen Geschichte nicht. Auch die Verwurzelung in der jüdischen Tradition fehlt in den meisten Büchern. Vielmehr erzählen sie Geschichten von glücklichen Kindheiten, in denen die Kindersorgen mit Berliner Humor und geborgen in der Liebe und Fürsorge der Eltern bewältigt werden. Wer dieser Grundstimmung ihrer Erzählungen nachspürt, mag sich auch Else Urys Kindheit vorstellen. Gut behütet in einer großen Familie, wuchs sie dicht beim Alexanderplatz auf. Die Familie wohnte damals in der Heiligegeiststraße, ganz nah bei der Heidereutergasse mit der alten, später von Bomben zerstörten Synagoge. Nördlich vom Alexanderplatz lag das Scheunenviertel, ein Ort, der zur Zeit ihrer Kindheit als Getto galt, als Unort, der nur mit einem gewissen Schaudern betreten werden konnte. Das Viertel lag ursprünglich vor den Toren Berlins, gut genug für die Scheunen mit dem Vieh für Berlins Märkte. Doch Berlin wuchs rasant und die armen Juden aus Osteuropa zogen ein, die Planjes, wie sie verächtlich – auch in den Familien Ury und Heymann – genannt wurden. Mit ihnen hatte man keinen Kontakt, sie waren undeutsch, der Inbegriff des Fremden. Sie liefen mit Schläfenlocken, schwarzem Kaftan und Kippa umher, hatten zahllose Kinder, machten ›ungute‹ Geschäfte. Es war ein Armenviertel und auch ein Hurenviertel, eine Welt für sich, die ein deutscher Bürger, gleich welcher Konfession, nicht gern betrat. Zur Synagoge Heidereutergasse war es von Else Urys Zuhause nur ein Katzensprung und schon war man in der Stille der Gasse, wo die Gläubigen in den Bethäusern ein- und ausgingen. Wer hier groß wurde, wenn auch als behütetes, kleines Mädchen, vergaß das nie.
Der Vater, Emil Ury, geboren 1835, hatte das Gymnasium besucht, eine kaufmännische Ausbildung gemacht und war Inhaber der Tabakfirma Jacob Doussin & Co geworden. Doch das Geschäft mit Schnupf- und Kautabak wurde um 1900 von der Zigarettenproduktion verdrängt. Leichten Herzens gab Emil Ury die Fabrik auf. Viel lieber ließ der humorige Mann sich als Festredner auf zahllosen Familienfeiern engagieren. Zeitlebens war er auch ein frommer Mann, der noch ganz in der Tradition des orthodoxen Judentums lebte. Die Kinder wurden im jüdischen Glauben erzogen. 1869 hatte Emil Ury Franziska Schlesinger geheiratet. Auch sie stammte aus einer alten jüdischen Familie. Ihr Vater, ein Kleiderhändler, fühlte sich vor allem als Dichter und Musiker und ließ die Tochter die höhere Mädchenschule besuchen. Franziska Ury wurde als große Kennerin der klassischen Literatur geschätzt. Bildung und Religiosität, zusammen mit einem selbstverständlichen Patriotismus bestimmten das Leben und Denken im Elternhaus von Else Ury. Der älteste Sohn Ludwig, 1870 geboren, besuchte das Gymnasium zum Grauen Kloster, studierte Jura und wurde Rechtsanwalt. Der zweite Sohn, Hans, drei Jahre jünger, wurde Facharzt für Magen- und Darmkrankheiten. Dann folgte Else und das eigentliche Nesthäkchen der Familie, Käthe, vier Jahre danach. Der Haushalt wurde einfach und bürgerlich geführt. Man hatte Hilfskräfte, packte aber auch selbst mit an und erzog die Kinder zu Sparsamkeit, Fleiß und Pflichtbewusstsein.
Das religiöse Leben spielte in Else Urys Kindheit noch eine bedeutende Rolle. Noch vor dem Beginn der Schulzeit wurde sie an hohen Feiertagen mit in die Synagoge Heidereutergasse genommen. Hätte die Schriftstellerin Else Ury in ihren Backfischromanen je davon berichtet, würde sie wahrscheinlich einen besonderen Feiertag gewählt haben, wie sie in ihren Büchern immer wieder gern und ausführlich die Feste im Kreise der Familie schilderte.
Stellen wir uns einen kalten, sonnigen Herbstmorgen im Oktober 1882 vor, Jom Kippur, der höchste Feiertag aller Juden. Der Tabakfabrikant Ury machte sich mit seiner Frau und seiner Tochter Else auf, um zur Synagoge zu gehen. Zu Hause hatten die Eltern ihr die Bedeutung dieses Tages erklärt.
