Читать книгу Mir kann doch nichts geschehen ... - Marianne Brentzel - Страница 7
Jugend in Berlin
1890 – 1899
ОглавлениеElse Ury trug die langen, braunen Locken zu Zöpfen geflochten oder, wie es Mode wurde, zu Kränzen aufgesteckt. Sie blieb zeitlebens klein, nur knapp einen Meter fünfzig. Auf den Fotos als Erwachsene hat sie große, dunkelgraue Augen. Die scharf geschnittene Nase steht in deutlichem Kontrast zu dem sanften Blick dieser Frau.
Wie ist sie eine Frau geworden? Die späteren Backfischgeschichten von Else Ury erzählen heitere Anekdoten von Schulalltag und Mädchenfreundschaften in Nachmittagskränzchen, von Tanzstunde und Neckereien mit den Freunden der großen Brüder. Konflikte gab es nur wenige.
Ein vierzehnjähriges Mädchen erfuhr nicht viel von der Welt, von Streik und Umsturz schon gar nicht. In den Schulen der Wohlhabenden wurde nicht von der Armut gesprochen. In Berlin lebten um 1890 eineinhalb Millionen Einwohner. Die Mehrheit wohnte in eilig hochgezogenen Mietskasernen, über hunderttausend Berliner kamen in schwer beheizbaren Kellerwohnungen unter. Die Welt der Mietskasernen war für die Kinder des Bürgertums so weit weg wie Afrika und Alaska. Die Stadtbahn fuhr auf einigen Strecken bereits mit Elektrizität. Zwischen Alexanderplatz und Tiergarten pendelten die Pferdebahnen. Der Kurfürstendamm schickte sich an, der Geschäfts- und Promeniermeile Unter den Linden den Rang abzulaufen. 1895 wurde mit großem Pomp die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingeweiht. Mit der neu eröffneten Stadtbahn allein durch die wirbelige Großstadt zu fahren war den jungen Mädchen ganz sicher verboten.
Der Kaiser hielt Hof. Wilhelminisches Zeitalter. Mal in Potsdam, mal in Berlin entfaltete sich der fürstliche Glanz. Einige Mädchen aus Else Urys Klasse übten nicht nur den Hofknicks, sie praktizierten ihn auch, wenn der Vater wieder einmal zum Kaiser gerufen wurde.
Die Urys waren nicht dabei.
Der Vater erzählte ab und zu von interessanten Erfindungen, von Telefon, Grammophon und Kinemathek. Ihre Kinder- und Jugendromane spiegeln Else Urys Begeisterung für technische Neuerungen und die modernen Reisemöglichkeiten. Sie erzählte immer gern von Reisen und gab den jungen Mädchen nützliche Tipps für die Vorbereitung ihrer Ausflüge mit auf den Weg. »Reist mit offenen Augen!«, heißt es bei ihr.
Die Welt der jungen Mädchen ist klein und eng, fest gefügt und wohlhabend. Es geht ständig aufwärts. Der Kaiser wird es schon richten. Hauptsache, im persönlichen Leben passiert nichts Unerwartetes: Krankheit, Tod, ein Firmenzusammenbruch, eine unpassende Liaison der heranwachsenden Kinder, gar ein uneheliches Kind. Sonst lebt man in der besten aller möglichen Welten. Dieses Lebensgefühl beherrschte weite Kreise des bürgerlichen Mittelstands, und die Töchter hatten schon gar keine Sorgen zu haben, bis auf die eine: heranzublühen für die Ehe, die die Eltern für sie beschließen und ausrichten.
1894 war die zehnte Klasse die letztmögliche Schulklasse für Frauen. Mädchengymnasien gab es noch nicht in Berlin, lediglich ›Realkurse‹, in denen die Mädchen auf das externe Abitur vorbereitet werden konnten. Ein Studium für Frauen war in Berlin noch nicht erlaubt. Erst 1908 hob der preußische Staat das Immatrikulationsverbot für Frauen auf. Nur in den südlichen deutschen Staaten und in der Schweiz wäre ein Studium möglich gewesen. Käthe, die jüngste Tochter der Familie, wird ein Lehrerinnenseminar besuchen.