Jom Kippur heißt auch ›der lange Tag‹. Er wird mit strengem Fasten, feierlichem Sündenbekenntnis und in ununterbrochenem Gebet begangen. Es ist der Tag der Buße, an dem Gott den Menschen ihre Sünden vergeben wird. Daher auch der Name ›Versöhnungstag‹. Die Männer im Gottesdienst legen weiße Mäntel um, Symbole des Sterbens und der Buße. Der Vater fastet und auch die älteren Brüder üben sich früh darin, lernen die religiösen Gebote am Vorbild der Eltern.
Auf dem Fußweg zur Heidereutergasse ist das Außergewöhnliche des Tages deutlich zu spüren. Ein ständiges Kommen und Gehen von festlich gekleideten Männern und Frauen, die teils zur Synagoge streben, teils von dort kommen, erfüllt die Gasse. Die Geräusche des Alltags bleiben hinter ihnen zurück. Die Synagoge entspricht ganz und gar nicht der Vorstellung von prachtvollen Kirchen. Kein riesiges Gebäude, kein Turm, kein verziertes Tor. Ein schlichtes Bürgerhaus, ein Steinbau unter vielen. Durch den überbauten Torbogen treten die Urys in den Synagogenhof. In dem Vorderhaus der Synagoge befindet sich das Quellbad, die Mikwe. Die Mutter erklärt ihr flüsternd etwas vom rituellen Reinigungsbad der Gläubigen. Doch heute herrscht hier Stille, keine Frau, niemand ist zu sehen. Da dem Tempel die Besonderheit vorgeschrieben ist, nicht höher zu sein als ein einstöckiges Bürgerhaus, die Geschlechter sich aber getrennt im jüdischen Bethaus aufhalten müssen, wurde die Synagoge unter das Niveau der Straße gebaut, und man geht einige Stufen hinab, um dann hinaufzusteigen. Hier muss Else sich vom Vater trennen. Für die Frauen und Mädchen führt eine Treppe zur Empore hinauf. Zwischen leise plaudernden Frauen in knisternden Röcken und bunten Tüchern darf das Kind bis vorn an die Balustrade gehen. Bereitwillig machen sie der Kleinen Platz, streicheln und herzen sie. Auf dem Schoß der Mutter sieht sie in den großen Innenraum, der von den Kerzen der vielarmigen Leuchter erhellt ist. Hier umfängt sie eine andere Welt, losgelöst von allem Alltäglichen.
Die Männer und Knaben – in weiße Sterbegewänder gehüllt, den silberschimmernden Tallit umgelegt, ein Gebetstuch, das über den Mantel gebunden wird und an Jom Kippur weiß-silbern, sonst hell mit dunklen Randstreifen und Fransen ist – bewegen sich heftig vor und zurück, sprechen laut und rhythmisch ihr unverständliche Gebetsformeln. Ein schwarzbärtiger Mann steht an einem Pult und führt einen riesigen Thora-Zeiger über Papierrollen. Nur mit einem Thora-Zeiger, nicht mit der Hand darf die in der Synagoge aufbewahrte Gesetzesrolle berührt werden, auf die die fünf Bücher Moses geschrieben sind. Thora-Zeiger sind aus Silber, Gold oder Holz, oft edelsteinbesetzt und mit Widmungen versehen. Der Mann erscheint dem Kind wie ein Zauberer aus einer Märchenwelt. Elses Augen suchen den Vater. Ein leiser Jauchzer, als sie ihn erkennt. Er kniet am Rand, im weißen Gewand, ihr weit entrückt. Jungen versammeln sich um den Tisch des Bärtigen und beantworten seine halb gesungenen, halb gesprochenen Worte mit rhythmischem Sprechgesang. Else kann sich von dieser Fülle der Eindrücke gar nicht trennen.
In der Synagoge Heidereutergasse wurde der Gottesdienst noch ganz nach der Väter Sitte in Hebräisch abgehalten, die Gemeinde fühlte sich dem orthodoxen Judentum verpflichtet. Vater Ury entrichtete regelmäßig seinen Obolus für die Gemeinde, feierte am Freitagabend mit der Familie das Shabbesmahl, zündete am Chanukka-Fest die Kerzen an. Die Söhne Ludwig und Hans würden im Alter von dreizehn Jahren die Bar Mizwa feiern, die feierliche Einführung der jüdischen Jungen in die Gemeinde.
Die Urys und mit ihnen tausende jüdische Bürger lebten als geschätzte Nachbarn, Kollegen, Geschäftspartner. Ihr Leben unterschied sich nur wenig von dem der christlichen Bürger gleicher Schicht. Man respektierte einander. Im Privaten hielt man meist Distanz. Freundschaften über die Konfessionsschranken hinweg gab es nur selten.
Die jüdischen Frauen führten wie ihre christlichen Schwestern den endlosen Kampf gegen Schmutz und Unordnung und die jüdischen Zeitungen und Ratgeber ermutigten sie, mit ihrem Hausfrauenfleiß nicht nur den Bedürfnissen der Familie Rechnung zu tragen, sondern auch denen der Wirtschaft, der Gesellschaft und des Staates. Ein gut geführter Haushalt, sorgfältig ausgewählte Möbel und gut gebügelte Kleidung waren die Insignien von Vornehmheit, Kultiviertheit und Bildung. Ein bürgerliches Heim verkündete, dass Juden charakterlich dafür geeignet waren, gleichberechtigte Bürger im neuen Staat zu sein. Mutter Franziska Ury kam all diesen Anforderungen der Assimilation der jüdischen Familie an die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs in hohem Maße nach.
Und doch gab es im Leben eines jeden Juden und einer jeder Jüdin diesen schmerzlichen Augenblick, an den sie sich zeitlebens erinnerten: wenn sie zum ersten Mal unbarmherzig darauf gestoßen wurden, anders zu sein als die Mehrheit, anders sogar als die, mit denen man gerade noch von gleich zu gleich geplaudert und gefeiert hatte. Dieser ›Verlust der Harmlosigkeit‹, wie es ein jüdischer Zeitzeuge nannte, konnte vielerlei Gestalt annehmen.
Auch Else Ury wird diesen Augenblick als Kind erlebt haben und sicher nicht, wie der Neffe aus der nächsten Generation, von sich gesagt haben: ›Ich wusste als Kind gar nicht, dass ich ein Jude war.‹
Lange vor Beginn der massentouristischen Zeiten kam unter den wohlhabenden Familien die Sommerfrische in Mode. Es könnte also im Urlaub an der Ostsee gewesen sein.
Die Familie fährt mit Kinder- und Stubenmädchen, mit Hutschachteln und Schrankkoffern, mit Sandschaufeln und Spielzeugkisten ans Meer. Im Haus Meeresblick bei den Wirtsleuten Petersen wird Quartier genommen. Die Suite mietet man für drei oder vier Wochen. Kinder zahlen die Hälfte. Zu zahlen war nicht wenig. Auch an der Ostsee wollten die Leute Geld verdienen. Der Wohlstand aus Berlin schwappte auch nach Warnemünde über. Einig Deutschland machte die Geschäfte flott.
Da läuft ein kleines dunkel gelocktes Mädchen in Spielhosen zum Meer, hüpft und springt, fällt in den weichen Sand und steht jauchzend wieder auf. Hinter ihr, ruhig und vornehm, das Kinderfräulein in weißer Krinoline, mit weißem Sonnenhut, den Sonnenschirm aufgespannt. Hier kann sie das Kind ruhig allein laufen lassen, muss nicht ständig Acht geben wie in den gefährlichen Straßen Berlins. Das Kind hat eine Spielgefährtin entdeckt, ein blondes, fast gleich großes Mädchen steht am Wasser. Es wirft den bunten Ball in die Wellen, die Wellen tragen ihn zurück. Jetzt sind die Kinder auf gleicher Höhe. Köpfe nicken, man hat sich bekannt gemacht. Das Spiel mit dem Ball in den Wellen macht gemeinsam noch mehr Spaß. Das Fräulein sitzt mit ihrer Handarbeit bequem im Strandkorb, genießt die Ruhe. Kinder laufen über den morgenleeren Strand, rufen, balgen, bespritzen sich kreischend mit Wasser. Sie schließt entspannt die Augen, öffnet sie einen Spalt. Ein beruhigender Blick zu der Kleinen. Ihr geht es gut.