Der Überlieferung nach lernte Else Ury, wie es üblich war, nach dem Schulabschluss im Elternhaus den Haushalt. Mit ihrer Mutter ging sie hin und wieder ins Theater oder in Konzerte und wurde auf Bällen und Vergnügungen ›in die Gesellschaft eingeführt‹, um schlussendlich, ihrer Bestimmung gemäß, verheiratet zu werden.
Else Ury hat nicht geheiratet. Ihre Bücher geben keine Erklärung für dieses Ausbrechen aus dem konventionellen Muster. Selbst die Freundinnen von Nesthäkchen, die eine Zeit lang selbstständig leben und sich ihren Lebensunterhalt verdienen, ereilt schließlich doch noch das Eheglück. In nur wenigen Büchern steht eine unverheiratete Frau im Mittelpunkt des Geschehens. Meist bleiben sie liebenswerte Randfiguren, tüchtige Dienstboten, alte Tanten, kluge Lehrerinnen oder – in späterer Zeit – sozial engagierte Fürsorgerinnen. In den 1930er Jahren ändert sich das. So im Jugendroman Das Rosenhäusel, in dem für die Heldin eine eigenständige Existenz als berufstätige Frau vorstellbar wird. Else Ury wurde eine begeisterte Anhängerin der bürgerlichen Frauenbewegung und befürwortete die Ausbildung und das Studium für Frauen. Nirgendwo wird das so deutlich wie in dem Roman Wie einst im Mai von 1930 mit dem Untertitel ›Vom Reifrock bis zum Bubikopf‹.
Die Kreuzzeitung vom 6. Dezember 1930 schreibt dazu: »Die Erzählung beginnt um die Mitte des vorigen Jahrhunderts im alten Berlin und schildert die Kämpfe junger Mädchen um ein selbstständiges Wirken außerhalb des engen, häuslichen Kreises. Das Buch ist von so viel sonnigem Humor, von Jugendfreude und Jugendfrische durchweht, dass die Leserinnen mit begeistertem Interesse den Schicksalen der Freundinnen folgen werden.«
Acht Mädchenschicksale werden in einem sozialen Panorama der Kaiserzeit ausgebreitet. Ein Mädchen scheint Else Ury sehr ähnlich zu sein: Fränze.
Genau wie Fränze schrieb Else Ury in der Schule gern Aufsätze und gab im Familienkreis gereimte Verse zum Besten. Im Jugendroman heißt es: »Viel lieber saß Fränze an dem alten Mahagonisekretär mit der hochgezogenen Rollklappe. Dort war ihr Element. Da wurden die besten Aufsätze für die Schule verfasst, da entstand so mancher Vers, der ins Geheimfach des alten Schreibtisches wanderte; denn auslachen mochte sich die poetische Fränze nicht lassen. Nannten sie doch die Brüder (…) schon mit dem Spottnamen ›Rosa Immergrün‹, unter dem sie einmal der Gartenlaube ein Gedicht zum Abdruck eingesandt hatte.«
Obwohl in der damaligen Zeit angeblich ›Glück und Erfüllung der Frau einzig in der Ehe‹ liegen, ist die Ehelosigkeit um die Jahrhundertwende eine Massenerscheinung. Besonders unter jüdischen Bürgern soll großer Mangel an heiratswilligen jungen Männern geherrscht haben. Ein wichtiger Ort für die Anbahnung von Kontakten zwischen Jungen und Mädchen des Bürgertums war die Tanzstunde. Meist erst mit 18 Jahren wurden die jungen Mädchen dazu angemeldet. In dem Jugendroman heißt es: »Tanzstunde bedeutete einen wichtigen Einschnitt im Mädchenleben«. Doch Fränze ist nicht glücklich mit ihrem Dasein: »Ich zerbreche mir den Kopf, was ich tun kann, um mein Leben nützlicher zu gestalten.« Die jüngere Schwester kennt ihre geheimsten Wünsche und sagt: »So dichte!