Plötzlich zerbricht die Stille. Ein spitzer Schrei. Das Kind wirft sich dem Fräulein entgegen. Geschüttelt von Weinen, unfähig zu sprechen. Wer hat ihrem Elschen etwas angetan? Wo sind die Bösewichter? Da laufen zwei, drei größere Kinder davon. Was ist passiert? Kein Wort. Nur Tränen. Sie trägt das Kind zum Strandkorb. Die Hände hält Else fest über dem Kopf zusammen, lässt sie nicht los. Schließlich erfährt das Fräulein den Kummer. Jude. Judenkind, haben sie geschimpft. Braun sei sie, nicht blond. ›Juden sind immer braun‹, hat der fremde Junge gesagt. ›Nur blond, blond wie Gold, das ist schön‹, haben sie gesagt.
Das Kinderfräulein nimmt die Kleine an die Hand, zieht sie mit sich. Die Erzieherin dachte wie die Eltern Ury: Religion ist Privatsache. Die neue Mode, überall Juden aufzuspüren, war ihr gänzlich fremd. Im Hause Ury wird nicht über Angriffe auf Juden gesprochen. Man muss das Gerede einfach nicht beachten. Aber wenn jetzt schon die unschuldigen Kinder von Gleichaltrigen beschimpft werden! Es mag sein, dass auch Emil und Franziska Ury Bilder aus der Kindheit einfallen. Jeder hat sein Erlebnis des Ausgestoßenseins tief in sich vergraben. Sie versuchen, unbefangen zur Tagesordnung einer Familiensommerfrische überzugehen. Vielleicht hat der Vater, der immer so gern Geschichten erzählte, seine Tochter zu einem Spaziergang mit ans Meer genommen und ihr das Märchen von Schneewittchen erzählt, von dem Mädchen, weiß wie Schnee und rot wie Blut, und die Haare waren schwarz wie Ebenholz, und das Mädchen war sehr schön …
Zusammen mit den Geschwistern wuchs Else in einem großen Kreis von Verwandten auf, die häufig zu Besuch kamen. Manches Mal fuhr man auch in Richtung Westen, in das damals noch selbstständige Charlottenburg, staunte über die Anlage neuer Prachtstraßen und Kaufhäuser. Mit der Pferdedroschke ging es zum Eingang des Zoologischen Gartens, der 1844 erbaut worden war und als der älteste Zoo Deutschlands gilt. Auf dem Weg dorthin erlebten die Geschwister aus der Kutsche heraus den geschäftigen Alltag der Hauptstadt, der einen kolossalen Wirbel entfaltete, als wolle er den behüteteten Kindern aus dem alten Berlin einmal mit ganzer Kraft vorführen, was wirklich Großstadt war: schimpfende Kutscher, schreiende Zeitungsausrufer, schnauzende Händler mit Holzkarren, keifende Marktweiber, Horden von bettelnden Straßenjungen, Blinde, die armselige Waren am Straßenrand anboten, Krüppel, die ihre Hand nach einer Münze ausstreckten, dickbäuchige Polizisten mit Pickelhauben, die den immer dichter werdenden Verkehr durch Trillerpfeifen zu regeln suchten, Plakatwände mit bunten Bildern, die an dem Fenster der Droschke so schnell vorbeiglitten, dass die Kinder die aufgedruckten Herrlichkeiten kaum erkennen konnten.
Im Oktober 1884, wenige Wochen vor ihrem 7. Geburtstag, kam Else Ury in die Königliche Luisenschule. Das Lyzeum in der Ziegelstrasse im heutigen Bezirk Mitte war damals die einzige städtische höhere Töchterschule Berlins. Die Mädchen bekamen Unterricht in allen Fächern, die man für angemessen und nützlich hielt, die korrekte Entwicklung der späteren Ehefrauen von Fabrikanten und höheren Beamten zu gewährleisten. Viele bekannte adlige Namen waren dabei. Erst vor wenigen Jahren wurde eine Gedenktafel an dem Gebäude enthüllt, die der im Nationalsozialismus vertriebenen Lehrer und berühmter Schülerinnen gedenkt, unter ihnen die Dichterin Paula Dehmel, die Malerin Julie Wolfthorn, die Sozialpolitikerin Hannah Karminski und selbstverständlich auch Else Ury.
»Von der untersten Klasse der Berliner Luisenschule an haben wir auf der Schulbank zusammen gesessen, machten wir gemeinschaftlich unsere Kinderstreiche (…), hielt uns eine innige treue Freundschaft miteinander verbunden«, schrieb Margaret Levy, Else Urys langjährige Freundin, über die gemeinsame Schulzeit.