« »Daran habe ich auch längst gedacht«, antwortet sie und fährt fort: »Aber mir fehlt der Mut, es einer Zeitschrift einzusenden. Ich glaube, es ist nicht viel wert. Ja, wenn ich einen Roman wie die Marlitt schreiben könnte! Der wird von Tausenden in der Gartenlaube gelesen. Das lohnt!« Die Schwester ermuntert sie, ihrem Talent zu folgen. Schwer bedrückt sie das Gefühl, im Leben überflüssig zu sein. Vorstellbar ist, dass Else Ury so ähnlich empfunden hatte, bevor sie zu schreiben begann. Fränze lässt sie sagen: »Ist denn Frauenarbeit etwas so Verpöntes, dass man sich ihrer schämen muss? O Gott, in was für einer von Vorurteilen verdunkelten Welt leben wir!«
Offenbar eine Erfahrung, die auch Else Ury machen musste: als unverheiratete, aber berufstätige Frau nichts wert zu sein. Doch ließ sie sich von ihrem Ziel nicht abbringen. Mit dem Schreiben hatte sie endlich eine Aufgabe im Leben und verdiente damit auch noch selbstständig Geld. Das war mehr, als ehelose Frauen üblicherweise erhoffen konnten.
Es gibt ein Familienfoto, das häufig als Verlobungsfoto gedeutet worden ist. Der junge Mann neben Else ist in der Verwandtschaft nicht bekannt und wird für den möglichen Verlobten gehalten. Doch das Ideal der bürgerlichen Liebesheirat, in ihren Büchern oft beschrieben, erfüllte sich bei Else Ury nicht. Als Familiengerücht ist überliefert, dass sie sich eine Zeit lang Hoffnung auf eine enge Beziehung mit ihrem späteren Schwager Hugo Heymann gemacht hat. Er war seit Langem Gast in der Familie und soll mit ihr befreundet gewesen sein, bevor er die jüngere und vielleicht attraktivere Schwester heiratete. Hader unter Schwestern? Dagegen spricht die sehr enge Verbindung der beiden, die fast täglich miteinander telefonierten, sich zahllose Briefe schrieben. Katze an Mieke, Mieke an Katze. Mieke war der Kosename für Else, Katze war Käthe und kein Geheimnis blieb unbesprochen.
Bitter war, dass sie als Unverheiratete auf eigene Kinder verzichten musste. Für ein bürgerliches Fräulein um 1900 war ein uneheliches Kind undenkbar. Doch hielt sie engen Kontakt zu ihren Neffen und Nichten. Besonders die wilden, spontanen, ungebärdigen Kinder fühlten sich bei ihr wohl. Nie schien ein Kind ihre Geduld zu sehr zu strapazieren. Mit liebevollem Interesse beobachtete sie Mädchen wie Jungen, begeisterte sich an ihren kessen Antworten, an ihrer Spontaneität, ihrem Trotz und ihrer Anschmiegsamkeit. Später fanden die Verwandten sich dann stolz in einer Anekdote in der Zeitung – oder noch später – in einem ihrer Bücher wieder.
Else und ihre Schwester Käthe (sitzend),
23 und 19 Jahre alt
Wir werden nie erfahren, welche Gründe Else Urys Ehelosigkeit wirklich hatte, ob sie eigener Wunsch, bewusste Entscheidung oder Ergebnis unglücklicher Liebe, trauriger Verstrickungen war. Aber Else Ury ist keine gewesen, die sich lange bei unerreichbaren Sehnsüchten aufhielt. Sie konnte sich abfinden mit den gegebenen Verhältnissen und sich darin häuslich einrichten. Begabt zum Glücklichsein, ließ sie Unglück einfach nicht an sich heran. Wir wissen nur eins sicher: Die spätere Propagandistin der glücklichen Ehe blieb ledig. Ihre Karriere als Schriftstellerin nahm ihren Anfang.