1884 sitzen die kleinen Mädchen mit glänzend gebürsteten Haaren und riesigen Haarschleifen brav auf den zugewiesenen Plätzen, während die Kinderfräulein im Pausenhof auf ihre Schützlinge warten. Die Mütter füllen unterdessen die Schultüten mit süßen und nützlichen Kleinigkeiten und arrangieren die Einschulungsfeier, zu der auch die Großeltern und die Tanten eingeladen sind. Auch bei Familie Ury wird es so gewesen sein. Nehmen wir Nesthäkchens Schulanfang als die Erfahrung ihres eigenen.
»Nesthäkchen kannte das große, rote Gebäude in der Ziegelstraße bereits von der Anmeldung. Aber als sie jetzt zum ersten Mal als richtiges Schulmädchen die breiten Steintreppen hinaufstieg, fasste sie doch eingeschüchtert Fräuleins Hand. Einen tiefen Knicks machte sie vor dem Schuldiener. Das Fräulein schob sie behutsam zur Klassentür hinein.«
Das erste Schuljahr ging seinen üblichen Gang; bei Else Ury 1884, bei Nesthäkchen circa 25 Jahre später. Else Ury hatte noch einen männlichen Klassenleiter, denn erst 1888 erlaubte der neue Direktor, dass die jüngeren Jahrgänge Klassenlehrerinnen bekamen.
Schreibend hat sich Else Ury ihrer eigenen Kinderträume und Traurigkeiten erinnert. Da ist der Wunsch, ein Junge zu sein, Hosen anzuziehen, die unbekannte, aufregende Welt zu erforschen. Anfangs ist Nesthäkchen ein ›Wildfang‹ – ein damals beliebtes Motiv der Mädchenliteratur –, der gezähmt werden muss. Eine der bewährten Methoden zur Zähmung war das Stricken, was Else Ury, so ihr Neffe Klaus Heymann, nie gemocht hat.
Wie alle Erstklässler, die gerade Lesen lernen, verwechselt das Nesthäkchen anfangs einzelne Buchstaben und mag plötzlich nicht mehr an dem Schlächterladen vorbeigehen. Ängstlich schmiegt sie sich an das Fräulein. »Das Schild, stieß das Mädchen zitternd hervor und hielt sich die Augen zu. ›Rind- und Schweineschlächterei‹ konnte man lesen. Das Fräulein konnte beim besten Willen nichts Schauriges entdecken. ›Schnell, komm schnell vorbei‹ bestürmte das Kind in höchster Aufregung. Das Fräulein will endlich wissen, was das Mädchen so aufregt. Schließlich kommt es heraus. Sie hatte versehentlich: ›Kind- und Schweineschlächterei‹ gelesen. Als die Freundin sie neckte: ›Die hat geglaubt, der Schlächter macht Wurst aus ihr‹, da war es ihr doch recht peinlich, dass sie ausgelacht wurde.«
Der Zwang zu gutem Benehmen und Ordnung ist ihren Heldinnen eine lästige Pflicht. Der Tagesablauf eines Schulmädchens in Berlin um 1885 war streng geregelt und ließ nicht viel Zeit zum Träumen.
Der Stundenplan des Lyzeums legte großes Gewicht auf Handarbeit, Zeichnen, Gesang, Religion, Gesellschaftstanz, englische und französische Konversation, deutsche Sprache und Literatur. Rechnen, Geschichte und Geografie spielten dagegen eine untergeordnete Rolle. Die Mädchen übten den Hofknicks und spielten Klavier. Zum Unterricht an den Mädchenlyzeen bemerkt Helene Lange sarkastisch: »Man lernte nicht übermäßig; der Verstand wurde so weit geschont, dass man ihn nachher noch hatte.«
Der Bereich der häuslichen Pflichten erweiterte sich von Jahr zu Jahr ein wenig. Die Mädchen stickten immer kompliziertere Muster in die Deckchen und hungerten nach Abwechslung.
Else Ury wird so ähnlich gelebt haben. Ein paar Besonderheiten gab es für Mädchen mit jüdischer Tradition. Im Hause Ury wurde jeden Freitagabend ein ›Shabbes-Mahl‹ gereicht. Die hohen Feiertage hielt Vater Ury mit Beten und Fasten ein. In der Schule, in der ein religiös toleranter Geist herrrschte, hatten die jüdischen Kinder ganz selbstverständlich parallel zum christlichen einen jüdischen Religionsunterricht. Und doch ist anzunehmen, dass es immer mal wieder verletzende Äußerungen von Mitschülerinnen gab, die sich durch antisemitische Beschimpfungen hervortun wollten. Der Verlust der Harmlosigkeit hatte viele Gesichter.